Schlagwort: Carolin Emcke

Zuhören, ein subversiver Akt

“Zuhören ist Hören in Verbindung mit Denken und Konzentration”, sagte einmal Daniel Barenboim im Gespräch mit Evelyn Roll für die Süddeutsche Zeitung, “die meisten Menschen können das gar nicht mehr. Sie machen keinen Unterschied zwischen Hören und Zuhören.” Hören, das wäre einfach nur, die Geräusche oder Töne wahrzunehmen – Zuhören verlangt dagegen ein Sich-Einlassen auf das, was zu hören ist, was gespielt oder gesagt wird, und es verlangt, das Gehörte gedanklich mit nachzuvollziehen. Erst durch das Zuhören tritt das Eigene für einen Augenblick zurück und öffnet sich für ein neues Thema, einen neuen Gedanken, eine neue Welt. Das Zuhören impliziert die Bereitschaft, sich auf die Gedanken, die Interpretation, die Perspektive eines anderen einzulassen. Ohne umgehenden Widerspruch. Ohne die Anmaßung, es prinzipiell besser zu wissen. In Zeiten, in denen eine fragmentierte Öffentlichkeit vor allem das möglichst laute, möglichst enthemmte Propagieren der eigenen Überzeugungen fördert, in denen alle sich selbst ernst nehmen, aber nicht mehr den anderen, ist das Zuhören schon fast ein subversiver Akt. Und eben nicht allein, sondern mit anderen zusammen sich auf etwas zu konzentrieren, auch das ist selten geworden, seit die Bedingungen und Möglichkeiten des gemeinsamen Erlebens einer gemeinsamen Welt ausgehöhlt wurden.

Carolin Emcke, Kolumne: Zuhören, in: Süddeutsche Zeitung vom dreißigsten Juli Zweitausendundsechzehn

Sich-selbst-erfüllende Ohnmacht

(…) Man wagt kaum noch, den Fernseher einzuschalten oder Twitter zu benutzen. Alles wirkt zu schrill, zu irrational, zu wahnwitzig. Vor allem zu schnell. Dauernd drängt es einen, den Verlauf der Geschichte entschleunigen zu wollen. Dauernd möchte man die Gegenwart unterbrechen und zurückkehren an jenen Punkt in der Vergangenheit, an dem man noch meinte, etwas verstanden zu haben. Oder an dem es politisch noch nicht ins Irreale abgedriftet war. Aber wann war das? Wann waren sich denn Kolumnistinnen wie ich sicher, dass es zu einem Brexit kommen könnte? Am Tag des Brexit? Wann ahnte ich denn, dass Erdoğan endlose Listen für die jetzige Hexenjagd anfertigen lassen würde? Am Tag als Zigtausende Richter, Lehrer, Akademiker suspendiert und entlassen wurden? Wann verlor der öffentliche Diskurs in den USA jede Scham und jeden Bezug zur Wirklichkeit? An dem Tag, an dem die Delegierten auf dem Parteitag der Republikaner in Cleveland im Chor forderten, Hillary Clinton ins Gefängnis zu werfen? Allein, dass das Niveau zwischenmenschlicher Brutalität nicht mehr nur die Zuspitzung eines Mediums ist, sondern Tiefpunkt des Niveaus der Wirklichkeit – das ist gewiss. Dabei verwirrt die Gegenwart nicht dadurch, dass die politischen Akteure ihre Absichten oder Taten zu verbergen suchen, sondern im Gegenteil dadurch, dass sie noch die menschenverachtendste Maßnahme oder Vision ganz offen darbieten. Das ist eine ganz eigene Form der Demagogie: eine, die sich nicht verstellen will, sondern mit selbstbewusster Boshaftigkeit phrasen- und bildmächtig für sich wirbt. Das macht das passive Zuschauen in Echtzeit so verstörend. Es lässt sich ja nicht behaupten, die Wirklichkeit würde vor einem verborgen. Nicht einmal Gewalt wird verheimlicht. Die malträtierten Körper, die blutigen Gesichter der Verhafteten in der Türkei zu sehen, die im Fernsehen vorgeführt werden als sei das eine zivilisatorische Leistung, Menschen schlagen und verletzen zu können – das ist gespenstisch. Noch gespenstischer sind eigentlich nur die verhaltenen Phrasen europäischer Politikerinnen und Politiker, die sich anscheinend nicht verhalten wollen zu dem Geschehen und so tun, als könnten sie sich nicht dazu verhalten. Eine Art sich-selbst-erfüllende Ohnmacht. (…)

Carolin EmckeKolumne. Unwirklich, in: Süddeutsche Zeitung vom zweiundzwanzigsten Juli Zweitausendundsechzehn

Das populistische Lob der Torheit

(…) Auch in England oder Frankreich, den Niederlanden oder Deutschland ist jener anti-aufklärerische Gestus en vogue, der absichtsvolle Ignoranz als Instrument der politischen Selbstvermarktung nutzt. So gerieren sich Politikerinnen und Politiker der neuen Rechten oder der Europa-Skeptiker als anti-elitär, als volksnah und hyper-authentisch – dabei verstehen sie unter Volksnähe lediglich das Leugnen von Tatsachen und das Verschlichten der Welt. Die Wirklichkeit wird zu geistiger Babynahrung verrührt, damit sie sich in möglichst unterkomplexen, aber wohlklingenden Erzählungen darbieten lässt. Wenn ökologische, ökonomische oder soziale Realitäten der Simplifizierung entgegenstehen, werden sie einfach geleugnet und durch leichter verdauliche Lügen ersetzt.(…) Nachdenklichkeit und Sachkunde werden als angebliche Signaturen einer faulen Bildungselite denunziert (als wäre Bildung ohne brutalen Fleiß zu haben). Dabei zeugt es ja gerade von der erstaunlichen Menschenverachtung der Populisten, Dummheit für prinzipiell volksnäher zu halten als Intelligenz und Bildung. (…) Es ist nicht cool, ignorant zu sein. Es ist einfach nur ignorant. Es ist auch nicht hip, rassistisch und verlogen zu sein. Es ist einfach nur rassistisch und verlogen. Es ist nicht mutig, gegen Migrantinnen und Migranten oder gegen Intellektuelle oder gegen Europa zu hetzen. Es ist nur Hetze. Die komplexe Wirklichkeit verschwindet nicht, nur weil Populisten sie leugnen. Die Globalisierung löst sich nicht auf, nur weil jemanden die Kontrolle über die eigenen Grenzen verspricht. Die unangenehmen Wahrheiten werden nicht weniger wahr, nur weil Populisten sie nicht aussprechen. Moralische Argumente verlieren nicht ihre Gültigkeit, nur weil Populisten sie als “politisch korrekt” diffamieren. Vor allem aber: Populisten werden nicht ehrlicher, nur weil sie Volksnähe simulieren. Populisten, vielleicht ist das endlich mit dem verantwortungslosen Gebaren der britischen Brexit-Aktivisten deutlich geworden, nehmen nicht die “Sorgen der Menschen” ernst. Sie nehmen nicht einmal Menschen ernst. Am allerwenigsten die “einfachen Leute”. Sie dienen ihnen nur als Spielfiguren in einem Spektakel, das sie aufführen, solange es sie allein amüsiert.

Carolin Emcke, Kolumne: Torheit, in: Süddeutsche Zeitung vom achten Juli Zweitausendsechzehn

Carolin Emcke: Angst und Zorn

Zur Angst gesellt sich bald der Zorn. Aber das macht es nicht besser. Zorn auf die salafistischen Ideologen, die diese Erzählung aus Tod und Zerstörung so metaphysisch überhöht haben, dass junge Menschen an sie glauben (oder glauben wollen), auf die dschihadistischen Rekrutierer, die mit ihren Filmen, ihrer Poesie, ihrer Ansprache, ihrem Geld tatsächlich junge Europäer anlocken und aufs Töten programmieren, Zorn auf diejenigen, die ihnen folgen, die eine freie Gesellschaft offensichtlich überfordert, in der sie selbst darüber nachdenken müssen, wie sie leben wollen, die eine machistische Ordnung der Gewalt für einen Ausweg aus ihrem trostlosen und anscheinend sexfreien Leben halten, überhaupt: Zorn auf dieses ekelerregende Phantasma der wartenden Jungfrauen als Belohnung fürs Morden (als sei eine Frau ein militärischer Orden, der ans Revers geheftet wird), Zorn auch auf die hofierten Höfe in Saudi-Arabien oder Katar, die zugelassen haben, was sich nun weltweit entlädt, Zorn schließlich auch auf den Beitrag, den unsere eigenen Gesellschaften dazu geleistet haben, dass es im Leben dieser Menschen ein soziales Vakuum gibt, in das sich die Ideologen einnisten können. Aber im Zorn wie in der Angst erfüllt sich nur die Absicht des Terrors. Und wer will schon zu dem deformiert werden, was Terroristen wollen, das man sei? Zorn wie Angst beschädigen jeden. Sie rauben einem die Mündigkeit, frei zu denken und zu leben. Im Zorn wie in der Angst werden wir den Terroristen nur ähnlicher. Zorn wie Angst unterwandern unser Vertrauen in andere, ohne das eine Gesellschaft nicht existieren kann. Es lässt sich nicht leben in einer Welt, in der permanent misstraut wird, in der permanent damit gerechnet wird, belogen oder verletzt zu werden. “Wenn man sich nicht darauf verlassen kann, dass der andere einen nicht umbringt”, schrieb der britische Philosoph Bernard Williams in “Wahrheit und Wahrhaftigkeit”, “kann man sich erst recht nicht darauf verlassen, dass er sein Wort hält.” Vielleicht ist es das, was ich mir am wenigsten nehmen lassen will: das Vertrauen in andere. Die grundsätzliche Unterstellung, dass mich der oder die andere nicht verachtet, nicht missbraucht, nicht verletzt. (…) Die historische Erfahrung des Terrors lehrt, dass die Gewalt erst dann nachlässt, wenn es keine Claqueure mehr gibt, wenn das geifernde, applaudierende Publikum verstummt. Erst wenn es keine Anerkennung mehr gibt für die Gewalt, keinen obszönen Ruhm, wenn der Terror nicht mehr als Eintrittskarte zu einer Gemeinschaft funktioniert, wird der Sog nachlassen. Erst wenn die Sympathisanten der Gewalt ihren Zuspruch verweigern, verliert sie auch ihre symbolische Macht. Dazu gehört auch, dass diejenigen, die von Muslimen nichts anderes als Terror erwarten, sich befragen, wozu ihr Generalverdacht führt. Die Missachtung von Muslimen im Kollektiv fördert eben jene soziale Ausgrenzung, derer sich die Radikalen anschließend bedienen. Insofern wird es auch darauf ankommen, ob wir in Europa es schaffen, die attraktivere Erzählung, die inklusivere Gemeinschaft, die sinnvollere Utopie, das gerechtere, gute Leben anzubieten. Wem sein eigenes Leben wertvoll ist, der wird es nicht mordend wegwerfen wollen.

Carolin Emcke, Kolumne: Angst, in: Süddeutsche Zeitung vom sechsundzwanzigsten März Zweitausendsechzehn

Aus(sen)grenzen

Außengrenzen, die ganz außen liegen, Außengrenzen, die irgendwie innen liegen, aber gegen ein Außen sichern sollen, Registrierzentren, aus denen die Menschen verteilt werden sollen auf Staaten, die sie nicht wollen und sich weigern, sie aufzunehmen, sodass aus “Hotspots” eher “Coldspots” werden, Zäune, die mehr ein- als ausschließen, weil das Innen immer kleiner wird, je mehr Länder sich gegeneinander abriegeln. Eine gigantische Illusionsmaschine ist in Europa in Gang gesetzt worden, die im Rückfall in Nationalstaatlichkeit eine Sicherheit verspricht, die diese in Zeiten der Globalisierung und wechselseitiger ökonomischer Abhängigkeit nicht wird garantieren können. Abschottung bedeutet keine Stabilität, Abschottung bedeutet nur Abschottung.

Carolin Emcke, Planen, in: Süddeutsche Zeitung vom zwanzigsten Februar Zweitausendundsechzehn

Singular

Was es braucht als zivilgesellschaftliche Reaktion, ist stattdessen ein Plädoyer für den Singular, für das abweichende Individuelle, das einzigartige, zarte Subjektive, nicht zuletzt, weil es das ist, was dem terroristischen Wahn am meisten widerspricht. Es braucht ein Europa, das sich nicht aufspaltet in Muslime und Nicht-Muslime, sondern eines, das sich auffächert in eine unüberschaubare Vielfalt an einzigartigen, eben singulären Wesen mit einer unüberschaubaren Vielfalt an Eigenschaften jenseits von Herkunft und Glauben. Singuläre Individuen, die auf ihre je eigene Weise glauben, lieben, trauern; die furchtlos oder furchtsam weiterleben, die zustimmen oder widersprechen, und die sich nicht um jeden undemokratischen Preis wappnen wollen, weil eine dünne Haut vielleicht nicht schützt, aber auch nicht unempfindlich macht. Das Singuläre ist keineswegs einfach bloß das egoistisch Einzelne, es beinhaltet und bedingt das Mit- und Füreinander. Das Individuelle, von dem hier die Rede ist, lebt nicht einfach bloß isoliert oder asozial, es sieht sich immer schon anderen Individuen gegenüber, an denen die eigenen Perspektiven und Wünsche sich brechen oder spiegeln. “Das Singuläre ist von vornherein jeder Einzelne, folglich jeder mit und unter allen anderen”, schreibt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy in “Singulär plural sein”. Also: “Das Singuläre ist ein Plural.” Nur wenn dieses vielfältige Singuläre geschützt und gefördert wird, kann ein Miteinander gelingen. Nur wenn nach wie vor jede Form des individuellen Einspruchs und Zweifels nicht nur gestattet, sondern erwünscht ist, ohne gleich der Verharmlosung von Terrorismus bezichtigt zu werden, kann die offene, plurale Gesellschaft geschützt werden. Und zu guter Letzt: Nur wenn das reflexhafte Einfordern von kollektiver Einigkeit wieder abebbt, werden auch jene Jugendlichen wieder als einzigartige Individuen wahrnehmbar, die sich womöglich noch ansprechen und abbringen lassen von der manipulativen Einladung der Dschihadisten, die Anerkennung und Sinn versprechen, wo nur Tod und Zerstörung warten. Auch sie können und müssen zu jenem singulären Plural gehören, der Europa ausmacht.

Carolin Emcke, Singular, in: Süddeutsche Zeitung vom einundzwanzigsten November Zweitausendundfünfzehn

Irren

In Zeiten wie diesen, in denen der öffentliche Diskurs durch eine zunehmend enthemmte Aggression vergiftet wird, tut es gut, sich der eigenen Anfälligkeit für Irrtümer gewahr zu bleiben. Wenn die absolute Wahrheit für uns nicht zu haben ist, wenn es uns nur möglich ist, “Wahrheitsähnliches” zu erblicken, dann sollten sich manche dogmatischen Ideologien, manche finsteren Tonlagen, manch scharfer Angriff auf Andersdenkende erübrigen. Die Bereitschaft, den kritischen Zweifel nicht nur gegen andere, sondern auch gegen eigene Eindrücke und Überzeugungen zu richten, schwächt keineswegs die eigene Position, sondern schützt hoffentlich vor verletzenden Grobheiten und verfeinert gleichzeitig die Gründe, die für die eigenen Ansichten angeführt werden. Sich zu fragen, was gegen die eigenen Überzeugungen spricht, eigene Widersprüche oder Ambivalenzen aufzufächern, hilft vielleicht, sich dem Wahrheitsähnlichen zu nähern. Meine Klavierlehrerin aus Kindertagen hat mich einmal ermahnt mit dem stilprägenden Satz: “Wenn du schon falsch spielst, dann wenigstens präzis.” Sich zu verspielen, das war ihrer Auffassung nach tolerabel, aber ungenaues Haspeln, das war unverzeihlich. Manchem, der sich auf der Straße, in Gesprächssendungen oder im Parlament äußert, möchte man eine solche Klavierstunde empfehlen. Vielleicht würde es helfen, zu einem zivilisierteren Miteinander zurückzufinden.

Carolin Emcke, Irren, in: Süddeutsche Zeitung vom vierzehnten November Zweitausendfünfzehn

Kultur des Miteinanders

Wenn wir die Mitte der Gesellschaft stabilisieren wollen für eine Kultur des Miteinanders, werden wir das Sprechen wieder üben müssen. Langsam und behutsam. Das Sprechen miteinander, das einen Sinn ergibt, das mit Gründen und nicht bloßen Gefühlen unterlegt ist, und das den Plural, in dem wir existieren, nicht leugnet, sondern anerkennt. Es kommt nicht darauf an, was “man wohl noch mal sagen darf”, sondern was im Sprechen einen Sinn ergibt. Nicht nur für einen selbst, sondern auch für die anderen.

Carolin Emcke, Schäbige Gefühle, in: Süddeutsche Zeitung vom vierundzwanzigsten Oktober Zweitausendundfünfzehn