Monat: Dezember 2019

Verfassungswidrig

Wenn ich wie die AfD das Volk so definiere, dass es weiß und christlich ist und schon die Großeltern hier geboren sein müssen, dann ist das nicht mit unserem Grundgesetz vereinbar. Für die deutsche Staatsbürgerschaft ist die Herkunft völlig egal! Oder welcher Religion man angehört! Muslime nicht zum „deutschen Volk“ zu zählen, ist verfassungswidrig. (…)

Im Grunde brauchen wir das „Volk“ nicht mehr. Der Ausdruck passt nicht in unsere weltumspannende Wirklichkeit. In Diskussionen merke ich aber, auf wie viel Widerstand und Kritik das stößt. Das Prinzip der Volkssouveränität ist halt die Grundlage moderner Verfassung. Aber entzaubern sollte man den Begriff des Volkes schon. (…)

Das Volk ist vielfältiger und bunter, als die Rechte uns weismachen will. Es ist keine ethnisch homogene Gruppe. Das Gemeinwohl der vielen Individuen mit unterschiedlicher Herkunft und Erfahrung kann nicht „völkisch“ oder national-sozial bestimmt werden. (…)

Lieber sollten wir dem Begriff das Pathos nehmen! Da passt durchaus ein Zitat von unserer Bundeskanzlerin: „Das Volk sind alle, die hier leben!“(…)

Ich jedenfalls möchte lieber in einer solidarischen Gesellschaft freier und gleicher Menschen leben als in einem „Volk“.

Michael Wild, Volk ist unnötig, in: Der Freitag: Historiker Michael Wildt rät zur Abschaffung eines so nebulösen wie schwierigen Begriffs. Interview mit Dorian Baganz, Ausgabe Fünfundvierzig in Zweitausendundneunzehn

Die einfache Frage: Wer war’s?

Ein paar Fragen, nicht zum Selbstmitleid, vielmehr zur Aufklärung im Gespräch mit Rechten, dort, wo nicht nur Gebrüll und Taubheit herrschen: Wer war verantwortlich für die Verheerung Deutschlands, für Millionen ermordete Juden, für Millionen eigene Kriegstote, für die Zerstörung der schönsten Städte, für Millionen Flüchtlinge, für den Verlust etwa eines Drittels des einstigen Landes, für die Ermordung oder Vertreibung vieler der besten Wissenschaftler, Künstler, Mediziner, Journalisten, Lehrer, Handwerker?

Wer hat nicht etwa nur andere Länder überfallen und unzählige Menschen dort getötet? Wer hat mit diesem Unheil begonnen, ohne das Europa und der Welt wohl auch folgende Diktaturen und Versehrungen erspart geblieben wären? Es war der nationalsozialistische Fanatismus und Rassismus, mit dem ein Teil der Deutschen ein Menschheitsverbrechen zuerst am eigenen Volk und dann an anderen Völkern begangen hat. Hitler war’s, aber nicht er allein.

Peter von Becker, Damit die AfD nicht zum Abstieg für Deutschland wird, in: Tagesspiegel vom sechsundzwanzigsten Dezember Neunzehnhundertneunzehn

Novembernacht

Schreib, schreib.
Es ist besser
als der Nebel und alles
Nirwana.

Schreib. Die Frauen kommen
später, wenn du mit dem
Gesicht auf den Tasten liegst.
Schreib.

Aller Blues & Rock’n Roll
weht vorbei, du kennst
das. Wie der Südwind
in Istanbul
bevor es schneit.
Schreib, Amigo, schreib.

Such nach Strandgut, nach
tristen Seelen nicht,
sie kommen zu dir.
Füll dein Papier
mit all ihren schattigen
Träumen, schreib.

Sie kommen, sie gehen,
halt sie nicht fest.
Sinnlos, deine Nacht
auf ihren Zungen zu
suchen. Sie
kommen, sie
gehen.

Schreib, und später
Schnaps
und Schlaf,
und wenn’s gut war,
ein leichter
Schlaf, wenn’s gut war.
Schreib.

Jörg Fauser, 1944 – 1987

Einbettender Liberalismus

Der Dynamisierungsliberalismus ist in den vergangenen Jahren in eine grundsätzliche Krise geraten. Jetzt stehen wieder Regulierungsprozesse an im Hinblick auf soziale Ungleichheit und Infrastruktur, aber auch kulturell in Fragen des Gemeinwohls. Der Populismus bedient diese Regulierungsbedürfnisse in mancher Hinsicht sehr geschickt, aber eben in Form der antiliberalen Schließung, mit einer protektionistischen Wirtschaft à la Trump und einer homogenen Nationalkultur. Wenn der Liberalismus sich dagegen behaupten will, muss er selbst regulativer werden, eine Art einbettender Liberalismus, der die Dynamisierungsgewinne der Globalisierung und der kulturellen Heterogenität bewahrt, aber neu reguliert.

Andreas Reckwitz, „Auf nichts verzichten“, Interview mit Ulrike Baureithel, in: Der Freitag, Ausgabe Einundfünfzig in Zweitausendundneunzehn

Z wie Zeugen

Es war der Erfinder des Slappings, des Schlagens mit dem Daumenballen auf die Saiten des E-Basses, der Prince zu den Zeugen Jehovas brachte. Larry Graham, Bassist bei Sly & The Family Stone und Chef bei Graham Central Station, einer Band, die Prince sehr beeinflusste.

Nach einem After-Show-Konzert in Nashville bat ihn Prince auf die Bühne und die beiden spielten zusammen, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Graham zog sogar mit seiner Familie nach Minneapolis und las nächtelang mit Prince in der Bibel, wo der offenbar die Antworten auf all seine Fragen fand. Graham bestätigte in einem Interview, dass sie beide mit dem „Wachturm“ von Haus zu Haus zogen, um die Leute in religiöse Gespräche zu verwickeln. Wenn die Zeugen bei mir vor der Tür stehen, fehlt da leider der gewisse Kick, den Prince sicherlich ausgelöst hätte. 

Marc Ottiker, in: Der Freitag, Ausgabe Neunundvierzig vom fünften Dezember Zweitausendundneunzehn. Das A bis Z in dieser Ausgabe steht unter dem Titel: “Bekehrte”.

„ Katastrophen-Kommentarismus„

Weil sich viele JournalistInnen in ihrem Katastrophen-Kommentarismus zu #Eskabolation geradezu beängstigend einig sind, wirkt es wie ein kleiner stiller Wettbewerb, in dem es darum geht, die dramatischste Kassandra-Haltung an den Tag zu legen, ohne eine gekonnte Kenner-Pose vermissen zu lassen. Diese überzeugte Einstimmigkeit ist vor allem deshalb bemerkenswert, da hier mit nostradamischer Gewissheit die Zukunft der SPD nun nicht mehr nur vermutet, sondern selbstsicher gewusst wird, obwohl der Wahlsieg von Esken und „Nowabo“ offenbar zuvor in den Kristallkugeln und vorgefertigten Textbausteinen der BerichterstatterInnen nicht aufgetaucht war.

Der seltsam passiv-aggressive Sound der Stücke ist um keinen defätistischen Superlativ verlegen und klingt stellenweise, als sei man eingeschnappt darüber, dass die Wahl anders ausging, als man es empfohlen oder vorhergesagt hatte; kompensatorisch dafür, dass man wie Christian Lindner von dem Ergebnis übertölpelt wurde, musste es jetzt erst recht ins Katastropheske hinabgeschrieben werden – denn wenn man schon falsch lag, dann wenigstens bei etwas, wo alle blöd dastehen.

Samira El Quassil, Apokalyptische Writer, in: Über-Medien vom zweiten Dezember Zweitausendundneunzehn

“Was fehlt, sind Fachwissen, Souveränität, handwerkliche Fähigkeiten im Interview”

Die Talkshow-Kultur bei ARD und ZDF, über die ja nun auch alles gesagt ist, hat die anderen journalistischen Formen ohnehin komplett an den Rand gedrückt. Und dass diese Talkshow-Struktur den Aufstieg der AfD in der Bundesrepublik mit begünstigt hat, steht für mich als Medienforscher außer Frage. Natürlich gibt es kardinale Ereignisse wie die „Wiedervereinigung“ oder die Wahl Berlins zur Hauptstadt, die hier für politische Entwicklungen ursächlicher waren; aber man muss ja mit den Rundfunkbeiträgen der Bürger nicht noch als Verstärker wirken. Es bringt aber auch nichts, wenn ein paar „linke“ ARD-Journalisten dagegen erregt antwittern. Da hätten sie sich schon mal früher in ihren Anstalten bemerkbar machen müssen. 

(…)

Ohne da einen direkten Vergleich ziehen zu wollen – bei der Berichterstattung über die AfD spürt man bei einigen Journalisten durchaus die Befürchtung: Wenn die noch stärker werden und was zu sagen haben, was wird dann aus mir? Das haben sich damals auch viele gefragt von den sogenannten bürgerlichen Journalisten. Es ist ja nicht so, dass zum Beispiel im öffentlich-rechtlichen Fernsehen harte rechtskonservative Parteigänger ungewöhnlich waren: Willibald Hilf, Intendant des früheren Südwestfunks, Wolf Feller, Fernsehdirektor beim Bayerischen Rundfunk und ein beinharter CSU-Mann, Deutschlandfunk-Intendant Edmund Gruber, natürlich Gerhard Löwenthal beim ZDF – sie alle standen in den 1970er und 1980er Jahren für solche Positionen. Das hat natürlich die Fronten verhärtet, aber das konnte man gut aushalten. Doch das war sehr viel kenntlicher, man wusste, dass die so waren. Bei den TV-Journalisten, bei denen man das heute vermuten kann, ist das alles hinter einer Fassade der Pseudo-Harmlosigkeit oder Unbedarftheit verborgen.

 (…)

Was fehlt, sind Fachwissen, Souveränität, handwerkliche Fähigkeiten im Interview – wobei die Schwächen bei der ARD noch etwas stärker ausgeprägt sind als beim ZDF. Man würde sich da lieber irgendwelche Live-Kanäle ohne Kommentar anschauen, wo die Politiker direkt etwas in die Kamera sagen, als diesen Statisten, die Pseudo-Fragen stellen, noch irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Man hat das Gefühl, die Berichterstattung besteht zum einen aus Zahlensalat und zum anderen aus hilflosen Interviewern. An solchen Wahlabenden wird deutlich: Dem öffentlich-rechtlichen Politikjournalismus würde nur ein härtestes Weiterbildungsprogramm weiterhelfen. Doch ich fürchte, im real existierenden System ist es dafür wohl zu spät.

Lutz Hachmeister, „Dieser Diskurs hat keinen Anspruch auf mich“. Ein Gespräch mit dem Medienforscher und Filmemacher Lutz Hachmeister, in: Medienkorrespondenz. Von René Martens, Erster Dezember Zweitausendundneunzehn