Schlagwort: Sigmar Gabriel

Corbyn statt Gabriel

Wie eingemauert verharrt die SPD im 25-Prozent-Keller. Das ist auch das „Verdienst“ Gabriels: Er verkörpert das Elend der deutschen Sozialdemokratie. Es mangelt ihm an Substanz, an sozialdemokratischer Grundierung. Er ist ein Machtpolitiker ohne inneren politischen Kompass. Er kann nicht überzeugen, weil es ihm an Überzeugungen fehlt. Von der Verschärfung des Asylrechts über TTIP und Vorratsdatenspeicherung bis zur Rüstungsexportpolitik: Unter Gabriels Führung gibt die SPD den perfekter Juniorpartner der Union. Deswegen ist seine Kanzlerkandidatur auch kein Aufbruchsignal. Sie zementiert vielmehr die politischen Verhältnisse. Das Glück für Gabriel ist das Dilemma all jener, die die Hoffnung auf eine gerechtere und sozialere Gesellschaft noch nicht aufgegeben haben: Die SPD hat zurzeit nichts Besseres im Angebot. Ihr fehlt ein Jeremy Corbyn.

Pascal Becker, Ein Sigmar ist kein Jeremy, in: Tageszeitung vom dreißigsten Oktober Zweitausendundfünfzehn

 

Vorwärts, Deutschlands Zukunft gestalten

Heute angekommen. Ein wenig zerrupft und zerknittert, vom Regen ramponiert, weil zu dick, um in den Briefschlitz zu passen. Die Briefträgerin hätte schon besondere Mühe walten lassen müssen, damit das dicke Bündel Papier, die Koalitionsvereinbarung im Gewand des Vorwärtssonderdrucks, unbeschadet unseren Hausflur erreicht. Und das kann man nicht von ihr erwarten. Samstags muß es besonders schnell gehen. Habe ich mich bislang auf die Version der Koalitionsvereinbarung berufen, die im Netz kursiert, muß ich mich nun mit etwas aufgeweichtem Papier herumschlagen. Anyway. Die Vereinbarung mit den Unterschriften von

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Frau Merkel und den Herren Seehofer und Gabriel wird auch als nasses Papier nicht besser. Der gemeine Sozialdemokrat, der seine Partei nicht schon wieder als unkenntlicher Juniorpartner ohne Prokura in einer von Christdemokraten dominierten Bundesregierung erleben und mithin dem Impuls folgen möchte, die Koalitionsvereinbarung abzulehnen, muß sich nun mit einem öffentlich verhandelten Argument auseinandersetzen, daß im Falle der Ablehnung durch die Mitglieder ja die komplette SPD-Führung  zurücktreten müsse. Da muß man durch, ohne sich irre machen zu lassen. Die Parteiführung hat beschlossen, die Mitglieder zu befragen. Also wird sie mit dem Ergebnis leben müssen. So oder so. Die SPD-Mitglieder müssen ja auch mit einer Koalitionsvereinbarung leben, mit deren Inhalten sie womöglich nicht wirklich einverstanden sind oder die Ihnen nicht weit genug gehen. Da muß man durch. Das Fußvolk wie die Parteioberen. Ich werde mich wahrscheinlich nicht für die große Koalition erwärmen können. Mal sehen, was die in den kommenden Tagen stattfindenden Beratungen der SPD noch so ergeben werden. Gleichwohl möchte ich der SPD-Führung meinen Respekt zollen für die Mitgliederbefragung. Die Beteiligung der Mitglieder, wenn es um substanzielle Richtungsfragen geht, stellt eine wichtige und notwendige Weiterentwicklung der innerparteilichen Demokratie dar. Mein Votum gegen die große Koalition ist kein Votum gegen führende Gremien und Personen der SPD, namentlich Sigmar Gabriel.

Achtung, hier wird gesprengt

Da hat er wieder einmal eine ordentliche Sprengladung gezündet: Michael Spreng, konservativer Publizist und Politikberater, in seinem Blog Sprengsatz unter dem Titel: Die Überlebensfrage der Demokratie. Hier ein Zitat (und ein Lesebefehl für den ganzen Blog):

“Investmentbanken und Hedgefonds agieren wieder wie vor der Krise, Großbanken manipulieren die Zinsen, die Manager lassen sich Traumgehälter und Phantasieboni auszahlen, Milliardenhilfen für Griechenland und andere notleidende Staaten gehen zu 80 Prozent zurück an die Banken. Das Primat der Politik steht nur noch auf dem Papier, in Wirklichkeit bestimmt die Finanzindustrie den Takt der Politik. Vor diesem Hintergrund ist es erschütternd, wie schnell die Vorschläge von Sigmar Gabriel zur Bankenregulierung als “Populismus” (Wolfgang Schäuble) abgebürstet wurden. Denn der SPD-Chef hat recht, wenn er die Frage der Kontrolle der Finanzindustrie zur Überlebensfrage der Demokratie erklärt. Deshalb ist das Thema Finanzmarktregulierung auch das richtige Wahlkampfthema. Warum sollen die Bürger noch wählen gehen, wenn anschließend Hedgefonds und Banken die Politik diktieren? Ohne Finanztransaktionssteuer, die den irrwitzigen Hochfrequenzhandel eindämmt und wenigstens ein bisschen  Geld für den Staat abschöpft, ohne die Trennung von Privatkundengeschäft und Investmentbanking, ohne strenge Aufsicht über Hedgefonds, ohne Genehmigung und Verbot von Spekulationsprodukten, ohne Begrenzung der Gehälter und Boni, wird das “Monster” (Ex-Präsident Horst Köhler) nicht besiegt werden können. Von der regierenden schwarz-gelben Koalition ist in dieser Hinsicht nichts mehr zu erwarten. Deshalb müssen darüber die Wähler 2013 entscheiden. Denn die Breuers und Schulte-Noelles von heute lernen freiwillig nichts dazu, reagieren taub und frech auf Appelle an die gesellschaftliche und politische Verantwortung. Das geht nur mit Zwang.” 

Ok. Dann eben Zwang.

Blowing in the Wind

Es gibt einen Zickzackkurs, der nach vorne führt. Beim Segeln. Wenn der Wind von vorne bläst. Dann muß man kreuzen. Man fährt immer hoch am Wind und muß mehrere Wendemanöver durchführen, abwechselnd auf Backbord-Bug und Steuerbord-Bug segeln, um sich auf diese Weise dem Ziel zu nähern. Die SPD segelt aber nicht. Schon mal garnicht unter der Führung eines Kapitäns, der die Idee von einem klaren Kurs des Tankers hat. Die SPD taumelt. Im Zickzack. Von einem Kurs zum nächsten. Mal hierhin, mal dorthin. Und vom Ziel hat die Führung der SPD offenbar nicht einmal eine ungefähre Vorstellung. Nur der Wind, der bläst der SPD immer ins Gesicht. Bis kurz vor Ostern hieß die Parole: Parteiausschluß von Thilo Sarrazin. “Wer uns empfiehlt, diese Botschaft in unseren Reihen zu dulden, der fordert uns zur Aufgabe all dessen auf, was Sozialdemokratie ausmacht: unser Bild vom freien und zur Emanzipation fähigen Menschen.” So Sigmar Gabriel vor Monaten. “Und wer uns rät, doch Rücksicht auf die Wählerschaft zu nehmen, die Sarrazins Thesen zustimmt, der empfiehlt uns taktisches Verhalten dort, wo es um Grundsätze geht – und darüber jenen Opportunismus, der den Parteien sonst so häufig vorgeworfen wird.” Seit Gründonnerstag gilt ein anderes Motto: Doch kein Parteiausschluss von Sarrazin. Weil der Genosse eine ausgesprochen dürre und wohlfeile Erklärung abgab. Was gilt denn nun, Frau Nahles?  “Taktisches Verhalten und feiger Parteienopportunismus”? “Die Aufgabe des Bildes vom freien und zur Emanzpation fähigen Menschen”? Die Grundsätze der Partei? Und wenn ja, welche? Ich war nicht für den Ausschluß von Sarrazin aus der SPD. Weil eine Partei auch Narren aushalten muß. Und ein Parteiausschluß nicht vor einer Debatte schützt, die in und außerhalb der SPD auch mit kruden Argumenten geführt wird. Aber wenn ein solches Verfahren angestrengt wird, kann es nicht kurze Zeit danach auf derart erbärmliche Weise abgeblasen werden. Frau Nahles und Herr Gabriel haben der SPD keinen guten Dienst erwiesen. Die SPD sendet die Botschaft einer schlingernden Partei und einer nicht zu eindeutiger Kommunikation fähigen Führung.

Lied der Partei

Vom tschechoslowakisch-deutschen Schriftsteller Louis Fürnberg stammt das “Lied der Partei”, in dessen Refrain es heißt: “Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!” Das Lied der Partei galt als Hymne der SED. Dabei war es ursprünglich als Huldigung an den IX. Parteitag der KPČ geschrieben worden. Fürnberg war nicht zu diesem Parteitag eingeladen worden und schrieb das Lied aus verzweifeltem Trotz, um sich selbst wieder zur Ordnung zu rufen. Die Partei hat eben immer Recht. Aber: Gilt das nur für kommunistische, für leninistische Parteien? Gilt das nicht auch, ansatzweise jedenfalls, für andere Parteien? Die CDU hat in Baden Württemberg hat Recht, gegen die CDU-Mitglieder, die gegen Stuttgart 21 auf die Straße gehen. Die SPD hat Recht, gegen die, die sich kritisch gegen den Ausschluß von Thilo Sarrazin wenden. Die FDP hat Recht, gegen jene Mitglieder, die sich kritisch mit der Führungsrolle des Vorsitzenden Westerwelle auseinandersetzen. Alle Parteien tun sich schwer mit Mitgliedern, die sich schwer tun mit Parteilinien, die sich Vorgaben nicht unterordnen, die ihre eigene Meinung nicht an der Parteigarderobe abgeben. Das Wesen der Partei ist, möglichst geschlossen die eigenen Interessen durchzusetzen. Also können abweichende Positionen nur in begrenztem Maß in einer Partei ausgehalten werden. In dem Sinne sozialisiert jede Partei ihre Mitglieder. Wer nach diesem Prozeß immer noch der Meinung ist, die Partei habe nicht immer Recht, der muß sich anderswo seinen Platz suchen. Wir können das in Wermelskirchen ganz gut an den Abspaltungen von der CDU studieren. UWG, WNK und Büfo sind allesamt Fleisch vom Fleische der christlichen Union. Verlorene Machtkämpfe, unterschiedliche Positionen, nicht erfüllte Karrierewünsche, was auch immer zu diesen Erosionen geführt haben mag: Die Partei hat immer Recht behalten. In diesem Fall die CDU. Abspaltungen sind aber nur eine Seite der Medaille. Viel spannender ist die nachlassende Bindungskraft der Parteien. (Im übrigen: Nicht nur der Parteien. Auch andere Großorganisationen, Kirchen beispielsweise oder Gewerkschaften, erleiden einen grandiosen Bedeutungsverlust.) Die ursprünglichen Milieus, in denen die Parteien prosperieren konnten, haben sich weitgehend aufgelöst. Beispielsweise haben bei der Bundestagswahl 2009 mehr Arbeiter die CDU gewählt als die (ursprüngliche Arbeiterpartei) SPD. Ein wesentliches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft ist das einer zunehmenden Individualisierung. Das bedeutet nicht zugleich auch Entpolitisierung, was etwa an der sich neu entwickelnden Bewegung gegen die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke deutlich wird oder an den Demonstrationen gegen Stuttgart 21. Viele Bürger sind nach wie vor bereit, sich zu engagieren. Vor allem dann, wenn sie unmittelbar betroffen von Entscheidungen der Politik sind. Wozu sie aber immer weniger bereit sind, das ist die regelmäßige Unterordnung unter weitgehend ritualisierte Parteipolitik, das ist das Abnicken dessen, was in Vorständen und Zirkeln vorbesprochen wurde, das ist die Duldung eines floskelhaften und lebensfernen Politjargons. Und: Wenn es ungerecht zugeht in der Gesellschaft, wenn Partikularinteressen bedient werden, statt das Gemeinwohl zu stärken, dann können Parteien keine gute Konjunktur haben. Das Ergebnis ist dann eher so etwas wie Parteienverdossenheit. Gut zu studieren am aktuellen Ranking der FDP in den Umfragen oder am famosen Scheitern der schwarz-gelben Koalition in Nordrhein-Westfalen. Und zuvor am niederschmetternden Ergebnis der SPD bei der Bundestagswahl. Alle Parteien erleiden diesen Bedeutungsverlust gleichermaßen. Ihnen gelingt es zusehends weniger,  Menschen zu mobilisieren. Die Mitgliederzahlen sind rückläufig. Immer weniger Menschen nehmen ihr Wahlrecht wahr. Für immer weniger Menschen also gilt: Die Partei hat immer Recht. Im eigenen Saft schmort es sich ganz gut. “Wir müssen raus ins Leben”, hatte der SPD-Vorsitzende Gabriel die nach der Wahlschlappe unter Schock stehenden Sozialdemokraten beim Dresdner Parteitag im November 2009 in einer fulminanten Rede angefeuert: “Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist. Denn nur da ist das Leben!” Eben. In der Partei, in den Parteien ist zu wenig Leben. Stattdessen die Bekehrung der Bekehrten. Die Parteien müssen sich anstrengen, um Bürger wieder zu interessieren. Sie müssen sich ihnen zuwenden. Mit anderen Angeboten als den hergebrachten. Offene Debatten sind erforderlich, ganz ohne jede Parteiraison. Die Partei hat eben nicht immer Recht, keine Partei. Parteien können und müssen lernen, vom Bürger. Das alles wird indes kaum etwas nützen, wenn Parteien das Gemeinwohl aus dem Auge verlieren. Eine Gesundheitsreform, die nur die Versicherten ausplündert und das als “Reform” verkaufen will, den bestverdienenen Pharmaunternehmen aber keine Preis- oder Qualitätsvorschriften macht,  eine Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke, die selbst von den Experten der Bundesregierung nicht für erforderlich gehalten wird und die den kommunalen Energieversorgungsunternehmen enorm schadet, ein “Spar”haushalt mit sozialer Schieflage – all das kann durchs beste Marketing nicht verbessert werden. Die Menschen rücken von den Parteien ab, aber sie haben sich das Gefühl und Gespür für mangelnde Gerechtigkeit bewahrt. Und sie werden den Parteien erneut den Denkzettel ausstellen. Wie heißt es so schön in Fürnbergs Parteihymne? “Wer das Leben beleidigt, ist dumm oder schlecht.”