Ausschließeritis

Geht es Ihnen auch so? Die drei in so kurzen Abständen aufeinanderfolgenden Wahlen, Europa, Kommunalwahl und jetzt Bundestag, machen selbst den geneigtesten Beobachter politischer Vorgänge mürbe. Ich hatte mir fest vorgenommen, zur Wahl am kommenden Sonntag eigentlich nichts mehr zu sagen oder zu schreiben. Allein: Es geht nicht.

Ist nicht die hohe Kunst der Politik der Kompromiß? In Zeiten, in denen absolute oder überwältigende Mehrheiten nicht mehr zu erwarten sind, nicht nur die hohe Kunst, sondern auch Erfordernis des politischen Alltags. Lernen Kinder in der Schule nicht im Politikunterricht, der Gesellschaftslehre, der Sozialkunde, wie immer das Fach auch heißen möge, und sei es im Deutschunterricht, daß alle demokratischen Parteien untereinander kompromiß- und koalitionsfähig sein müssen? Klar!

Was erzählen wir jungen Menschen? Wahlkampf sei der Wettstreit der Ideen. Wahlprogramme seien Vorschläge der Parteien an die Bürger. Und wenn sie Mehrheiten bei den Wählern finden, sollten sie umgesetzt werden. Wenn nicht, dann nicht.

Alles Blödsinn. Die Parteien, vor allem jene, die vermutlich keine Mehrheiten auf sich vereinigen können, mißachten die Wähler. Die FDP schließt eine Koalition mit Grünen oder SPD nach der Wahl aus. Die Grünen schließen eine Koalition mit der CDU und der FDP aus. Die SPD eine mit der Linken. Die CDU ebenfalls. Der Wählerwille soll gefälligst ins Konzept der eigenen Partei passen. Das alles hatten wir schon einmal, in Hessen. Ein Lehrstück in Sachen Demokratie ist das Verhalten der Parteien nicht. Die Regierung, das Kanzleramt sind keine Beute. Gewählt wird vom Wahlbürger das Parlament, kein Regierungsamt. Die Mehrheiten für die Regierung und die Kanzlerschaft werden im gewählten Parlament organisiert. Zur Not, bei fehlenden oder unzureichenden Mehrheiten, auf dem Wege der Verhandlung und des Kompromisses.

Bettina Freitag, Korrespondentin des Hessischen Rundfunks in Berlin, in einem Kommentar: “Als Wählerin fühle ich mich missachtet. Meine Stimme wollte ich einer demokratischen Partei geben – in der Erwartung, dass Demokraten sich anschließend an einen Tisch setzen und reden. Darüber, was sie gemeinsam wollen und was sie voneinander trennt. Anschließend. Nach der Wahl. Nicht eine Woche vorher. Am Ende soll dann eine Regierung stehen, die von der Mehrheit des Volkes unterstützt wird. (…) Was wäre, wenn es für FDP und Union nicht reichen sollte? Aber für FDP, Union und Grüne. Oder, so unwahrscheinlich es heute klingt, doch für eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP? Wird dann der Wählerwille ignoriert? Guido Westerwelle sagt, seine Koalitionsabsage sei ehrlich. Da hat er zweimal recht. Es ist eine ehrliche Absage an den Sinn von Wahlen.”

Am kommenden Sonntag sind wir gefragt, wir alle. Gefragt, ob wir dieses Verhalten der Parteien gutheißen oder nicht. So groß unser aller Verdruss auch sein mag: Wir sollten das Wählen nicht lassen. Und unseren Kindern und den jungen Menschen im Land weiterhin die Vorzüge der parlamentarischen Demokratie deutlich machen; auch wenn so manche Partei vom schieren Machttrieb geleitet Kompromiß und prinzipielle Bündnisfähigkeit von demokratischen Parteien in Frage stellt. Mit der hohen Kunst von Politik hat das alles nichts zu tun.

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