Schlagwort: Gerechtigkeit

Gemeinwohl oder “Woran krankt der Kapitalismus?”

“Woran krankt also der Kapitalismus? Er krankt nicht allein an seinen Auswüchsen, nicht an der Gier und dem Egoismus von Menschen, die in ihm agieren. Er krankt an seinem Ausgangspunkt, seiner zweckrationalen Leitidee und deren systembildender Kraft. Deshalb kann die Krankheit auch nicht durch Heilmittel am Rand beseitigt werden, sondern nur durch die Umkehrung des Ausgangspunktes. An die Stelle eines ausgreifenden Besitzindividualismus, der das als natürliches Recht proklamierte potentiell unbegrenzte Erwerbsinteresse der Einzelnen, das keiner inhaltlichen Orientierung unterliegt, zum Ausgangspunkt und strukturierenden Prinzip nimmt, müssen ein Ordnungsrahmen und eine Handlungsstrategie treten, die davon ausgehen, dass die Güter der Erde, das heißt Natur und Umwelt, Bodenschätze, Wasser und Rohstoffe, nicht denjenigen gehören, die sie sich zuerst aneignen und ausnützen, sondern zunächst allen Menschen gewidmet sind, zur Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse und der Erlangung von Wohlfahrt. Das ist eine grundlegend andere Leitidee; sie hat die Solidarität der Menschen in ihrem Miteinander (und auch Gegeneinander) zum tragenden Bezugspunkt.”

Schön, schön, könnte man meinen, was die Linken in dieser Republik sich immer wieder zusammenträumen, zusammenreimen, zusammensammeln. Nur: Beim Autor dieser Sätze handelt es sich gar nicht um einen Linken. Geschrieben hat dies Ernst-Wolfgang Böckenförde in der Süddeutschen Zeitung vom 24.4.08. Böckenförde ist Professor für öffentliches Recht, Verfassungs- und Rechtsgeschichte sowie Rechtsphilosophie, zunächst in Heidelberg, später in Bielefeld und Freiburg. Mitglied der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestags und von 1983 bis 1996 Richter am Bundesverfassungsgericht. Teil der bundesdeutschen Elite also. Die Gier ist es mithin nicht, an der der Kapitalismus krankt, stellt Böckenförde fest. Er krankt an seiner Leitidee. Eine radikalere Beschreibung der bundesdeutschen Verhältnisse läßt sich derzeit kaum finden. Es handele sich also um eine vertitable Systemkrise. Der Kapitalismus sei nicht auf „die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen … gerichtet, sondern auf unbegrenzte Ausdehnung seiner selbst, auf Wachstum und Bereicherung”. Er löse sich „von den Gegebenheiten der Realwirtschaft ab und beschädigt diese. (…) Nimmt man dies zum Ausgangspunkt, wirkt sich das in vielfacher Weise aus: auf die Zuordnung der Bodenschätze und natürlichen Rohstoffe, auf den Umgang mit den Bedarfsgütern und der Umwelt, auf eine führende Rolle jedweder Arbeit gegenüber dem Kapital wie auch auf Grenzen der Akkumulation von Eigentum, auf die Anerkennung der Mitmenschen – auch der künftigen Generationen – als Subjekte und Partner im Bereich von Nutzung, Handel und Erwerb statt Objekte möglicher Ausbeutung. Dadurch wird ein verbindlicher Rahmen vorgegeben. Innerhalb dieses Rahmens können und sollen durchaus Erwerbssinn und Eigennutz, die Garantie von Eigentum, ihren pragmatischen Sinn und ihre Funktion als Antriebskräfte des wirtschaftlichen Prozesses haben. Aber sie bleiben eingebunden in das vorausliegende Konzept der Solidarität, das inhaltliche Orientierung gibt und unbegrenzter Ausdehnung Grenzen setzt.“ Böckenförde plädiert für eine neue politische Ordnung, in der eine „handlungs- und entscheidungsfähigen Staatsgewalt, … durch Begrenzung, Zielausrichtung und auch Zurückweisung wirtschaftlichen Machtstrebens wirksam Gemeinwohlverantwortung wahrnimmt.“

Gedeckt wird dieser Gedanke durch Art 14 des deutschen Grundgesetzes: (1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. (…)  (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Dort steht es: Wohl der Allgemeinheit, Gemeinwohl. Das Grundgesetz, die Thesen Böckenfördes, alles nicht wirklich neu. Aber auch nicht wirklich alt, nicht veraltet. Im Gegenteil. Moderne Gedanken, Thesen, Positionen, mit Hilfe derer Staat zu machen wäre. Eine bürgerliche Gesellschaft. Eine demokratisches Staatswesen, in dem sich freie Bürger nicht zueinander verhalten ausschließlich als “Besitzindividualisten”, als Bourgeois, sondern als solidarische Gemeinschaft von Citoyens,  freier und gleicher Bürger, in der das Gemeinwohl “tragender Bezugspunkt” ist, in der Starke Schwache stützen. Nur eine “bürgerliche Koalition” läßt sich mit diesen Gedanken nicht machen.

Friseure – zum Haareraufen

1 Euro und 50 Cent pro Stunde, fürs Haareschneiden. Nicht für die Frisur, sondern für den Friseur oder die Friseurin. Klar, in Leipzig oder Dessau. Nein. In Köln, Bergheim oder Gummersbach. Sozusagen nebenan, also hier, mitten unter uns. Das hat eine Razzia des Hauptzollamtes gestern in Köln und den angrenzenden Landkreisen zu Tage gefördert. Mal eben grob gerechnet: 40 Stunden in der Woche, vier Wochen im Monat, das macht etwas mehr als 160 Stunden und einen Lohn von circa 250 bis 350 Euro. Die Haare stehen einem zu Berge angesichts solcher Zahlen. Ich weiß nicht, ob Friseure überwiegend gute Christen sind. Aber kann ein Arbeitgeber sonntags wirklich guten Gewissens in die Kirche gehen, wenn er seine Angestellten mit solchen Hungerlöhnen rasiert? Es ist zum Haareraufen, wie der Gesellschaft so nach und nach der Anstand ausgetrieben wird. Die Armut ist angekommen, hier, in der Mitte der Gesellschaft. Und die Aufregung, die Empörung, die Wut hält sich in Grenzen. Leider. Mir sieht man an, daß ich Friseure seit Jahren nicht wirklich brauche. Aber: Ginge ich zum Friseur, ich würde mich von Stund an erkundigen, was denn so an Lohn gezahlt wird, und im Zweifel die Haare behalten.

König Kunde

“Die Banken lassen ihre Kunden im Stich”, so lautet das Ergebnis einer Studie der EU-Kommission. Die Kontoführungsgebühren in Deutschland seien die neunthöchsten von allen 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, heißt es in der Studie. Ein Deutscher muss für sein Girokonto mit jährlich 89 Euro demnach doppelt so viel wie ein Niederländer zahlen (46 Euro), und sogar dreimal so viel wie ein Bulgare, der nur 27 Euro für sein Konto aufbringen muß. Mit Abstand am teuersten ist ein Konto allerdings in Italien mit 253 Euro.

Die EU-Kommission kritisierte die Preisgestaltung der Banken als “sehr undurchsichtig”. Durch versteckte Gebühren und unvollständige Informationen sei es für Kunden fast unmöglich, Angebote miteinander zu vergleichen, erklärte die für Verbraucherschutz zuständige Kommissarin Meglena Kuneva.

Ein weiterer Kritikpunkt: die mangelhafte Beratung durch Bankangestellte. Deutschen Bankkunden entsteht durch falsche Empfehlungen bei Investmentprodukten jährlich ein geschätzter Schaden in Höhe von 20 bis 30 Milliarden Euro. So seien vor der Finanzkrise allein 50.000 deutschen Anlegern Papiere der später bankrotten Bank Lehman Brothers zur Pensionssicherung empfohlen worden, kritisierte ein Kommissionsmitarbeiter.

Eine Gesetzesverschärfung plant EU-Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy dennoch nicht. Zunächst müssten die geltenden Regeln umgesetzt werden, hieß es in der Kommission. Auch Preisobergrenzen für die Banken seien nicht geplant. Bis Weihnachten will die Brüsseler Behörde bei den Mitgliedstaaten auf Nachbesserungen dringen.

Links aus Versehen

Jemand, der sich, wie ich, in jungen Jahren politisch eingerichtet, als Linker, als Kommunist gar, dann aber, der Bevormundung des eigenen Denkens satt, diese Bindungen durchbrochen und sich seine eigene Meinung zu allem und jedem gestattet hat, liest gewiß gerne, wie andere ähnliche Prozesse für sich beschreiben, wie Weltbilder ins Rutschen geraten: Vom anderen Ausgangspunkt aus zu durchaus ähnlichen Ergebnissen, nein: eher Fragen. Matthias Matussek, ehemaliger Kulturchef des Spiegel, schreibt in Spiegel-Online unter dem Titel: “Krise des Konservativen” wie er “aus Versehen ein Linker wurde.” Lesenswert. Nein, ein Muß, ein unbedingtes Muß.

“Sein Vater war CDU-Politiker, er selbst kiffte und lebte in einer Mao-WG – zum Linken aber wurde Matthias Matussek erst jetzt in der Krise. Denn die Konservativen führen seiner Ansicht nach einen Klassenkampf von oben: Sie zertrümmern Werte, heiligen Kaltschnäuzigkeit und öde Lifestyle-Spießerei”, heißt es im redaktionellen Vorspruch. Bei Matusseks war man konservativ. Als Jugendlicher ein bißchen rebellig, als Erwachsener, als Familienvater aber wieder durchaus konservativ. Wie tausende andere auch. Weiterlesen

Anstandslos

Heute Abend, im Stau auf der Autobahn, Nachrichten auf WDR5: Das Amtsgericht Essen hat das Insolvenzverfahren über den Arcandor-Konzern eröffnet, Karstadt, Quelle und viele andere Tochterunternehmen sind betroffen. Nun, die Nachricht kennt man, also nur halb hingehört. Arcandor-Chef Karl-Gerhard Eick dankt nach nur halbjähriger Leitung des Konzerns ab. Gut so, denke ich noch. Dann aber: Als Abfindung erhält Eick 15 Millionen Euro! Was? 15 Millionen Euro für nur sechs Monate Leitung eines abgewirtschafteten Unternehmens?

Die Gesellschaft Arcandor war und ist offenbar ohne jeden Anstand, die Gesellschaft Bundesrepublik Deutschland aber auch, wenn eine solche Regelung möglich ist. Womöglich werden Tausende von Mitarbeitern ihren Arbeitsplatz verlieren, der Unternehmenschef aber streicht eine mehr als fürstliche Belohnung ein. Für was eigentlich? Was muß denn noch passieren in diesem Land, damit Anstand, Gerechtigkeit, Augenmaß, soziale Verantwortung, Vorbilder wieder möglich werden? Wie soll man Kindern und Jugendlichen diese und andere Werte vermitteln, soziale und ethische, wenn die Eliten der Gesellschaft sich als überaus maßlos und gefräßig und gierig und unanständig und selbstsüchtig und unsolidarisch und ungerecht erweisen?

Da hilft es gar nichts, daß Eick nunmehr ein Drittel seiner Abfindung an die Belegschaft spenden will. Gegen Steuerabzugsbescheinigung vermutlich.