Schlagwort: Koalitionen

Gemütsmassage

Eine republikweite Gemütsmassage findet derzeit statt. Kaum ein Medium, das sich nicht beteiligt, kaum eine Zeitung, kaum ein Radiosender, kaum eine Fernsehstation, die sich nicht ums Gemüt der Sozialdemokraten mühen, jedenfalls der Sozialdemokraten, die Mitglied in der SPD sind. Auf der einen Seite wird der demokratische Charakter des Mitgliederentscheids der SPD bestritten. Schließlich hätten sich doch Millionen Wähler für eine große Koalition ausgesprochen, da könne über die Koalitionsvereinbarung, den GroKoDeal, doch nicht von nur vierhundertsiebzigtausend Mitgliedern der SPD befunden werden. Und auf der anderen Seite gibt es den unablässigen Appell an die SPD-Mitglieder, jetzt der staatspolitischen Verantwortung gerecht zu werden, was immer das auch sein mag. Die große Koalition, so ist allenthalben zu hören und zu lesen, sei die ultima Ratio der Stabilität in Deutschland und in diesem Sinne auch alternativlos. Nachdem ich gestern über den Livestream von Phönix einen Teil der Regionalkonferenz Hessen Süd der SPD zur Koalitionsvereinbarung verfolgen konnte, hege ich keinen Zweifel mehr, daß eine ansehnliche Mehrheit für die große Koalition zustande kommen wird. Das rhetorische Geschick des Vorsitzenden wird so manchen noch zweifelnden SPD-Genossen, wenn nicht überzeugen, dann doch jedenfalls zu einem halb- oder viertelherzigen Ja zur Vereinbarung mit den bayerischen Christsozialen und den gesamtdeutschen Christdemokraten bewegen. Das jedenfalls war gestern auf Phönix schon zu besichtigen. Und in diesem Sinne sind auch jene Journalisten zu verstehen, die nicht müde werden, der SPD einen großen Sieg in den Verhandlungen über die vereinten Christdemokraten zu attestieren. Die SPD habe sich in den Koalitionsvereinbarungen durchgesetzt und weit mehr erreicht, als es ihrem Stimmenanteil von etwa einem Viertel zukomme. CDU/CSU hingegen, denen ja nur fünf Bundestagsmandate zur absoluten Mehrheit fehlen, hätten ihre Handschrift in den Vereinbarungen nicht kenntlich machen können. Das Ganze wird dann noch unter den Oberbegriff der Sozialdemokratisierung gestellt. Die Große Koalition aber ist eine übergroße Koalition. Die parlamentarische Opposition wird von nur noch zwanzig Prozent der Bundestagsabgeordneten geleistet werden müssen. Und die Wahrung der Oppositionsrechte wird vom Wohlwollen der drei Koalitionsfraktionen abhängig sein. “Eine starke Demokratie braucht die Opposition im Parlament. CDU, CSU und SPD werden die Minderheitenrechte im Bundestag schützen.” Auf Seite einhundertvierundachtzig der Koalitionsvereinbarung ist das zu lesen, daß die Regierungsfraktionen auch das Geschäft der Opposition noch im Auge haben werden. Unter staatspolitischer Verantwortung verstehe ich das genaue Gegenteil einer übergroßen Koalition. Warum wurde nicht gründlicher und offen über eine Möglichkeit gesprochen, die das Wahlergebnis geradezu auf dem Tablett servierte, nämlich eine Minderheitsregierung der CDU/CSU. Wenn die SPD die Option einer knappen rot-rot-grünen Mehrheit im Bundestag nicht ernsthaft bedenken wollte oder konnte, wäre die knappe Minderheitsregierung der Christdemokraten und der Christsozialen aber staatspolitisch durchaus eine bedenkenswerte Alternative. CDU und CSU haben die Bundestagswahl gewonnen. Eindeutig. Angela Merkel hat ihren Anspruch auf eine weitere Amtszeit als Bundeskanzlerin bei den Wählern durchgesetzt. Die SPD hat die Wahlen verloren. Eindeutig. Nur einem Viertel der Wähler erschien im September die SPD samt Programm und Personal als regierungstauglich. Und die Wähler wählen keine Koalitionen. Sie wählen Parteien. Wegen ihres Programms, ihrer Politik und oder oder wegen ihres Personals. In die Regierung kann man sich zwar hineinverhandeln. Über Beratungen zur übergroßen Koalition. Dem Wählerwillen entspricht dies indes nicht. Mehr Demokratie wagen. Das kluge Motto aus der ersten Regierungserklärung eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers ist nach vierundvierzig Jahren aktueller denn je. Mehr Demokratie wagen, das könnte heutzutage das Wagnis bedeuten, sich auf Verhältnisse einzulassen, die in anderen europäischen Demokratien durchaus üblich sind, die von den Wählern immer mal wieder herbeigewählt werden und keineswegs eine Gefahr für die demokratische Grundstruktur und Verfassung des Landes darstellen. “Eine Minderheitsregierung, in der von Fall zu Fall um soziale und ökologische Lösungen gerungen wird, könnte ein solches Wagnis sein. Die Abgeordneten wären vom Fraktionszwang in bestimmten Fällen entbunden und frei, ihren Sachverstand zu gebrauchen. Ihr Mandat bekäme einen anderen Charakter, gebunden an die Wähler, nicht an die Parteidisziplin. Vorgaben der Regierung wären nicht mehr alternativlos. Dies würde eine Abkehr von der bisherigen politischen Kultur bedeuten. Und das wäre gut so.” So Daniela Dahn in der heutigen Ausgabe des Freitag, unter dem schönen Titel: Mehr Streit wagen. Stattdessen sieht die Koalitionsvereinbarung auf Seite einhundertvierundachtzig vor, daß “im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien (…) die Koalitionsfraktionen einheitlich ab(stimmen). Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen. Über das Verfahren und die Arbeit im Parlament wird Einvernehmen zwischen den Koalitionsfraktionen hergestellt. Anträge, Gesetzesinitiativen und Anfragen auf Fraktionsebene werden gemeinsam oder, im Ausnahmefall, im gegenseitigen Einvernehmen eingebracht. Die Koalitionsfraktionen werden darüber eine Vereinbarung treffen.” Mehr Demokratie wagen? Die Abstimmungsguillotine wird sicher alsbald im Berliner Reichstag zu besichtigen sein. Wolfgang Bosbach wird sich, um seinen politischen Hals zu retten,  dann entscheiden müssen, ob er weiter den von der (Regierungs-)Linie abgefallenen Helden gibt, der Ronald Pofalla immer noch die Stichworte liefert, wenn es in die nächste Runde Europarettung geht. Die Stabilität der Regierung stehe und falle mit der Mehrheit im Parlament, heißt es immer wieder. Nun ja, die gewesene schwarz-gelbe Regierung hatte eine satte parlamentarische Mehrheit. Aber der Hort politischer Stabilität war sie wohl kaum. Der Einheitlichkeitszwang, sozusagen die “formierte Gesellschaft” (Ludwig Erhard) der übergroßen Koalition, ist das schiere Gegenteil von mehr Demokratie. Nämlich Einheitszwang, imperatives Mandat unter dem fadenscheinigen Deckmantel politischer Stabilität. „[Die Abgeordneten] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ So regelt das der Artikel 38 des Grundgesetzes. Der Abgeordnete ist bei seiner Entscheidung lediglich seinem Gewissen verpflichtet. Fraktionsdisziplin heißt das Zauberwort, mit dem abweichende Auffassungen, Minderheitenvoten unterdrückt werden können. Und die Autoren der Koalitionsvereinbarung schreiben fest, daß die Koalitionsdisziplin das Abgeordnetengewissen fest im (Würge-)Griff hat. Abweichende Meinungen sind nicht vorgesehenen in der übergroßen Koalition. Einer Koalition, die sich auf weit mehr als eine Zweidrittelmehrheit im Parlament stützen kann. Das gespenstisch-bequeme “Durchregieren” wird sie kennzeichnen, die  übergroße Koalition. Kein nennenswerter Widerspruch in den eigenen Reihen und zwei nur in sehr engen Grenzen oppositionsfähige Fraktionen auf der anderen Seite. Diese steinernen Verhältnisse hätte man mit einer Minderheitsregierung der vereinigten Christsozialen und -demokraten durchaus zum Tanzen bringen können, wie Daniela Dahn im Freitag ausführt: “Das Parlament würde nicht mehr zum sprichwörtlich gewordenen Vollzugsorgan des Kanzleramtes verkommen. Das Mitregieren käme nicht aus dem Koalieren, sondern aus dem Opponieren. So wäre die Regierung zu flexiblen Reaktionen gezwungen. (…) Beständigkeit in der Politik wird im Wesentlichen an der Außen-, Sicherheits- und Fiskalpolitik gemessen. Auf diesen Gebieten gab es in den vergangenen Jahren – leider mag man in vielen Fällen sagen – de facto sowieso schon eine Große Koalition. Die Sozialdemokraten haben die Euro-Rettungsschirme, die Afghanistan-Einsätze, den auch aus Deutschland kommenden Drohnentod, die diplomatischen Rücksichten gegenüber der NSA und vieles mehr mitgetragen. Das würde so weitergehen. (…) In diesem Sinne bliebe das Land durchaus stabil.” Mehr Demokratie wagen. Die übergroße Koalition ist keine Übung in mehr Demokratie. Die Mitgliederbefragung in der SPD dagegen ist eine solche Übung. Keine der an der Koalitionsvereinbarung beteiligten Parteien hatte zunächst im Sinn, gemeinsame Sache zu machen, eine Koalition zu bilden. Angetreten sind sie alle, um mit ihrem Programm und ihrem Personal Mehrheiten zu erringen. Koalitionen werden nicht gewählt. Die CDU hat fast die absolute Mehrheit erzielt, ihr geborener Koalitionspartner FDP dagegen wurde vom Wähler aus dem Parlament geworfen. Parteien werden gewählt (oder nicht gewählt) und Koalitionen werden nach der Wahl von Parteien gebildet, ohne daß der Wähler noch einmal bestätigend oder korrigierend eingreifen könnte. Und: Koalitionen werden normalerweise von den Parteispitzen abgesegnet. Den Vorständen. Mitunter auch von Parteitagen oder anderen Zirkeln. Beteiligt sind mithin zwischen wenigen Dutzend Parteioberen und wenigen Hundert Delegierten. Und nun soll eine Befragung von allen Mitgliedern einer Partei, vierhundertsiebzigtausend an der Zahl, demokratische Regeln und Standards verletzen? Geht’s noch? Die scheuklapprig-schludrig geführte öffentliche Debatte ist kein Meisterstück politischer Argumentationskunst. Allzu durchsichtig die partikularen Interessen.

 

Der Wähler, das unbekannte Wesen

Was weiß man eigentlich schon vom „Wähler“? Selbst in Zeiten hochausgeklügelter demoskopischer Verfahren bleibt „der Wähler” ein eher unbekanntes Wesen, ausgestattet vielleicht mit einer gewissen Portion List oder Tücke, womöglich sogar Häme. Vielleicht weiß man von seinem Gegenstück, dem “Nicht-Wähler“, doch mehr. Der Nicht-Wähler verweigert sich einfach, ignoriert den politischen Betrieb, verweigert sich Gesellschaft, Krise oder Gemeinwohl, entledigt sich gesellschaftlicher Verantwortung, indigniert bis angeekelt. Der Wähler hingegen gibt Rätsel auf. Den Politikern, den Parteien, den Medien, auch den Bürgern, dem Gemeinwesen. Innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte hat er, der “Wähler”, in der Bundesrepublik und den Bundesländern ein Fünf-Parteien-System etabliert. Und damit dem Politikbetrieb eine komplizierte Aufgabe vorgelegt. Rot-Grün, Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, die ehedem so einfachen Antworten auf ein Votum des Wählers, funktionieren heutzutage nicht mehr. Das politische System in der Bundesrepublik muß sich auf kompliziertere politische Mehrheitsfindungsmechanismen einlassen, auf risikoreichere Konstellationen, auf bislang Undenkbares und Ungedachtes. Die simplen Antworten sind von gestern. Rote-Socken-Kampagnen oder der Verweis auf die extremistische Natur der Linken sogar von vorgestern. Nach der NRW-Wahl von gestern ist eine linke Partei jenseits der SPD heute und morgen Realität in den deutschen Parlamenten. Weil der Wähler das so will. Der Wähler ist der Souverän, der, der über allen steht,  der Inhaber der Staatsgewalt. Koalitionen von drei Parteien werden zur Normalität werden (müssen), ob die Parteien das nun so haben wollten oder nicht. Rot-Rot-Grün wäre also eine mögliche Lösung der vom Wähler gestellten Aufgabe. Warum auch nicht? Die Linke ist nicht regierungsfähig. Na klar. Die Linke wird so lange nicht regierungsfähig sein und bleiben, so lange sie nicht in entsprechende vertragliche Vereinbarungen eingebunden werden wird. Koalition bedeutet doch, daß keine Partei ihre politischen Wünsche und Zielsetzungen ungekürzt in Regierungshandeln umsetzen kann. Das Wesen der Koalition ist Kompromiß und Absprache. Das aber setzt rationales politisches Handeln voraus. Was will ich, was willst du, was können wir gemeinsam bewerkstelligen? Aushandeln von Interessen. Was gebe ich auf keinen Fall preis, was ist für dich auf keinen Fall verhandelbar, worauf können wir uns einigen? Die Frage ist also: Gibt es zwischen SPD, Grünen und Linken einen gemeinsamen Kernbestand politischer Ziele in der Landespolitik? Könnte man sich für eine Legislaturperiode auf eine gemeinsame Bildungspolitik, eine gemeinsame Forschungs- und Hochschulpolitik, eine gemeinsame Industrie- und Arbeitsplatzpolitik, auf eine sinnvolle Finanzierung der Kommunen einigen, um nur einige Beispiele zu nennen? Ich frage mich, warum das bei Rot-Grün möglich sein sollte oder im Zweifel gar bei Rot-Schwarz, bei Rot-Rot-Grün indes auf keinen Fall. Die Zeiten, in denen Rot-Grün ein “Projekt” war, diese Zeiten sind erledigt. Überhöhungen jedweder Art haben sich überlebt. Rot-Grün ist so wenig ein Projekt, wie Rot-Rot-Grün je eines hätte sein können. Es geht um weniger und um mehr. Es geht um rationale Politik, um die Definition der eigenen Interessen, um den Abgleich mit den Interessen anderer, um die rationale Einschätzung dessen, was in einer mehrheitsfähigen Parteienkonstellation durchsetzbar ist und was nicht. Und es geht darum, das Votum des Wählers ernster zu nehmen, als dies bislang die Parteien vermochten. Rot-Gelb-Grün, die “Ampelkoalition”, ist eine andere denkbare Drei-Parteien-Konstellation. Ampel geht gar nicht, sagt die FDP. Warum sollte eine solche Koalition nicht zum Wohle des Landes arbeiten können? Ist ein gemeinsamer Zielkatalog in der Bildungspolitik, in der Hochschulpolitik, in anderen Politikfeldern zwischen Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen wirklich undenkbar? In Rheinland-Pfalz koaliert die FDP mit der SPD. Im Saarland die Grünen mit FDP und CDU. Warum soll in Düsseldorf undenkbar sein, was in Mainz oder Saarbrücken funktioniert. Die Parteien müssen sich nur in Bewegung setzen. Die FDP muß sich bewegen. Der Wähler will das so. Er hat das Steuersenkungsmantra abgestraft. Er hat die babylonische Verkettung mit der CDU abgestraft. Eine moderne liberale Partei wird nach dieser Wahl neu zu überlegen haben, wie eng oder wie breit man liberale Politik anlegen muß, wie sehr man sich nur einem kleinen Klientel hingibt oder wie die sozialen Wurzeln des Liberalismus wieder belebt und in politisches Programm übersetzt werden können. Eine moderne liberale Partei wird auch daran gemessen werden, vom Wähler, daß sie nicht alles dem freien Spiel der Kräfte überlassen wird, dem Markt, daß sie die unkontrollierte Macht des Finanzkapitals zu bändigen bereit sein wird. Das Soziale, das Gemeinwohl wird eine größere Rolle im liberalen Gedankengut spielen müssen als in den vergangenen Jahren, die Einsicht, daß der Markt nicht alles zu regeln imstande ist, daß die Menschen ein starkes Gemeinwesen, einen handlungsfähigen Staat dringend benötigen. Der “Wähler” hat Antworten gegeben auf das Angebot der Parteien. Listig und irgendwie hintersinnig. Nun liegt der Ball im Spielfeld der Parteien.

Ausschließeritis

Geht es Ihnen auch so? Die drei in so kurzen Abständen aufeinanderfolgenden Wahlen, Europa, Kommunalwahl und jetzt Bundestag, machen selbst den geneigtesten Beobachter politischer Vorgänge mürbe. Ich hatte mir fest vorgenommen, zur Wahl am kommenden Sonntag eigentlich nichts mehr zu sagen oder zu schreiben. Allein: Es geht nicht.

Ist nicht die hohe Kunst der Politik der Kompromiß? In Zeiten, in denen absolute oder überwältigende Mehrheiten nicht mehr zu erwarten sind, nicht nur die hohe Kunst, sondern auch Erfordernis des politischen Alltags. Lernen Kinder in der Schule nicht im Politikunterricht, der Gesellschaftslehre, der Sozialkunde, wie immer das Fach auch heißen möge, und sei es im Deutschunterricht, daß alle demokratischen Parteien untereinander kompromiß- und koalitionsfähig sein müssen? Klar!

Was erzählen wir jungen Menschen? Wahlkampf sei der Wettstreit der Ideen. Wahlprogramme seien Vorschläge der Parteien an die Bürger. Und wenn sie Mehrheiten bei den Wählern finden, sollten sie umgesetzt werden. Wenn nicht, dann nicht. Weiterlesen