Monat: Juli 2020

Tannhäuser Tor

„Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Und ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen.

Zeit zu sterben.“

(Aus Blade Runner: Der Replikant Roy Batty (Rutger Hauer) zu seinem Gegenspieler Rick Deckard (Harrison Ford), nachdem er diesem auf dem Dach eines Hochhauses im Regen das Leben gerettet hat. Im Bewusstsein seines nahen Todes (Replikanten haben nur vier Jahre Lebenszeit) erinnert er sich, an Deckard gewandt, an Erlebnisse während seiner extraterrestrischen Kampfeinsätze

Mein Lieblingsfilmziat.

Geisterspiele

Wenn man bei einem entscheidenden Fußballrelegationsspiel nicht wirklich mit Herzblut beteiligt ist, mit der Vorliebe für eine der beiden Mannschaften, dann – und das dürfte den meisten Beobachtern so gehen – dann gelten die Sympathien meist dem unterklassigen Verein, dem Underdog, heute also dem FC Ingolstadt, dem Drittligisten, der sich mit dem Zweitligisten, dem FC Nürnberg, messen mußte. Insofern hat es durchaus einen bitteren Nachgeschmack, daß am Ende einer überlangen Nachspielzeit, die durch den Spielverlauf nicht gerechtfertigt war, Nürnberg noch das entscheidende Tor zum Verbleib in der Zweiten Liga gelang. Ein Geisterspiel. So nennt der Zeitgeist die Profifußballspiele ohne Zuschauer. Ein Geisterspiel aber auch, weil der Fußball in seiner gegenwärtigen Verfassung gegen die bösen Geister der Bedeutungslosigkeit anspielt. Gehypt, zum Fernsehsport Nummer Eins hochgeschrieben und in unzähligen Gesprächsrunden auch hochgequasselt, rettet sich der vermeintliche Volkssport mit Mühen und Geisterspielen aus der ökonomischen Krise. Fußball ist zum exakten Abbild einer überlebten Lebens- und Produktionsweise geworden. The winner takes it all. Alles für die Mächtigen. Wenige werden immer reicher und mächtiger, viele immer ärmer und bedeutungsloser. Und die hemmungslose Vermarktung entfremdet die einstigen Liebhaber dieses Sportspektakels von ihrer Leidenschaft. Der Ligaalltag wird auf vier Wochentage verteilt. Freitag, Samstag, Sonntag und Montag. Dienstag, Mittwoch und Donnerstag folgen dann die Championsleague, die Europaleague oder die Pokalspiele. Jeden Tag Fernsehfußball. Prinzipiell. Das hält der beste Fan nicht aus. Ein Dauermeister, Dauerabonnenten für die Spiele in den europäischen Wettbewerben, Dauerfußball im Fernsehen. Obwohl doch nur noch die Abstiegsfrage für eine gewisse Spannung sorgt. Mitunter. Die Ware Fußball dürfte bei einem derartigen Angebotsüberhang nicht teurer, sie müßte billiger werden. Müßte. Aber die ökonomischen Regeln gelten ja nicht, wie uns die Coronakrise lehrt. Jene, die ansonsten am lautesten den vollkommen freien Markt propagieren, die absolute Enthemmung, schlüpfen in der Krise geschwind unter irgendeine Rettungsdecke. Die Bundesliga und ihre Geisterspiele. Wie lange noch?

Rücksicht und Entschleunigung

Natürlich, die Pandemie mit ihren Folgen ist eine schwere Belastung. Für alle. Aber: Mir als jemand, der von Anfang Februar an bis vor etwa drei Wochen wegen einer Lungenerkrankung fast nicht mehr draußen war, sondern sich nur noch im eigenen Zimmer aufgehalten hatte und zwei Mal sogar ausgedehntere Krankenhausaufenthalte einlegen mußte, mir fällt nunmehr, da ich mich wieder draußen aufhalten kann und dies gelegentlich auch tue, auf, daß sich fast alle Menschen an die Pandemieauflagen halten. Fast jeder trägt einen Mundschutz. Vor den Geschäften werden die Einlaßbeschränkungen eingehalten. Menschen, die vor allem gelernt hatten zu drängeln und keinerlei Erfahrungen im “Schlangestehen” kultiviert haben oder kultivieren mußten, wie etwa in England oder der DDR, fügen sich klaglos. Rücksicht ist angesagt. Selbst die Paketboten halten einen Mindestabstand ein, wenn sie eine Onlinebestellung an der Haustüre abliefern. Auch im Auto werden Mundschutze getragen. Darauf hätte ich vor Wochen noch keine Wette gehalten. Daß in der egomanischen Spaß- und Partygesellschaft Rücksicht auf Kranke und Gefährdete dominiert, daß das Ego der Selbstverwirklicher zurücktritt hinter die Belange der Gemeinschaft. Jedenfalls weitgehend. Entschleunigung ist eine der Folgen, wenn man warten muß, um ein Geschäft betreten zu können. Die Kehrseite von Entschleunigung ist der Zuwachs an Geduld, an Duldsamkeit, an Gelassenheit. Es tut der Gesellschaft insgesamt gut, wenn Hektik und Hyperaktivität gedämpft, tendenziell reguliert werden. Ich wünsche mir, wie alle anderen auch, daß man möglichst bald eine wirksame Medizin gegen das Virus sowie einen guten Impfstoff entwickeln wird. Ich wünsche mir aber auch, daß dann Rücksichtnahme und Entschleunigung weiterhin starke Kennzeichen unseres Gemeinwesens sein werden.