Geschmack und Satire sind zwei getrennte Bereiche. Über Geschmacksfragen lässt sich nicht streiten. Über Satire schon. Da sind die Grenzen in Gesetzen festgelegt. Satire ist kein Freibrief für Beleidigungen aller Art. So strotzt das Netz nur so von bösartigen Beleidigungen. (…) Nicht jeder Tabubruch ist gleich Satire. Maßstäbe muss man sich bewahren. So möchte ich auch nicht in einer tabulosen Gesellschaft leben. (…) Die Grenzen sind die bestehenden Gesetze. An oberster Stelle steht die Verteidigung der Menschenwürde. Es gibt für mich keine Satire ohne Verantwortung. Satire ist die Verteidigung der unverschuldet Schwachen gegen den Übermut der Starken. Wer sind in diesem Fall die Schwachen? Bei der extra 3-Satire war das anders, die hat von den Menschenrechtsverletzungen und der Verletzung der Pressefreiheit gesprochen. Für mich muss Satire immer einen Erkenntniswert haben. Etwas offenlegen, etwas deutlich machen. (…) Ich verstehe nicht, was Erdoğan mit seinem Handeln bezwecken will. Ebenso wenig verstehe ich das Handeln der Kanzlerin. Sie kann sagen: Wir mischen uns da nicht ein und fertig. Da legt die Satire tatsächlich etwas offen. Dass wir uns im vorauseilenden Gehorsam für alles gleich entschuldigen. (…) Der Fall ist so kompliziert, weil es in Paragraf 103 StGB ein Sonderschutzrecht für ausländische Staatsoberhäupter gibt. Ich hoffe, dass es nicht zu einer Anklage kommt. Dass die, die sich beleidigt fühlen, davon Abstand nehmen. Ich würde Frau Merkel dringend raten, Erdoğans Antrag abzulehnen und keine Ermächtigung zu erteilen, damit es gar nicht zu einem Verfahren kommt. Bloß keine juristischen Fakten schaffen. Das wünsche ich auch Jan Böhmermann. Erdoğan, der in der Türkei die Meinungsfreiheit mit Füßen tritt, hat schon gar kein Recht, sich in unser freiheitliches Rechtssystem einzuklagen. (…)Ich bin ein alter Protestant, mir ist das alles einen Hauch zu kasperig. Aber wir leben nun einmal in einer freien Medienrepublik, in der sich die Erregungsspirale immer weiter dreht. Und offenbar gedreht werden muss, wenn man wahrgenommen werden will. (…) So funktioniert unser Mediensystem. Aber ich halte nichts von Attacken unter der Gürtellinie. Das ist der Fall, wenn von “Ziegenfickern” die Rede ist. (…) Ja, die Grenzen verschieben sich. Da hilft es auch nicht, ständig unseren Freund Tucholsky zu zitieren: “Satire darf alles.” Ich wehre mich dagegen, dass der Begriff Satire inflationär gebraucht wird. Müssen wir über Begriffe wie “Ziegenficker” reden, um über Meinungsfreiheit zu sprechen? Da stimmt doch etwas nicht. Wir ereifern uns über ein Gedicht und gleichzeitig passieren ungeheuerliche Dinge in Europa. In Idomeni werden gerade Flüchtlinge mit Gummigeschossen und Tränengas zurückgetrieben. Das ist doch verrückt.
Klaus Staeck, Alles einen Hauch zu kasperig, in: Interview mit Carolin Ströbele, Zeit Online vom zwölften April Zweitausendsechzehn