Michalis Pantelouris hat sein Leben lang SPD gewählt und erwägt jetzt, erstmalig für Angela Merkel zu stimmen, weil er ihre Flüchtlingspolitik für richtig hält. Ein Dilemma. Wohl wahr.
Wir sind aufgefordert worden, uns nicht von den Bildern trauriger Kinderaugen hinter Grenzzäunen erpressen zu lassen. Alexander Gauland von der AfD hat das gesagt, der inzwischen wenig mehr ist als ein Provokateur, aber ich glaube schon, dass er damit Ängste benannt hat, die mehrheitsfähig sind. Deutschland hat Angst, überrannt zu werden von den Eltern dieser Kinder. Nur: Ich kann das nicht. Ich habe zwei Kinder, und ich glaube, eine reiche Gesellschaft, die sich vom Leid von Kindern nicht zum Handeln bringen lässt, ist eine zynische Gemeinschaft von Leuten, die ihre Ängste wichtiger nehmen als ihre Überzeugungen. Deshalb war ich beeindruckt von der Bundeskanzlerin, die europäische Menschlichkeit auch noch verteidigte, als es unpopulär wurde. Als es ihr politisch geschadet hat. Ich habe zum ersten Mal in ihrer sich längst ewig anfühlenden Amtszeit so etwas wie Stolz auf meine Kanzlerin empfunden, und was schlimm ist: Ich spüre so etwas wie pragmatischen und moralischen Druck, sie zu wählen. Und das wäre furchtbar für mich, denn ich bin ein linker Sozialdemokrat. Merkel zu wählen hieße, die CDU zu wählen, was für mich völlig undenkbar ist, weil ich wirklich alles falsch finde, was diese Partei und erst recht die CSU vertritt, von der Euro-Politik bis zur Herdprämie, von TTIP bis zur Vorratsdatenspeicherung. Ich will weder Schäuble wählen noch »Es wird in Europa wieder Deutsch gesprochen«-Kauder noch sonst irgendwen dort. Es ist schlimm genug für mich, dass meine Partei, die Sozialdemokraten, diesen ganzen Unsinn in der Großen Koalition mitträgt, sehr schlimm sogar. Aber eine Partei wählen zu müssen, bei der man alles ablehnt? Wie soll das gehen? Kann das gehen? Muss das sein? Meine Gedanken sind folgende: Für mich ist Merkel die Einzige, die Europas Flüchtlingspolitik so beeinflussen kann, dass Europa seine Seele nicht komplett verliert und alles verrät, wofür dieses große Friedensprojekt in den vergangenen siebzig Jahren gestanden hat. Setzen sich die anderen durch, sterben und leiden noch mehr Menschen. So einfach. Dabei finde ich nicht alles gut, was Merkel in der Flüchtlingspolitik macht, und ich bin auch nicht naiv. Mir ist völlig bewusst, dass die Aufnahme und Integration der vielen aus Kriegsgebieten flüchtenden Menschen eine schwere Aufgabe wird. Aber mir ist »schwer« immer noch lieber als »menschenverachtend«. Ich glaube, wenn irgendjemand anderer als Angela Merkel im Herbst 2017 Bundeskanzler werden sollte, wird die furchtbare Situation an den europäischen Außengrenzen und in den Lagern jenseits Zentraleuropas nur noch schlimmer. Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass jemand anderer Kanzler wird. Wer denn? Sigmar Gabriel? Eben. Ich glaube aber auch, dass ein schlechtes Ergebnis für Merkel bedeuten würde, dass ihre parteiinternen Kritiker – also praktisch die gesamte CDU – das als »Denkzettel« für ihre Flüchtlingspolitik interpretieren werden und ihr Stand noch viel schwieriger wird, als er heute schon ist, angesichts der Angst der Konservativen vor dem rechten Rand. Sie könnte meine Stimme brauchen. Aber es wäre eine Stimme für die CDU. Es gibt natürlich Parteien, deren Bekenntnisse in der Flüchtlingspolitik viel besser zu mir passen. Natürlich die SPD, bei deren Abgeordneten ich mir im Moment selten ganz sicher bin, was sie eigentlich wollen, aber besser und menschlicher als die CDU können sie Flüchtlingspolitik selbst, wenn man sie nachts weckt und mit verbundenen Augen kopfüber an ein Kettenkarussell hängt. Nur nützt mir das nichts, weil ich im Leben nicht glaube, dass die SPD den nächsten Regierungschef stellt. Bei den Grünen ist es das Gleiche. Am Ende muss sich Merkel an- gesichts eines schlechten Ergebnisses ihren Kritikern beugen und Dinge tun wie »die europäischen Außengrenzen sichern« – gegen Schlauchboote voller nasser, unterkühlter Familien. Alles, weil ich Wolfgang Bosbach nicht wählen will. Oder Erika Steinbach. Oder gar diese komplette CSU- Riege, von Dobrindt bis Scheuer. Aber die Frage ist doch, wenn man es nur ein bisschen zuspitzt: Wenn ich es ernst meine damit, dass ich glaube, es würden Menschenleben gerettet, Schicksale zum Besseren gewendet werden und in Europa ein Rest Humanität gegenüber Menschen in größter Not gewahrt, wenn Merkels Flüchtlingspolitik mehr Unterstützung erfährt – muss ich dann nicht die CDU wählen? Müssen dann nicht viel mehr Leute wie ich allein wegen Merkel diese Partei wählen, deren Personal und Positionen wir für reaktionär und dumm halten? Und wenn es mir so wichtig ist: Warum fällt es mir dann trotzdem so verdammt schwer, auch nur darüber nachzudenken? Natürlich ist die politische Überzeugung Teil der Identität, und die verrät man nicht leicht. Auf der anderen Seite sind wir alle erwachsen und wissen, dass in der real existierenden Politik niemand immer recht hat und regelmäßig keiner völlig recht. Insofern kann es ja auch nicht so ein Drama sein, einmal taktisch wegen eines Sachthemas die Falschen zu wählen. Aber es ist eben doch ein Drama. Allein der Gedanke tut sauweh. Ich kann ja auch nicht dazuschreiben, »Freu dich nicht über meine Stimme, Schäuble, ich habe euch nur wegen der Flüchtlingspolitik gewählt!« Das wäre wie in dem Witz, wo Ostfriesen Nutten ärgern, indem sie ihnen auf dem Straßenstrich hundert Euro in die Hand drücken und dann ganz schnell abhauen. Funktioniert einfach nicht. Die freuen sich trotzdem. Und wenn wir alle Pech haben, singt Volker Kauder wieder Tage wie diese. Feixend. Ein Albtraum. Sollte ich dafür verantwortlich sein? Heimlich bete ich, dass sich das Problem für mich lösen wird und Europas Regierungschefs rechtzeitig einsehen, wie die Geschichte über sie richten wird, wenn sie weiterhin nichts unternehmen. Sonst muss ich dahin gehen, wo es mir weh tut. Sehr weh.
Michalis Pantelouris, Erst links, dann rechts, in: Süddeutsche Zeitung, Magazin, Heft Neunundzwanzig aus Zweitausendsechzehn.