Schlagwort: Grundgesetz

“Wir sind viel zu zurückhaltend.” Tag des Grundgesetzes

 

(…) Dabei gibt es in unserer Gegenwart eine ganz einfache Möglichkeit, die deutsche Leitkultur in einer für alle gültigen Weise zu bestimmen. So wie es vielfach und gewichtig formuliert wurde. Sie kann in nichts anderem bestehen als in der umfassenden, großartigen Kultur des demokratisch-liberalen Wertekanons, der sich in unserem Grundgesetz kristallisiert. Dem kulturellen – gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen, sprich universellen – Fundamentaltext von 1949. Ein Text, in den die gesamte demokratische Kultur der gesamten deutschen Geschichte eingegangen ist, die demokratische Kraft von 1848 (und den Jahren davor) wie die der Weimarer Republik. Ein elaborierter demokratisch-liberaler Wertekanon, der sich darüber hinaus in vielen weiteren Texten äußert: im Bundesverfassungsgerichtsgesetz, im Parteiengesetz, im Untersuchungsausschussgesetz, aber auch in unseren diversen Bürgerlichen Gesetzbüchern, im Sozialgesetzbuch, in der von Deutschland bestätigten Menschenrechtskonvention, im Völkerrecht etc. Der demokratisch-freiheitliche Geist formulierte einen großen, stolzen Katalog an diesen Grundtexten seiner Leitkultur. Es geht ganz streng um eine verbindliche Kultur unveräußerlicher Ideen und Werte, verstanden als eine emphatische Kultur sämtlicher historisch erstrittener elementarer Rechte im Sinne der Menschenrechte, Freiheitsrechte, Gleichheitsrechte. Im Sinne auch einer der Rechte komplementären Kultur der Pflichten und Schranken – wie es im Grundgesetz heißt – mit denselben Inhalten. Um eine ganze Kultur der Freiheit, des Individuums und eine ganze Kultur der gesellschaftlich-politischen Ordnung, die sie am weitgehendsten ermöglicht: der liberalen Demokratie. Unser Grundgesetz ist – das ist das Entscheidende, sonst funktioniert es nicht – radikal mehr als ein Text, ein Gesetz. Es ist tatsächlich eine umfassende Kultur, und zwar im exakten und weitesten Sinne des Wortes. Es ist Bekenntnis: ein ganzes, spezifisches Menschen-, Gesellschafts- und Weltbild, beruhend auf humanen, humanistischen Werten. Auch auf zentralen christlichen Werten wie jenen der Liebe und Nächstenliebe. (…) Das Grundgesetz ist die definitive Konkretion einer deutschen Leitkultur in ihrer denkbar präzisesten und denkbar schönsten Form. Für alle, die hier leben, für alle, die kommen. Ein solch leidenschaftliches Bekenntnis zur Verfassung hat nichts, gar nichts mit Schwärmerei, Idealismus, Utopismus zu tun – im Gegenteil: Es ist knallharter Realismus und Pragmatismus. Alles, unsere gesamte Ökonomie, Wohlstand und Frieden beruhen auf diesen Werten, nur so bewahren wir eine Wirklichkeit, die lebenswert ist. Die zerstörerischen, neuen wie alten Dämonen eines neuen wie alten Nationalismus und Totalitarismus, der Diskriminierung, Verachtung und des Hasses – der anti-humanen, anti-demokratischen Fraktionen – gewinnen erneut an Kraft in unserer Welt. Es gibt nur eines: Wir müssen sie niederringen. Unser Wertekanon ist in diesem Kampf unsere mächtigste Waffe. Fürchterlich nur, wozu wir ihn haben verkommen lassen: zu mechanischen, harmlosen Formeln, rituellen Reden. Noch viel schlimmer: zu Selbstverständlichkeiten. Real liegt die größte Bedrohung der liberalen Demokratie ohne Zweifel in ihrer eigenen selbstzerstörerischen Lethargie – der von uns allen. Gerade eben, weil Demokratie kein natürlicher Zustand ist, sondern eine fragile kulturell-historische Errungenschaft, die auch wieder vergehen kann, muss sie von uns tagtäglich lebendig gehalten werden. (…) So lebensnotwendig der Diskurs und der ernste Streit der Demokraten untereinander ist, so bereit müssen alle zur rabiaten Einigkeit der genuinen Demokraten sein. Die anti-demokratischen Kräfte, außen wie innen, – welcher Provenienz auch immer – lachen sich ins Fäustchen, wenn wir es nicht sind. Die freie, starke Demokratie ist, es wird erstaunlich gerne vergessen, de facto ebenso die Prämisse einer freien, starken Wirtschaft und eines freien wie sozial verantwortlichen Marktes. Freiheit und Demokratie sind unsere konkreten Geschäftsgrundlagen. Dass das unbedingte Bekenntnis zum Grundgesetz und aller implizierten Ideen und Werte – ein deutscher “Verfassungspatriotismus”, wie es modern heißt – “abstrakt”, “akademisch” sei, eine Sache der Intellektuellen und Eliten, dabei aber nicht die Seelen und Herzen der Menschen ausfülle, stellt eine gefährliche Diffamierung dar. (…) Dabei verhält es sich doch genau umgekehrt: Das Grundgesetz ist das heftigste Gegenteil von abstrakt und akademisch. Es ist nicht bloß der Verstand, sondern vor allem das Herz und die Seele unserer Werte: In Hinblick auf jeden einzelnen Satz, auf jedes einzelne Wort dieses großartigen Textes wären abertausende Schicksale zu erzählen, die diese Worte und Sätze erst in diesen Text brachten. Geschichten von geflossenem Blut, verlorenen Leben, Unterdrückung, Folter, Morden, Massakern, Massenmorden, Völkermorden. Ungeheure deutsche und europäische Geschichten auch von Mut, Tapferkeit, Aufrichtigkeit, Aufbegehren, Freiheitsdrang, bewusstem Opfer… Abstrakt? Ist das abstrakt? Akademisch? Ja, wirklich? Das Grundgesetz ist geronnene Geschichte, die Essenz in humanistischer, aufklärerischer – und auch in utopischer – Hinsicht. Die Denunziation als “abstrakt” löscht sogar im Nachhinein noch einmal alle systematisch aus, die für diese Werte und Vorstellungen unter Einsatz ihres Lebens gestritten haben, ermordet wurden. So herum ist es wahr: Wofür ließe sich so viel Begeisterung, so viel lebendigstes Leben, so viel Energie, Hingabe und Kreativität entwickeln wie für die Werte der Freiheit, des Individuums, die Freiheit des Denkens, Redens, Tuns… So – und nur so sieht ein adäquates Verständnis des Grundgesetzes aus. Das ist sein Wortsinn, Emotion pur. Und: deutsche Leitkultur in nuce! Und genau in diesem Sinne müssen wir das Grundgesetz gesellschaftlich vermitteln. Sofort kommt man zu einem verheerenden Versäumnis: Wir vermitteln diese Leitkultur viel zu schwach. Nicht einmal annähernd angemessen – beispielsweise – in unseren gegenwärtigen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. (…) Es ist ein entscheidender Aspekt einer nach innen wehrhaften Demokratie gewissermaßen. Wir sind viel zu zurückhaltend. Und natürlich wird eine Integration von vielen neuen Menschen aus vielen anderen kulturellen Kontexten nur funktionieren, wenn wir die Prinzipien unserer Leitkultur für uns selbst und sie uneingeschränkt zur Geltung bringen. Mit allen Grundfesten verhält es sich so: “Männer und Frauen sind gleichberechtigt”, es gilt das “Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit”, auf “körperliche Unversehrtheit” usw. Paradigma ist die Religionsfreiheit, eine Leitkulturfrage par excellence, da sie grundlegend für alles “Private” und die tiefsten Überzeugungen jedes einzelnen steht. “Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (das also strukturell mit “Glauben”  gleichgesetzt wird) sind unverletzlich”, heißt es wunderbar apodiktisch – der demokratische Staat ist der Gewährleister. Eine epochale Errungenschaft, die Deutschen haben auch diese Freiheit durch allerschwerste, brutalste Erfahrungen errungen. Wir dürfen keine einzige kleine Konzession machen, egal, bei welcher Religion. Das Gute: Auf diese Weise lassen sich diese Prinzipien strikt formulieren, ohne Angst haben zu müssen, wider Willen in dieses oder jenes populistische Lager zu geraten, welche in diesen Punkten scheinbar dieselben Forderungen erheben. Wir müssen unsere liberal-demokratische Kultur mit aller Macht stärken. Die liberale Demokratie mit ihrer Kultur in der Offensive halten. Attraktiv für alle. (…)

Jörg Bong, Deutsche Leitkultur. Wir sind viel zu zurückhaltend, in: Spiegel Online vom siebten Mai Zweitausendundsiebzehn. Geringfügig eingekürzt, die Hymne an unser Grundgesetz, heute, auf den Tag genau achtundsechzig Jahre nach seiner Verkündung Neinzehnhundertneunundvierzig. Der ebenfalls heute gefeierte Welt-Schildkröten-Tag scheint mir nicht an die Bedeutung unserer Verfassung heranzureichen. Deshalb belassen wir es beim Grundgesetz.

Grundgesetz II

Ein wundervoll bündiger Satz – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ – geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinander gestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: daß Deutschland das Asyl als ein Grundrecht praktisch abgeschafft hat. Muß man tatsächlich daran erinnern, daß auch Willy Brandt, nach dem heute der Platz vor dem Bundeskanzleramt benannt ist, ein Flüchtling war, ein Asylant? Auch heute gibt es Menschen, viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder existentiell angewiesen sind – und Edward Snowden, dem wir für die Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen. Andere ertrinken jeden Tag im Mittelmeer, jährlich mehrere Tausend und also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feierstunde. Deutschland muß nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen. Aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittländer abzuwälzen. Und es sollte aus wohlverstandenem Eigeninteresse anderen Menschen eine faire Chance geben, sich um die Einwanderung legal zu bewerben, damit sie nicht auf das Asylrecht zurückgreifen müssen. Denn von einem einheitlichen europäischen Flüchtlingsrecht, mit dem 1993 die Reform begründet wurde, kann auch zwanzig Jahre später keine Rede sein, und schon sprachlich schmerzt der Mißbrauch, der mit dem Grundgesetz getrieben wird. Dem Recht auf Asyl wurde sein Inhalt, dem Artikel 16a seine Würde genommen. Möge das Grundgesetz spätestens bis zum 70. Jahrestag seiner Verkündung von diesem häßlichen, herzlosen Fleck gereinigt sein. Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir kennen. (…) Aufs Ganze betrachtet, geht es in Deutschland ausgesprochen friedlich, immer noch verhältnismäßig gerecht und sehr viel toleranter zu als noch in den neunziger Jahren.  Ohne es eigentlich zu merken, hat die Bundesrepublik – und da spreche ich noch gar nicht von der Wiedervereinigung! – eine grandiose Integrationsleistung vollbracht. Vielleicht hat es hier und dort an Anerkennung gefehlt, einer deutlichen, öffentlichen Geste besonders der Generation meiner Eltern gegenüber, der Gastarbeitergeneration, wie viel sie für Deutschland geleistet hat. Doch umgekehrt haben vielleicht auch die Einwanderer nicht immer genügend deutlich gemacht, wie sehr sie die Freiheit schätzen, an der sie in Deutschland teilhaben, den sozialen Ausgleich, die beruflichen Chancen, kostenlose Schulen und Universitäten, übrigens auch ein hervorragendes Gesundheitssystem, Rechtsstaatlichkeit, eine bisweilen quälende und doch so wertvolle Meinungsfreiheit, die freie Ausübung der Religion. Und so möchte ich zum Schluß meiner Rede tatsächlich einmal in Stellvertretung sprechen und im Namen von – nein, nicht im Namen von allen Einwanderern, nicht im Namen von Djamaa Isu, der sich fast auf den Tag genau vor einem Jahr im Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt mit einem Gürtel erhängte, weil er ohne Prüfung seines Asylantrages in ein sogenanntes Drittland abgeschoben werden sollte, nicht im Namen von Mehmet Kubasik und den anderen Opfern des Nationalsozialistischen Untergrunds, die von den ermittelnden Behörden und den größten Zeitungen des Landes über Jahre als Kriminelle verleumdet wurden, nicht im Namen auch nur eines jüdischen Einwanderers oder Rückkehrers, der die Ermordung beinah seines ganzes Volkes niemals für bewältigt halten kann –, aber doch im Namen von vielen, von Millionen Menschen, im Namen der Gastarbeiter, die längst keine Gäste mehr sind, im Namen ihrer Kinder und Kindeskinder, die wie selbstverständlich mit zwei Kulturen und endlich auch zwei Pässen aufwachsen, im Namen meiner Schriftstellerkollegen, denen die deutsche Sprache ebenfalls ein Geschenk ist, im Namen der Fußballer, die in Brasilien alles für Deutschland geben werden, auch wenn sie die Nationalhymne nicht singen, im Namen auch der weniger Erfolgreichen, der Hilfsbedürftigen und sogar der Straffälligen, die gleichwohl genauso zu Deutschland gehören, im Namen zumal der Muslime, die in Deutschland Rechte genießen, die zu unserer Beschämung Christen in vielen islamischen Ländern heute verwehrt sind, im Namen also auch meiner Eltern und einer inzwischen sechsundzwanzigköpfigen Einwandererfamilie – möchte ich sagen und mich dabei auch wenigstens symbolisch verbeugen: Danke, Deutschland.

 

Aus der Rede von Dr. Navid Kermani anläßlich des fünfundsechzigsten Geburtstages des Grundgesetzes

Würde

Wenn ich einen einzelnen Tag, ein einzelnes Ereignis, eine einzige Geste benennen wollte, für die in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Wort Würde angezeigt scheint, dann war es – und ich bin sicher, daß eine Mehrheit im Bundestag, eine Mehrheit der Deutschen und erst recht eine Mehrheit dort auf der himmlischen Tribüne mir jetzt zustimmen werden – dann war es der Kniefall von Warschau. (…)  Dieser Staat hat Würde durch einen Akt der Demut erlangt. Wird nicht das Heroische gewöhnlich mit Stärke assoziiert, mit Männlichkeit und also auch physischer Kraft, und am allermeisten mit Stolz?  Hier jedoch hatte einer Größe gezeigt, indem er seinen Stolz unterdrückte und Schuld auf sich nahm – noch dazu Schuld, für die er persönlich, als Gegner Hitlers und Exilant, am wenigsten verantwortlich war –, hier hatte einer seine Ehre bewiesen, indem er sich öffentlich schämte, hier hatte einer seinen Patriotismus so verstanden, daß er vor den Opfern Deutschlands auf die Knie ging.

Aus der Rede von Dr. Navid Kermani anläßlich des fünfundsechzigsten Geburtstages des Grundgesetzes 

Kinderrechte ins Grundgesetz

Sexueller Mißbrauch an Kindern und Jugendlichen in Schulen und kirchlichen Einrichtungen, körperliche und seelische Gewalt gegen Kinder – Alltag in Deutschland. Leider. Und: Seit Jahren weigern sich die Regierenden hierzulande, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Die Interessen der Kinder und Jugendlichen spielen in Deutschland noch immer eine Nebenrolle. Und bei Entscheidungen in Politik oder Verwaltung werden sie kaum bedacht. Das Aktionsbündnis Kinderrechte, das sind die deutsche UNICEF, der Deutsche Kinderschutzbund und das Deutsche Kinderhilfswerk, fordert Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat schon seit langem auf, die Rechte der Kinder im Grundgesetz zu verankern. Es ist wirklich Zeit. Höchste Zeit.

Deutsch im Grundgesetz

Na super, da will die neue Koalition Deutsch im Grundgesetz verankern: “Die Sprache der Bundesrepublik ist deutsch.” Gut, daß die Bundesrepublik nicht Kisuaheli spricht oder Urdu.

Wie wäre es denn, stattdessen endlich die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Wie es mehr als einhundert bundesweit tätige Kinderschutz- und Familienorganisationen seit Jahren fordern. “Dies wäre ein klares Signal an Staat und Gesellschaft, das Wohl der Kinder als seine Kernaufgabe anzusehen”, sagt dazu beispielsweise der Deutsche Kinderschutzbund.