Monat: September 2022

Bella Ciao – in Persisch, gesungen von einer iranischen Frau

Die Alternative „Putin gewinnen lassen“ oder „ihn mit vereinter Hilfe, aber größten Opfern niederringen und das Risiko eines dritten, vielleicht atomaren Weltkriegs in kauf nehmen“ hat mich zunehmend sprachlos gemacht in den letzten Wochen. Dazu die Protestler, die „der Demokratie“ die Schuld geben oder der Regierung, statt dem Verbrecher im Kreml. Dazu die Befürchtung, dass die Trumpisten in den USA die Herbstwahlen gewinnen können und wir es in zwei Jahren abermals mit Trump oder einem seiner Fußstapfentreter zu tun bekommen … Dann würde das Weltschicksal von einem Verbrecher im Kreml, einem Verbrecher in Peking und einem Durchgeknallten in Washington bestimmt, und dazwischen die kleine, zerstrittene EU, in der es auch schon aus allen Ritzen nach Faschismus stinkt. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so ohnmächtig und so pessimistisch gefühlt wie jetzt.

Um nicht völlig in Trübsinn und Defätismus zu versinken, schaue ich mir regelmäßig die Bilder von den iranischen Frauen an, wie sie ihre Kopftücher ins Feuer werfen, sich ihre Haare abschneiden, und: wunderbar singen. Europäische Lieder. Freiheitslieder. Hoffnungslieder. Aber auch hier das Gefühl der Ohnmacht: Ich kann nichts für sie tun. Und der hässliche, nagende, aus Erfahrung gespeiste Pessimismus: Wird wohl auch wieder enden wie alle Freiheitsbestrebungen zuvor. Mit brutaler Niederschlagung, Mord, Folter, Gefangenschaft. Wie in Belarus. Wie immer. Oder weiß jemand, wann zuletzt in der Geschichte aus einem Schrei nach Freiheit wirklich Freiheit wurde? Und dennoch: So lange ich lebe, werde ich nicht aufhören zu hoffen, dass es einmal gelingen wird, wenn es nur oft genug probiert wurde.

Und ich habe etwas entdeckt, was man trotz aller Ohnmacht tun kann und was ein kleines bisschen mehr ist als Solidarität zeigen, Liken und Petitionen unterschreiben. Man kann den mutigen Menschen, denen das Internet abgestellt wurde, weil sie sich im Iran – oder auch in Russland – mit ihrem verbrecherischen Regime anlegen, helfen, die Internetzensur zu umgehen, indem man etwas von seiner eigenen Internetbandbreite abzwackt und sozusagen spendet. Jeder kann das. Und es geht ganz einfach. Man braucht dazu nur eine Browser-Erweiterung, sie heißt Snowflake, und man kriegt es unter diesem Link: https://snowflake.torproject.org

Einfach herunterladen und in Chrome oder Firefox installieren. Ob es auch in Safari geht, weiß ich nicht. Auf der Website wird es nur für Chrome und Firefox angeboten. Also macht es. Je mehr sich daran beteiligen, desto schwieriger wird es für die Verbrecherregimes, ihre Völker vom Internet abzuschneiden.Wer mehr Infos dazu möchte, kriegt sie hier: https://www1.wdr.de/nachrichten/projekt-snowflake-100.html

Christian Nürnberger auf seiner Facebookseite

Sozialtourismus

Sozialtourismus. Ein gefühlloses Wort, das, wie einst schon die Leitkultur, nichts erhellen soll, nichts klären, nichts kommunizieren, nichts deutlich machen. Friedrich Merz, der „Schöpfer“, will nicht ins Gespräch kommen, sondern auf gemeinste Weise Unfrieden stiften, die Gesellschaft spalten, Ressentiments schüren, Stimmung machen. „Die Konservativen gleiten ab in Banalität und Bösartigkeit.“ So überschrieb die Süddeutsche Zeitung neulich die Kolumne von Carolin Emcke, der mehrfach ausgezeichneten Publizistin. Und Emcke fährt fort: „Mal angenommen, die CDU/CSU verstünde sich als christliche Partei mit einem ‚zeitlosen Wertefundament‘, wie sie es selbst in der Grundwertecharta formuliert, mal angenommen, sie würde ihren eigenen normativen Kern, den Begriff der Verantwortung, wirklich ernst nehmen, dann müsste sie prädestiniert sein für die Krisenhaftigkeit dieser Zeit. Die konservative Idee lebt von dem Versprechen des Stabilen, der Bewahrung dessen, was unantastbar bleiben soll, ganz gleich, was sonst verwandelt wird. Ob der russische Vernichtungskrieg in der Ukraine und die Energiekrise, ob die Klimakatastrophe und Zerstörung der dem Menschen lediglich anvertrauten Natur, ob die weltweite Erschütterung durch totalitäre Regime, sie alle könnten einladen zu einer Vertiefung oder Erweiterung der Idee der Verantwortung. Die Krisen enthalten gute Gründe, die sich konservative Parteien zu eigen machen könnten, wenn sie ambitioniert und wahrhaftig für ihre Werte einstehen wollten. Ja mehr noch, wenn sie ihre eigenen Werte auch dem Stresstest der Wirklichkeit unterziehen, wenn sie sie da einsetzen wollten, wo sie gebraucht werden.“ Eine Annahme, leider, die von Merz & Co. hintertrieben wird. Im Gegenteil verstümmeln die Merz’ und Söders Bürgerlich-konservatives und „führen ins demokratisch-intellektuelle Nirwana eines Kulturkampfs, der die Kultur, die zu verteidigen er behauptet, kaum mehr kennt.“ Emcke verweist auf das historische Versagen anderer konservativer Parteien, ob in den Vereinigten Staaten oder im Vereinigten Königreich, in Frankreich oder Italien, die „nur noch zwischen Banalität und Bösartigkeit zu pendeln vermögen“, aber nicht mehr mit substantiellen politischen Konzepten zu überzeugen wüßten. Sozialtourismus, eine Vokabel, die allenfalls zum Denk- und Sprachgebäude der Banknachbarn der Konservativen im Deutschen Bundestag, den Rechtsnationalisten, den Völkisch-Gestrigen, gehört, erfährt mit Hilfe ebenfalls gestriger Konservativer eine eigentümliche Konjunktur. „Sobald die konservativen Parteien sich von rechtspopulistischen, neofaschistischen Bewegungen oder Figuren treiben lassen, sobald sie das Rationale als definitorischen Gegner ausmachen, leiten sie ihren eigenen Niedergang ein. Der rechte Rand diktiert die Themen, die langfristig die Mitte ihres bürgerlichen Gewissens und ihrer aufgeklärten Prinzipien beraubt, es reichen dann schon Trigger-Begriffe, keine Argumente, “Genderideologie”, “Zwangsgebühren”, “Sprachpolizei”, und so begeben sich die konservativen Parteien ins Abseits eines Diskurses, der sie immer weiter von sich selbst entfernt.“ Soweit noch einmal die Kolumnistin Carolin Emcke. Die Konservativen müssen dieses Abseits verlassen, denn es geht um mehr als das alltägliche Ranking, um den kleinen Vorsprung im Tageskampf politischer Strömungen, das Scharmützel um die knalligsten Überschriften in Funk und Presse. „Ob es autoritären, neofaschistischen Bewegungen und Parteien gelingt, in Europa die Demokratien auszuhöhlen, steht und fällt mit den konservativen Parteien. Wenn sie sich nicht abgrenzen, wenn sie sich nicht selbst ernst nehmen, wenn sie zur anti-rationalistischen Denkbewegung mutieren, dann schaffen sie sich selbst ab“, warnt Emcke. Es reiche „eine demokratische Gesinnung, um sich eine bürgerliche und konservative Partei zu wünschen“, man müsse nicht selbst konservativ sein, um sich die bürgerlich-konservativen Parteien als bürgerlich-konservativ zu wüschen. Die Schöpfung lasse sich nicht bewahren ohne entschiedene Anstrengungen zur Vermeidung der Klimakatastrophe und zur Durchsetzung der Energiewende. „Wer den Wohlstand bewahren will, könnte die Ungleichheit am dringlichsten bekämpfen. Wer Zukunftskompetenz beweisen will, könnte eine postfossile Verkehrspolitik vorantreiben. Wer sich auf christliche Nächstenliebe beruft, wer will, dass Menschen frei und selbstbestimmt leben, könnte die Rechte von trans Personen als erste verteidigen.“ Ja, auch ich wünsche mir eine derart verstandene bürgerlich-konservative Kraft, die Pöbelei und Populismus jenen überläßt, die nicht konservativ sind, sondern reaktionär, völkisch-nationalistisch oder rechtsextrem.

Kleines o

Zum vierten Mal gegen Corona geimpft. Jetzt gegen die Omikron-Variante. Besser: gegen eine der vielen Omikron-Varianten die hier und anderswo unterwegs sind. Wenn es demnächst ein Serum gegen den vorherrschenden Omikron-Subtypus geben sollte, werde ich meinen Oberarm auch zum fünften Male hinhalten. Das versteht sich von selbst.

Gut geklärt

„Gut geklärt von Süle.“ Mit diesem Satz liegt Béla Réthy zwar richtig. Aber warum spricht er ihn aus? Die neununddreißigtausend Zuschauer im Stadion haben die Abwehraktion von Niklas Süle ebensogut sehen können wie die Millionen von Fernsehzuschauern. Beschreiben, was jeder sieht. Béla, Béla

Gedankensplitter anläßlich der Beerdigung einer alten Dame, unsystematisch und teils sehr widersprüchlich

Königlich-britischer Pomp auf allen Fernsehkanälen, den deutschen auch, selbstredend. Too much. Die Beisetzung der verstorbenen britischen Königin ist zwar ein Weltereignis, doch sollte selbst dies nicht zur Quasi-Gleichschaltung des weltweiten TV-Programms führen. Ein privates und ein öffentlich-rechtliches Programm mit allen Bildern der Beisetzung hätten es auch getan.

Es ist eine Beisetzung, seit vielen Jahren in allen Einzelheiten geplant, ein Ritus, der aus sich selbst heraus spricht, aus dem Pomp, aus den Wegen mit und ohne Sarg, den Uniformen, den Gebeten, den Gästen und Staatsoberhäuptern aus aller Herren und Damen Länder, den Gesängen der Chorknaben, dem mittelalterlichen Gemäuer, der Krone und dem Zepter auf dem flaggengeschmückten Sarg aus altem Eichenholz. There is no need for never ending comments. Dieses immerwährende Kommentatorengequatsche nimmt Ausmaße von Fußballübertragungen an, die den Zuschauer nicht mehr in Ruhe lassen mit dem Geschehen, den Bildern, den Emotionen, den Eindrücken, der Bedrückung, der Ergriffenheit. Dieses lange geplante Weltereignis, dieses Superfuneral ist sich selbst genug und wird mit jedem Wort entwertet.

Selbst das republikanischst sozialisierte Gemüt wird zugestehen müssen, daß es sich um eine perfekte Inszenierung handelt, ein singuläres Event, so noch nie gesehen, so nie wieder zu sehen, wegen eines singulären und kaum mehr noch einmal vorstellbaren Ereignisses, dem Tod einer Monarchin nach siebzigjähriger Regentschaft. Und gleichwohl ein Pomp, eine Inszenierung, ein Theater, die Wiederbelebung der eigentlich bereits untergegangenen Welt des Adels, die den Republikaner nicht wirklich rührt. Für den Republikaner zählt das Ritual der Demokratie, der geordnete Machtwechsel, die Verteilung und Balance der Macht, das Gesetz, die Einhaltung gesellschaftlicher Spielregeln. Die eher dürre Vernunft steht über eitlem Pomp der reichen Mächtigen.

Nein, sie war und ist nicht meine Königin. Sie war und ist auch nicht die Königin der Welt. Aber sie war, soweit man das aus der Entfernung heraus wirklich sagen kann, eine wohl charmante, mit sich strenge und vorbildhaft pflichtbewußte Regentin. Sie hat ihr Leben der britischen Monarchie gewidmet, den Bestand der regierenden Familie gesichert, die Briten in politisch schwersten Zeiten weitgehend hinter sich und dem Königshaus versammelt.

Kein Skandal der Windsors geht auf die verstorbene Königin zurück. Die Söhne und ihre Frauen sowie mitunter einige Enkel haben hingegen bisweilen gänzlich unköniglich gegen gute Sitten und Gesetze verstoßen, bis hin zum Verdacht von sexueller Gewalt gegen Minderjährige.

Ob die nächste und die dann kommende Generation der Windsors geeignet sind, das Lebenswerk der verstorbenen Königin zu sichern und fortzusetzen, ist noch keineswegs ausgemacht. Der funerale Pomp mag diesmal einer überragenden Lebensleistung noch angemessen sein. Die nächsten Regentschaften aber werden gewiß nicht von einer derartigen Dauer, von auch einer derartigen Bedeutung sein. Ich habe in meiner Lebenszeit bewußt niemanden anderen auf dem britischen Thron erleben können. Der überwiegenden Mehrheit der Briten geht es ebenso. Die Handschrift der Königin, ihr großmütterlicher Charme, ihre Kraft als Familienoberhaupt, all das ist mit dem Tod von Elisabeth, der Zweiten, untergegangen. Ob König Charles zurückgenommen dienen kann, ob er die Kraft hat, eine Familie zusammenzuhalten, ob das Image der Nachkommen reichen wird, eine politisch zerrissene Bevölkerung hinter der Institution der Monarchie zu einen, all das ist nicht wirklich ausgemacht.

Die Republik hat es schwerer als die Monarchie. Sie ist keine Projektionsfläche, in die jeder hineinlesen kann, was ihm und ihr wichtig ist. Die republikanischen Rituale sind dagegen gänzlich unspektakulär. Es sind die Rituale der Wahlen. Es sind die Regeln parlamentarischer Dispute. Es ist der Appell der Vernunft, die Kraft des Arguments. Es ist die Balance der Macht, es ist die Kraft des Gesetzes. Es ist der Widerspruch der Ideen, der Wettbewerb der Gleichwertigen. Die Republik bezieht ihre Kraft aus der Stärke der Institutionen und der Idee des Gemeinwohls. Nicht aus dem Glanz von Uniformen, Märschen, Paraden, Fackeln oder Kutschen.

Verrückte

Seit vermutlich mehr als fünfundsechzig Jahren schon interessiere ich mich für Fußball. Als Kind und Jugendlicher habe ich selber gekickt, auch noch als junger Erwachsener. Immer und immer wieder habe ich unzählige Fußballspiele erlebt, zwischen Kreis- und Bundesliga, zwischen Kreisauswahl oder Nationalmannschaft. Für Fernsehfußball hat man mich nächtens wecken können. Natürlich sind „der Platz“ und „der Verein“ eine Umgebung, in der man, als Verrückter, gehäuft auf Verrückte trifft. Mehr noch: Vermutlich hätten Platz und Verein, der Fußballsport an sich, jedenfalls der große Amateurbereich, weder Gegenwart noch Zukunft ohne die vielen Verrückten, die ehrenamtlich den Fußball am Leben halten, ohne die Vereinsmeier, ohne die Zahllosen, für die der Verein Leben ist, Familie, Schutzmauer. Wenn Fußball die Lebensmitte ist, dann ist man eben verrückt. Dann zirkuliert das Leben zwischen Heim- und Auswärtsspielen, Training, Fahrten zu den Auswärtsspielen, Mitgliederversammlungen, Stammkneipen, Vereinsfesten. Die Gesprächsthemen kreisen um den Fußball, um Abseitsfallen und Mittelstürmer, um Trainerwechsel und Videobeweise, quer durch alle Ligen, quer durchs ganze Land, quer durch alle TV-Kommentare. Dieses gerüttelte Maß an Verrücktheit ist gleichsam die Gesundheitsgarantie für die vielen Millionen Fußballanhänger in der ganzen Republik und weit über sie hinaus. Richtig krank ist und macht der Fußball, wenn diese liebenswerte Verrücktheit, diese harmlos-provinzielle Kicker-Narretei verschwindet hinter Leben und Gesundheit gefährdender Gewalt, hinter jede Moral, jeden Anstand, jede Erziehung negierendem Hooliganismus, hinter Gewaltbereitschaft und Extremismus. Wenn beim Auswärtsspiel des 1.FC Köln in Nizza vermeintliche Fans den sogenannten „Hitlergruß“ zeigen und hemmungslos auf gegnerische Fans eindreschen und auch Unbeteiligte drangsaliern, wenn sie ganze Innenstädte verwüsten und Einheimische und Touristen beleidigen und gefährden, wenn Fangruppen allenfalls noch unter Polizeieskorten ins Stadion gelangen können, dann sind die Grenzen des Aushaltbaren, die Grenzen der Narretei bei Weitem überschritten. Vor wenigen Tagen waren es die Fans von Eintracht Frankfurt in Marseille. Gestern wurde die Verletzung eines Spielers beim Derby zwischen Dortmund und Schalke von gegnerischen „Fans“ höhnisch beklatscht. Auch auf den Kreisligaplätzen greift, dem Vorbild des „großen Fußballs“ folgend, die Anwendung von Gewalt um sich, Gewalt gegen gegnerische Spieler, Gewalt gegen Schiedsrichter, Gewalt auch gegen Zuschauer. Man könnte Tag für Tag berichten, immer wieder Beispiele zitieren dafür, daß in diesem Feld einiges aus dem Ruder läuft. Die Enthemmung und die Egomanie, die etwa in den sogenannten sozialen Medien zu beobachten sind, lassen sich auch auf und neben dem Fußballfeld studieren. Wenn dann schließlich diese gewaltbereite „Fußballszene“, wobei diese Bezeichnung in gewisser Weise irreführend ist, handelt es sich doch eher um eine den Fußball nutzende Gewaltszene, von rechtsextremistischen und rassistischen Kräften in Dienst genommen wird, ist es allerhöchste Zeit, für strikte Abgrenzung zu sorgen. Gewalt und Fußball, das geht nicht zusammen. Rassismus und Fußball, das geht nicht zusammen. Rechtsextremismus und Fußball, das geht nicht zusammen. Andernfalls wird es bald zu einem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust kommen. Wenn Sport nicht in Frieden stattfindet, wird er auf Dauer gar nicht mehr ausgeübt werden.