Nein, Joachim Gauck war nicht mein Kandidat. Ich habe ihn nicht ausgewählt und ich hätte ihn nicht gewählt. Für Beate Klarsfeld hätte ich votiert. Frau, Antifaschistin, Moralistin, in der Tradition bürgerlicher Anständigkeit – das hätte dem Land gut zu Gesicht gestanden. Nun habe ich eben die erste Rede des Bundespräsidenten gelesen. Die erste Rede von Joachim Gauck als Bundespräsident ist gewiß keine sehr belastbare Basis für ein profundes Urteil. Dennoch: Sind wir nicht mit einigen der bisher zehn Bundespräsidenten schlechter gefahren als beim Elften? Selbst manch spätere Rede gewesener Präsidenten kann den Vergleich mit der ersten des amtierenden nur scheuen. Chapeau. Vieles von dem, was Gauck heute im Bundestag sagte, war nicht deutlich genug, vieles war auf den Konsens hin gesprochen, den es nach der massiven Kritik etwa in Blogs und anderen Netzpublikationen in Gang zu bringen galt. Die Wirkungskraft einzelner bekannt gewordener Äußerungen des Kandidaten sollte vom Präsidenten eingefangen und relativiert werden. Gleichwohl: Da hat Gauck in einer kurzen Rede die Geschichte (West-) Deutschlands nur gestreift und zugleich der Wiederaufbaugeneration und den Achtundsechzigern ihre jeweilige Bedeutung für Demokratie und Freiheit in Deutschland attestiert; er hat das vermeintlich Fremde im eigenen Land als Bestandteil unseres Kulturkanons gewertet; den Neonazis hat er eine entschiedene Abfuhr erteilt und den Konsens der Demokraten gegen Rechts befördert; selbst gegen die soziale Spaltung unseres Landes hat der gelernte Pfarrer angesprochen und den Sozialstaat rhetorisch verteidigt. Ganz ehrlich: Mit all dem hätte ich nicht gerechnet, nicht in dieser Form. Der Zweiundsiebzigjährige hat sich als lernfähig und beweglich erwiesen. Womöglich ist dieser Mann ein Gewinn für die Republik, wenn und solange er es vermag, sich der Indienstnahme durch gesellschaftliche Gruppen, einzelne Parteien, Macht- und Interessengruppen zu entziehen. Wenn er unabhängig ist, es bleiben kann, wenn er sein Vermögen einsetzt. Tiefe der Gedanken und sprachliche Kraft. Schon jetzt wird man sagen können, daß es sprachlich kaum bessere Präsidenten gab. Heuß war jovial und verschmurgelt, gab den Onkel der jungen Republik, Lübke, naja, Schwamm drüber, Heinemann war grundehrlich, aber ein wenig hölzern und eröffnete dem Land die Perspektive heraus aus der Adenauerschen Politik, Scheel hatte gute Laune, kaum mehr, Carl Carstens wanderte und sprach blödes Zeugs, Richard von Weizsäcker bleibt wegen des Diktums vom achten Mai als Tag der Befreiung im Gedächtnis, Roman Herzog beschwor den Ruck, wie, weiß man schon nicht mehr, und Johannes Rau hatte nach anfänglichen Schwächen durchaus das Zeug zur bewegenden Rede. Köhler und Wulff waren die Präsidenten, die das Land nicht verdient hatte. Gauck hat nach seiner ersten Rede mindestens schon sechs seiner Amtsvorgänger hinter sich gelassen. Mit einer Rede unter dem Titel: “Wie soll es nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel ‘Unser Land’ sagen sollen?” Nun denn: Ich sage es jetzt bereits: Dieses Land ist auch mein Land. Auf Enkel will ich nicht warten. Gauck ist also mein Präsident. Die Ausgrenzung nach dem Motto: “Dann geh doch nach drüben:”, die ich lange, lange habe genießen dürfen, funktioniert schon lange nicht mehr. Ich lasse mich aus meinem Land, meinem Gemeinwesen nicht mehr herausdefinieren, von niemandem. Dieses Land ist auch mein Land. In diesem Sinne ist der Präsident auch mein Präsident. Und vielleicht wird Joachim Gauck, wer kann es wissen, mehr als der Rhetor der Republik, der Lehrer der Beredsamkeit. Das jedenfalls ist er schon.
Schlagwort: Joachim Gauck
Wir
Der Demokratielehrer
Ein “Demokratielehrer” soll er sein, so Frank-Walter Steinmeier und Angela Merkel unisono über Joachim Gauck, den werdenden Bundespräsidenten. Nun, das werden wir erst noch sehen. Und ob die zehn Jahre in seiner Berliner Behörde eine Lehrzeit waren in Sachen Demokratie, bleibt fraglich. Jedenfalls hat die “Behörde” nicht unbedingt zum inneren Frieden des Landes beigetragen. Auffällig jedenfalls finde ich, daß die Medien, Zeitungen und Zeitschriften des Landes, anders, als etwa in Blogs oder anderen Veröffentlichungen zu lesen ist, unglaublich handzahm mit Gauck umgehen, milde, gütig, sanft, nachdem der gewesene Präsident ja regelrecht zerfleddert worden ist, mit Häme übergossen, verstoßen, von den gleichen Medien. Als lägen Welten zwischen zwei Präsidenten mit ähnlich konservativen Grundpositionen. Wer Lübke ausgehalten hat oder Carstens, wird auch Gauck ertragen können. Also wählt ihn. Aber macht Schluß mit dem Hype, mit der Gauckmania. Auch Gauck hat eine kritische Begleitung verdient.
Oh Graus
Da ist der neue Bundespräsident noch nicht gewählt – und was heißt in dem Fall der Nominierung durch fünf Parteien schon Wahl -, da verschaffen sie sich schon lautstark Gehör: die Vertreter der Aktion Saubere Höchste Familie. “Es dürfte wohl im Interesse des Herrn Gauck selbst sein, seine persönlichen Verhältnisse so schnell als möglich zu ordnen, damit insoweit keine Angriffsfläche geboten wird”, sagte der Bundestagsabgeordnete der CSU, Norbert Geis, der Passauer Neuen Presse. Und der SPD-Philosoph mit dem Zauselsbart, Wolfgang Thierse, attestiert dem Rechtsausleger der Bayernunion. Der Bundespräsident in spe lebt seit vielen Jahren ohne Trauschein mit einer Nürnberger Journalistin zusammen, oh Graus. Nein: Oh, Geis. Das kann im Deutschland des einundzwanzigsten Jahrhunderts mithin immer noch nicht sein, obwohl es Millionen Familien vormachen, daß nämlich Mann und Frau ohne Trauschein zusammenleben. Also, Herr Gauck, flugs zum Standesamt und die illegitime Verbindung in Ordnung bringen. Trauzeugen wären sicher gerne die Herren Thierse und Geis. Oh Graus.
Halbseiden
Gerade eben, auf der Fahrt zu Edeka, im Radio Deutschlandfunk gehört. Journal am Vormittag – Kontrovers. Eine politische Diskussion. Es ging, natürlich, um den Bundespräsidenten, um Wulff und Gauck. Jemand, ich glaube, es war der Politikprofessor Obermeier, sagte, die Amtszeit Wulffs sei so etwas gewesen wie der Einbruch des Halbseidenen in die Politik. Stimmt. Die Affairen waren, gemessen an Kohlschen oder Schäubleschen Dimensionen eher mickrig. Die Höhe der Beträge eher weniger aufregend. Halbseiden eben. Maschmeyer ist eben nicht Flick. Und Groenewold kein Rüstungskonzern. Ein Auto, ein Kredit, ein Bobbycar, die eine oder andere Übernachtung in einem Hotel, Urlaube und Ferienwohnungen. Keine Millionenspenden. Keine Riesenaufträge. Halbseiden. Der kleine persönliche Vorteil. Halbseiden ist auch eher die Debatte um die Wulffsche Pension, den Ehrensold. Man soll sie ihm lassen. Kann man sich wirklich vorstellen, daß ein Ex-Bundespräsident sich anstellen läßt, weil man ihm die zustehende Pension verweigert, etwa bei einem Energieunternehmen, bei Maschmeyer, in einer Anwaltskanzlei? Das sollte sich das Land, das sollten sich auch seine Bürger nicht antun. Zudem: Einhundertneunundneunzigtausend Euro Ehrensold im Jahr ist weniger, als so mancher Zweigstellenleiter einer Bank oder Sparkasse einstreicht. Wir sollten die Maßstäbe nicht ins Rutschen bringen. Ein Bundespräsident sollte eine auskömmliche Pension kassieren dürfen. Gleich, wie sehr er in seiner Amtszeit auch kritisiert wurde.
Zweite Wahl
Tja. Gauck. Jetzt, finde ich, ist er eher zweite Wahl. Wäre es nicht hohe Zeit für eine Bundespräsidentin gewesen? Zwar hat Gauck, was die beiden letzten Präsidenten eher nicht hatten: das Wort, die Sprache, auch Erfahrung, Lebenserfahrung. Aber kann er wirklich die gewachsene Kluft zwischen Politik und Gesellschaft, zwischen Parteien und Bürgern schließen, wenigstens ansatzweise? Ist er nicht doch, obwohl nicht parteipolitisch eingebunden, eher Vertreter der Macht, der aktuellen Variante des politischen Systems? Einer Gesellschaft, die vielfach geteilt ist. In oben und unten, in arm und reich, in mächtig und ohnmächtig, in sprachlos und einflußreich. Sein Thema, sein Lebensthema ist, natürlich, die Freiheit, die Freiheit des Einzelnen in einer bürgerlichen Gesellschaft. Und die freie, zivilgesellschaftliche Demokratie als Gegenentwurf zur Diktatur, zu vor- oder nachbürgerlichen Gesellschaften feudalen Charakters. Wenn die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft indes, wie derzeit, vor allem dazu führt, daß wenige ökonomisch immer mächtiger werden und immer mehr Menschen dagegen immer weniger haben und in wirtschaftlich prekären Verhältnissen leben müssen, dann ist es mit der Entwicklung unserer Gesellschaft in Richtung eines freiheitlichen Zusammenschlusses freier Bürger mit gleichen Rechte und Pflichten und gleichen Chancen für alle nicht wirklich weit her. Wenn immer mehr Menschen sich von den politischen Eliten lossagen, von Parteien, von Politikern, von Parlamenten, von Regierungen, wenn immer mehr Menschen eigene, neue Formen entwickeln, Interessen durchzusetzen, neue Kommunikationsmöglichkeiten nutzen und entwickeln, dann ist die bürgerliche Gesellschaft nicht wirklich entfaltet. Vom freien, freiwilligen Zusammenschluß freier Bürger, der Citoyens, zu einem Gemeinwesen, in dem Interessen offen ausgehandelt und Konflikte rational verhandelt werden, sind wir noch entfernt. Die bürgerliche Gesellschaft nahm ihren Anfang in der französischen Revolution gegen die feudale Adels- und Klerusgesellschaft. Das Motto für die Umwälzung lautete: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das ist und bleibt die Richtschnur für die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft. Freiheit ist Demokratie, demokratische Freiheit für Jedermann. Rechtsstaat, gleiches Recht für alle, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Religionsfreiheit, die Freiheit der Kunst, das Recht zur Teilhabe an der Politik, frei von Privilegien, frei von ökonomischer Macht. Aber ohne die beiden anderen Kriterien, Gleichheit und Brüderlichkeit, ist die Freiheit nichts. Gleichheit bedeutet Gleichheit vor dem Gesetz. Gleiche Bildungschancen. Gleiche Lebenschancen. Unabhängig vom Geschlecht, vom Alter, vom gesellschaftlichen Stand, vom Einkommen, vom Vermögen, von Religionszugehörigkeit, von der Hautfarbe, von der Herkunft. Brüderlichkeit. Ich mag dieses ältlich klingende Wort. Lasse mich aber auch ein auf die kirchlich geprägte Nächstenliebe oder die eher gewerkschaftlich gedachte Solidarität. Wenn freie Bürger sich zusammenschließen zu einem Gemeinwesen, dann muß jeder zu diesem Gemeinwesen beitragen. Der Starke stützt den Schwachen, der Reiche gibt mehr als der Arme. Die Menschen verhalten sich brüderlich zueinander. Und es regiert nicht, wie es der neoliberale Zeitgeist vorgibt, die Gier, das Geld, der Erfolg. Mein Auto, mein Haus, mein Schiff. Hast Du was, bist Du was. Das ist lediglich eine Gesellschaft zur Erzielung maximalen ökonomischen Reichtums, die Assoziation der Bourgeois, der Bürger als Wirtschaftssubjekte, die darwinistische Verkümmerung der bürgerlichen Gesellschaft. Achso, ja. Joachim Gauck. Von dem läse oder hörte ich solches gerne.
Jahn contra Gauck
Am kommenden Montag werden wir ihn wieder feiern, den Tag der Deutschen Einheit. Zum einundzwanzigsten Mal. Heute, nur wenige Tage vor den Fensterreden über die gewachsene Einheit zwischen Ost und West, hat die schwarz-gelbe Mehrheit im deutschen Bundestag eine achte Novelle des Stasiunterlagengesetzes gegen die Oppositionsparteien durchgedrückt. Anlaß: Der neue, der dritte Chef der Bundesbehörde für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, möchte fünfundvierzig seiner eintausendsechshundert Mitarbeiter loswerden. Allesamt ehemalige Mitarbeiter der Stasi. Eingestellt worden sind sie Anfang der neunziger Jahre vom ersten Behördenleiter, Joachim Gauck! Mit ihrer Hilfe sollten die komplizierten Register und kilometerlangen Aktenbestände besser erarbeitet und erforscht werden. Andere bekamen einen Job, weil sie als Fahrer oder Wachleute als relativ unbelastet galten. Doch nunmehr, 20 Jahre später, sollen die früheren Stasi-Mitarbeiter nicht mehr in der Bundesbehörde geduldet werden. Ein schwarz-gelbes Gesetz also, das rückwirkend langjährige Mitarbeiter stigmatisiert und diffamiert sowie die Entscheidungen der bisherigen Behördenleiter als Arbeitgeber dieser Mitarbeiter auf den Kopf stellt. Im Alleingang stellen FDP und CDU damit auch rechtsstaatliche Grundsätze auf den Kopf. Ich bin für die Einheit der Deutschen. Aber für eine Einheit, die die Leistungen der ehemaligen DDR-Bürger in den letzten einundzwanzig Jahren deutlich anerkennt. Und wenn sich die ehemaligen Stasimitarbeiter in der Jahn-Behörde nichts haben zuschulden kommen lassen, dann dürfen sie eben nicht vor die Tür gesetzt werden. Wieviele ehemalige Mitglieder von Blockparteien der DDR waren eigentlich an der heutigen Bundestagsentscheidung beteiligt?