Monat: Januar 2015

Wir müssen unseren Garten bestellen

Cela est bien dit mais il faut cultiver notre jardin. Gut gesagt, aber wir müssen unseren Garten bestellen. François-Marie Arouet verdanken wir diese wuchtige Weisheit. Einem der oder dem größten Denker unseres Nachbarlandes Frankreich, bekannt unter dem Namen Voltaire. Vorbereiter und Begleiter der französischen Revolution, Erzähler und Philosoph, Kirchenkritiker, auch Königlicher Kammerherr am Hof des Königs Friedrich des Zweiten von Preußen, KäIMG_1956mpfer für die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz,  bekannt für Ironie und sarkastischen Witz befindet sich neuerdings wieder an der Spitze der französischen Literaturcharts, der Bestsellerliste, und zwar mit seiner Abhandlung über die Toleranz. Zweihundertsiebenunddreißig Jahre nach seinem Tod und zweihundertzweiundsechzig Jahre nach Erscheinen der Schrift. Die Attacke auf Charlie Hebdo macht es möglich. Das mache dem großen Philosophen mal jemand nach. In der Buchhandlung van Wahden am Markt hier in Wermelskirchen kommt man an Voltaire jedenfalls auch nicht vorbei. Gottlob.

 

Demontiert

Neujahrsempfang der CDU im Rathaus. Heute vormittag. Eine rundum gelungene Präsentation der örtlichen CDU. Der Ratssaal ist voll, rappelvoll. Mehr als hundert Menschen haben sich eingefunden. Christdemokraten, Mitglieder anderer Parteien, Ratsvertreter, Interessierte. Flskitcheißige Helfer der Jungen Union schaffen noch zusätzliche Stuhle heran für den unerwarteten Andrang. Soweit, so gut. Ein voller Saal. Die Wand aber ist leer. Die Wand, die eigentlich 1796953_815332655149848_129317311_ovoll ist. Voller Bilder nämlich. Bilder, Fotografien der Bürgermeister. Demontiert. Die Ahnenreihe der Bürgermeister, abgehängt von der CDU. Warum nur? Wollte man den deutlichen Bilderzeig nicht, daß die CDU schon viele, viele Jahre den Bürgermeister nicht mehr stellt? Der letzte, buchstäblich, in der Reihe, der Bildergalerie, ist der gewesene Bürgermeister Heckmann. Christdemokrat. Der Letzte. Aber: Wer kann sich noch erinnern? Im Kommunalwahlkampf noch hat man auch im Rathaussaal getagt. Vor nicht einem Jahr. Unter den Portraits der Bürgermeister. Klaglos.

P.S. Christian Klicki liest mich. Der junge und erfolgreiche Vorsitzende der hiesigen CDU. Und soeben weist er mich darauf hin, daß nicht die CDU die Bürgermeisterportraits hat abhängen lassen. Bürgermeister Weik habe einen prominenteren Platz im großen Ratssaal gefunden. Meine Spekulation ist also kaum mehr als eine ungedeckte Spitzfindigkeit. Eine Frage bleibt: Werden wir im September ein Portrait von Eric Weik im großen Ratssaal bewundern können? Oder bleibt es bei der imposanten Reihe ehemaliger Stadtchefs?

Prokrastination

Fast jeder kennt das. Die meisten jedenfalls. Dem leeren Kopf entspricht das leere weiße Blatt, das vor einem liegt. Das leere weiße Blatt ist eine bildliche Entlehnung aus alten vergangenen Zeiten, sozusagen aus der Tintenzeit des Schreibens, der Farbbandzeit. Fast jedem Zustand, fast jedem Umstand wird ein mitunter schrullig bis geheimnisvoll klingendes Fremdwort zugedacht, das interessant macht, aufwertet, adelt, was aus der mit dem deutschen Nomen verbundenen Trivialität herausführt. So kann sich die schlichte Schreibhemmung hinter der phänomenal klingenden Prokrastination verstecken. Ich prokrastiniere. Ich schaffe es nicht, immer wieder nicht, das leere weiße Blatt zu füllen. Sinnvoll zu füllen. Erledigungsblockade heißt man das. Bummelei. Was ist das gegen die hochtrabende Prokrastination? Ich sitze, bildlich gesprochen, inmitten zerknüllter weißer Blätter mit Anfängen, Bruchstücken, Textfragmenten, allesamt verworfen, allesamt für schlecht empfunden, allesamt mißraten. Schreibhemmung. Nein: Prokrastination.

Sixty-Four

Es ist soweit. Nix da “many years from now”. Jetzt, heute. Now. Sixty-four. Losing my hair. Will you still feed me? Die Frage aller Fragen hat mich erreicht …

When I get older
Losing my hair
Many years from now
Will you still be sending me a Valentine?
Birthday greetings bottle of wine?

If I’d been out
Till quarter to three
Would you lock the door?
Will you still need me
Will you still feed me
When I’m sixty-four?

You’ll be older too
And if you say the word
I could stay with you

I could be handy
Mending a fuse
When your lights have gone
You can knit a sweater by the fireside
Sunday mornings go for a ride

Doing the garden
Digging the weeds
Who could ask for more?
Will you still need me
Will you still feed me
When I’m sixty-four?

Every summer we can rent a cottage
In the Isle of Wight if it’s not too dear
We shall scrimp and save (we shall scrimp and save)
Grandchildren on your knee
Vera, Chuck, and Dave

Send me a postcard
Drop me a line
Stating point of view
Indicate precisely what you mean to say
Yours sincerely wasting away

Give me your answer
Fill in a form
Mine for evermore
Will you still need me
Will you still feed me
When I’m sixty-four?

Lästerliches

Unter der Überschrift: Ich bin beleidigt schrieb Burkhard Schröder in seinem Blog:  Was ich noch sagen wollte: Meine atheistischen Gefühle werden immer dann provoziert und sehr beleidigt, wenn Verehrer höherer Wesen beleidigt sind, wenn man sich über ihre lächerlichen frommen Märchen lustig macht. Dem kann un151115_1d darf man zustimmen. Hierzulande jedenfalls. Ich bin ja nur selten wirklich einer Meinung mit dem bekanntesten Wermelskirchener, wenn man einmal von Carl Leverkus absieht oder dem Pfarrer Dellmann, Christian Lindner nämlich. Der junge Chef der um ihre Existenz ringenden Freien Demokratischen Partei, genaudie mit der neuen Farbe Magenta neben Blau und Gelb, hat sich nämlich kürzlich für die Abschaffung des Blasphemieparagraphen im deutschen Strafrecht ausgesprochen. Dieser Paragraph Einhundertsechsundsechzig des Strafgesetzbuches bedroht Menschen, die den öffentlichen Frieden durch die Beschimpfung religiöser Bekenntnisse oder deren Einrichtungen, Bräuche und Besonderheiten gefährden, mit bis zu drei Jahren Haft. „Wenn Terroristen die freie Gesellschaft angreifen, antworten wir mit mehr und nicht weniger Freiheit. Der sogenannte Blasphemieparagraf 166 StGB gehört abgeschafft“, sagte Lindner im Gespräch mit der Zeitung. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Unabhängigkeit der Medien sollten nicht vor Religionen halt machen müssen. Auch eine Zensur aus vermeintlich guten Motiven mache unfrei – erst im Handeln, dann im Denken. „Künstler und Journalisten sollen wissen, dass wir ihre Freiheit und Unabhängigkeit gerade dann verteidigen, wenn sie unbequem sind.“ Mit Lindner bin ich der Meinung, daß Religionsgemeinschaften Satire und Spott ebenso ertragen müssen wie jeder Bürger, jede Partei, jeder Verein und jede andere gesellschaftliche Institution auch. Hans Michael Heinig, Professor für Öffentliches Recht, Kirchenrecht und Staatskirchenrecht in Göttingen und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, plädiert ebenfalls für die Beseitigung des Blasphemieverbots. „Eine Streichung würde deutlich machen: Die Presse- und Kunstfreiheit hat Vorrang vor dem diffusen Schutz religiöser Gefühle“, erklärte er. Zwar gebe es in Presse und Kunst zuweilen unappetitliche Auswüchse. Diese seien aber hinzunehmen oder mit Gegenrede zu erwidern.

Recht

Marcus Eberhardt, so hieß er einst, der ehemalige Bordellbetreiber. Seit er Zweitausendundsechs von Frederic Prinz von Anhalt adoptiert wurde, nennt er sich Marcus Prinz von Anhalt. Die Adoption als Adelstitelkauf. Und dieser Sproß derer von Anhalt hat die private Nutzung von sechs Luxuskarossen als betriebliche Ausgaben verbucht und mithin achthunderttausend Euro an Steuern hinterzogen. Dafür muß der edle Herr nun in den Knast. Für vier Jahre. Zu recht. Warum aber muß ein Würstchenfabrikant und ehemaliger Fußballprofi nur drei Jahre und ein paar Monate absitzen, wenn er etwa fünfunddreißig mal so viel an Steuern hinterzogen hat wie der degenerierte Adelsnachkomme, nämlich etwa achtundzwanzig Millionen Euro?

Theaterworkshop “Der Krieg ist aus”

Am Sonntag, dem 25. Januar findet in der Zeit von 10:00 bis 17:15 Uhr unter der Leitung von Bardia Rousta ein Theaterworkshop statt. Eine Szenische Lesung unter dem Titel: “Der Krieg ist aus”. Veranstaltet wird das Ganze von der hiesigen Volkshochschule im Seminarraum der Stadtbücherei in der Kattwinkelstraße 3.

Eine Sammlung von Feldpostbriefen, Zeitungsartikeln und Todesanzeigen sind die Grundlage für diese szenische Lesung. Es geht um die Erinnerung an den zweiten Weltkrieg. Ziel ist die Gestaltung einer theatralischen Lesung vor Publikum um 19:00 Uhr. Eine Wiederholung in Ausschnitten ist vorgesehen für den Dienstagabend, 14.04.2015.

Ein Angebot für alle, die Lust haben, verschiedene theatralische Ausdrucksmöglichkeiten kennen zu lernen. Körpersprache und Ausdruck, Rhythmus, Aufbau von Spannung und Atmosphäre, Arbeit mit Atmung, Stimme und emotionalen Ausdruck. Es wird mit und ohne Text improvisiert. Die festliche Lesung am Abend durch die Teilnehmenden ist der Höhepunkt des Seminars. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich. Bitte bewegungsfreundliche, warme Kleidung und Turnschuhe mitbringen.

Eine Anmeldung ist erforderlich! (http://www.vhs-bergisch-land.de/). Die Teilnehmergebühren betragen  € 37,50.

Meldet Euch an und macht die Veranstaltung in Eurem Umfeld bekannt.

Alle Menschen werden Brüder

Gestern Abend hielt der Kölner Schriftsteller Navid Kermani eine Rede auf der Kölner Gedenkfeier vor dem El-DE-Haus.

Vor einer Woche sind in Paris zwölf Menschen ermordet worden, nur weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nahmen. Zwei Menschen sind ermordet worden, nur weil sie Polizisten waren, gewöhnliche Streifenpolizisten, die ihren Dienst taten. Einen Tag später sind vier Menschen ermordet worden, nur weil sie – der Attentäter hat es selbst am Telefon wörtlich so erklärt – Juden waren. Das geschah mitten in Europa, im Zentrum der französischen Hauptstadt, unweit der Bastille, wo die Bürger 1789 auf die Barrikaden gingen, damit nicht mehr ein einzelner Despot, sondern Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen. Diese Revolution war es, die am Anfang auch unserer Freiheit steht.

Es hat Jahre, Jahrzehnte, ja fast zwei Jahrhunderte gedauert – Europa, ja Frankreich selbst ist Umwege und fürchterliche Irrwege gegangen –, bis endlich die Menschen ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung die gleichen Rechte – nein, ich will nicht sagen: die gleichen Rechte genießen, denn verwirklicht ist Europa noch nicht, aber doch die gleichen Rechte beanspruchen und für sie eintreten können. Allein, Freiheit und Gleichheit sind noch nicht das ganze Erbe der Französischen Revolution. Die letzten Tage haben uns daran erinnert, dass wir bei allen politischen Rechten und gesetzlichen Regeln immer auch das Moment der Brüderlichkeit im Blick haben müssen, der Empathie, des Einstehens für den Schwächeren, der Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden, der Solidarität mit dem Verfolgten. Das war der entscheidende zivilisatorische Durchbruch, der 1789 sicher noch nicht gelungen, aber doch begonnen wurde, die Übertragung des biblischen Gebotes der Nächstenliebe auf die gesellschaftliche Wirklichkeit: nicht wir Franzosen und wir Deutschen, nicht wir Weißen über den Schwarzen, nicht wir Einheimischen über den Fremden, nicht die Männer über den Frauen, nicht wir Adligen und wir Bürger, nicht wir Kapitalisten und wir Arbeiter, nicht wir Christen, wir Juden und wir Muslime, nicht wir Europäer, wir Asiaten und wir Afrikaner – nein, wir Menschen.

Die Islamisten machen den Islam zu einer Karikatur seiner selbst

Die Terroristen wollen einen Keil zwischen uns treiben, sie wollen uns in eine Entscheidung zwingen, ob wir Europäer oder Araber sind, Westler oder Orientalen, Gläubige oder Ungläubige. Nach dem 11. September 2001 war ihnen das fast schon gelungen, als der Terror mit Kriegen beantwortet wurde, mit Folter, mit der Aushöhlung des Rechtsstaats. Die unweigerliche Folge waren noch mehr Gewalt und Gegengewalt, noch mehr Feindbilder und noch mehr Hass, noch mehr Anschläge und Hunderttausende weitere Tote. Heute muss die Antwort auf den Terror eine andere, eine im besten Sinne aufklärerische sein: Nicht weniger, sondern mehr Freiheit! Nicht Ausgrenzung, sondern gerade jetzt Gleichheit! Und vor allem: Nicht Feindschaft, sondern Brüderlichkeit!

Und tatsächlich: Wir haben die Bilder der letzten Woche gesehen, die Bilder der Kundgebungen in Paris und Berlin, in Madrid und in London, sogar in Beirut und in Hebron, wir haben eine weltweite Trauer und eine weltweite Solidarität erlebt. Die große, die überwältigende Mehrheit der Menschen hat über alle Grenzen der Konfession, Nation und Ethnie hinweg das Gemeinsame über das Trennende gestellt. Nein, wir Europäer sind nicht alle einer Meinung. Ja, wir haben unsere Konflikte, Unterschiede und Gegensätze. Und zugegeben: Nicht alle möchten wir über Witze lachen, die zulasten einer Minderheit gehen, ob nun Juden in Deutschland, Muslime in Frankreich oder sagen wir Christen im Iran. Vielleicht fühlen sich manche von uns auch von den Karikaturen verletzt, die in Charlie Hebdo erschienen. Aber wir sind uns einig – wir waren uns niemals einiger als in diesen Tagen –, dass wir diese Konflikte, Unterschiede und Gegensätze auf unserem Kontinent nie mehr mit Gewalt austragen wollen.

Und so sehe ich auch auf diesen Kölner Platz, der einmal einer der dunkelsten Orte unsrer Stadt war, vor den Türen des EL-DE-Hauses, einst Dienststelle der Gestapo und Inbegriff eines nationalistischen Schreckensregimes, und ja, ich freue mich, ich freue mich unbändig, denn ich sehe so viele zusammenstehen, egal, welcher Religion, Partei, Gewerkschaft sie auch angehören, egal, welcher Herkunft, welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts. Ich sehe uns alle gemeinsam und entschlossen im Gedenken an die Opfer von Paris vereinigt. Gemeinsam bekunden wir unsere Trauer, gemeinsam bekunden wir unseren Abscheu, gemeinsam bekunden wir unser Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer – aber entschlossen wehren wir uns auch gegen diejenigen, die den Mord an siebzehn unschuldigen Menschen missbrauchen, um gegen eine einzelne Bevölkerungsgruppe zu hetzen. Wir wehren uns gegen diejenigen, die sich als Retter des Abendlandes aufspielen, aber alles verraten, was an diesem Abendland liebens- und lebenswert ist. Wir wehren uns gegen diejenigen, die wegen ein paar Karikaturen wüten und nicht sehen, dass sie dabei selbst den Islam zur Karikatur seiner selbst machen.

Wir wehren uns, ja – und wir hätten uns schon viel früher wehren müssen. Denn die letzte Woche hat uns alle daran erinnert, dass Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit weder selbstverständlich noch kostenlos sind, dass wir immer wieder neu für sie eintreten, für sie kämpfen und sie notfalls sogar mit unserem Leben verteidigen müssen. Der Kampf gegen Unfreiheit und Gewalt findet nicht nur in Kobani oder Aleppo statt, nicht nur am 11. September 2001 in New York oder am 7. Januar 2015 in Paris. Wir müssen für die Ideale der Gerechtigkeit und der Toleranz jeden Tag eintreten, im Alltag, am Arbeitsplatz oder in der Schule, in den Parteien, Gewerkschaften oder religiösen Gemeinden, und auch – das schätzen viele von uns leider zu gering – an den Wahlurnen, ganz besonders bei der gemeinsamen europäischen Wahl. Die letzte Woche hat uns daran erinnert, dass Europa zwischen Nationalisten hier und religiösen Extremisten dort zerrieben werden könnte, deren Hass sich gegenseitig hochschaukelt. Sie hat uns an die Konflikte und Kriege erinnert, die nicht in vergangenen Zeiten oder auf fernen Kontinenten, sondern direkt vor der europäischen Haustür stattfinden. Nur zwei, drei Flugstunden entfernt, sterben dort jeden Tag Dutzende, Hunderte Menschen, und wenn sie nicht von Kugeln oder Bomben zerfetzt werden, dann sterben sie auf der Flucht, ertrinken im Mittelmeer, jeden Tag Dutzende, Hunderte Menschen.

Wir sollten uns nicht heraushalten und können es auch gar nicht, denn egal, was im Nahen Osten geschieht, es wird uns betreffen, unsere Sicherheit, unseren Wohlstand und auch unseren gesellschaftlichen Frieden. Wir haben dort über Jahrzehnte die blutigsten Diktaturen unterstützt und uns sogar direkt am Sturz demokratischer, säkularer Regierungen beteiligt. Wir sahen ziemlich tatenlos zu, wie den Palästinensern Siedlung um Siedlung ihr Land und ihre Zukunft geraubt wurde. Vor allem aber haben wir – ja, ich sage wir, obwohl die meisten von uns 2003 gegen den Irakkrieg protestiert haben, aber der Krieg wurde nun einmal von der führenden westlichen Nation, im Namen der westlichen Wertegemeinschaft und auch von deutschen Flughäfen aus geführt –, vor allem haben wir Gesetzlosigkeit und Gewalt über ein ganzes Land gebracht, als wir behaupteten oder vielleicht tatsächlich glaubten, den Irak zu befreien.

Die Anschläge von Paris sind nicht zuletzt eine Folge dieses Krieges, der dem Terrornetzwerk Al-Kaida in unmittelbarer Nachbarschaft Europas ein Aufmarschgebiet bescherte, auf das Osama bin Laden in seinen kühnsten Träumen nicht gehofft hätte. Und sie sind zugleich Folge unseres Versagens in Syrien, wo wir friedliche Demonstranten nicht unterstützt haben, die von einem brutalen Regime niedergemetzelt und zum Teil vergast wurden, wo wir tatenlos oder vielleicht sogar aus perfidem Kalkül zusahen, wie unsere eigenen, engsten Verbündeten, Saudi-Arabien und andere Golfstaaten, die Dschihadisten finanzierten und hochrüsteten, auch den sogenannten “Islamischen Staat”, auf den sich die Attentäter beriefen.

Ich sage das nicht, um von der Verantwortung der Muslime selbst abzulenken, schließlich sind Saudi-Arabien und die Golfstaaten ja auch muslimische Länder und ebenso all die Diktaturen, die in der islamischen Welt herrschen. Ich sage das, um darauf hinzuweisen, dass Terror nicht im luftleeren Raum entsteht, sondern einen sozialen, politischen und geistigen Nährboden hat. Wer den Terror besiegen will, der braucht Polizei, Geheimdienste, Justiz, ja. Manche von uns, die wie ich mit der Friedensbewegung groß geworden sind, haben lange, zu lange gebraucht, um auch die Notwendigkeit eines Sicherheitsapparates einzusehen – und den Mut unsrer Soldaten und Polizisten anzuerkennen. Und doch werden wir den Terror nur besiegen, wenn wir ihm den Boden entziehen. Dass hier diejenigen in besonderer Verantwortung stehen, in deren Namen die Gewalt verübt wird, liegt in der Natur der Sache. Als im Namen Deutschlands Krieg und Vernichtung über die halbe Welt gebracht wurden, war es auch und gerade an den deutschen Exilanten, die selbst gegen die Nazis gekämpft hatten, das bessere und andere Deutschland zu erklären.

Ich möchte an dieser Stelle ein Wort speziell an die Muslime richten, an meine Geschwister im Glauben. Es reicht nicht, zu sagen, dass die Gewalt nichts mit dem Islam zu tun habe. In dem Augenblick, da sich Terroristen auf den Islam berufen, hat der Terror auch etwas mit dem Islam zu tun. Wir müssen die Auseinandersetzung mit der Lehre suchen, die heute weltweit Menschen gegeneinander aufhetzt und Andersgläubige ermordet oder erniedrigt. Dschihadisten haben in den vergangenen Monaten Hunderttausende Christen, Jesiden und überhaupt alle Andersdenkenden vertrieben, vergewaltigt, ermordet. Sie haben in Pakistan erst vor ein paar Wochen eine Schule überfallen und 141 Menschen erschossen, die allermeisten von ihnen Kinder. Und am selben Tag, da Dschihadisten in Paris die Redaktion von Charlie Hebdo überfielen, haben Dschihadisten in Nigeria ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht und viele Hundert, wenn nicht zweitausend Zivilisten massakriert – im Namen des Islams. Und ob diese Dorfbewohner Muslime waren oder Christen, das interessiert mich überhaupt nicht, das will ich hier nicht einmal erwähnen – es waren Menschen, friedliche, wehrlose Menschen, auch sie unsre Brüder und Schwestern.

Der Islam hat immer wieder Wellen der Gewalt erlebt, es gab den Sturm der Mongolen, und es gab den Sturm der Kreuzfahrer. Aber diese Gewalt und diese Barbarei, sie kommen aus unserer eigenen Mitte, für sie ist weder der Mossad noch die CIA zuständig. Es liegt an uns, an jedem Einzelnen, die Fratze abzureißen, die das Gesicht unserer Religion entstellt. Es ist unsere Verantwortung und unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass man mit dem Islam nicht mehr Terror und Gewalt, sondern wieder Freiheit und Gerechtigkeit verbindet, nicht mehr Unterdrückung und Strafe, sondern Humor und Kultur. Vor allem aber liegt es an uns, dem höchsten Gebot des Islams, der Barmherzigkeit, wieder Geltung zu verschaffen. “Wahrlich, erhebst du auch deine Hand gegen mich, um mich totzuschlagen, so erhebe ich doch nicht meine Hand gegen dich, um dich zu erschlagen” – das werden heute die meisten für die Bergpredigt halten, ist aber doch unser eigener Koran, Sure 5,28.

Lasst uns jederzeit wieder auf die Barrikaden gehen!

Schaut nicht weg, wenn eure Kinder, Geschwister oder Freunde von einem auf den anderen Tag den Koran hochhalten, den es nur streng wörtlich auszulegen gelte, und sich als Moralapostel aufführen, die alles besser zu wissen glauben, diskutiert mit ihnen, weist sie hin auf die tausendvierhundertjährige Tradition islamischer Gelehrsamkeit, beginnend mit dem Propheten selbst, der den Koran niemals nur wörtlich verstand und stets mehr als nur eine einzige Auslegung akzeptierte. Sagt ihnen, dass die Nachfolge des Propheten nicht darin besteht, eine bestimmte Kleidung oder einen bestimmten Bart zu tragen, sondern von der Vernunft Gebrauch zu machen, das Wissen selbst in den fernsten Ländern zu suchen und Werke der Mildtätigkeit zu tun. Macht ihnen klar, dass Dschihad nach allen maßgeblichen Deutungstraditionen des Islams nur ein genau umrissener und zeitlich begrenzter Verteidigungskampf sein kann und nie und niemals die Ermordung wehrloser Menschen gestattet. Erinnert sie daran, dass der eigentliche Dschihad keineswegs der Kampf gegen Ungläubige ist, sondern der Kampf des Gläubigen mit sich selbst. Ignoriert in euren Moscheen und Schulen und Familien nicht die Verse, die im Koran selbst zur Gewalt aufzurufen scheinen, sondern sprecht sie offen an, diskutiert sie und bettet sie in ihren historischen Kontext ein. Schreitet ein, wenn verächtlich über Andersgläubige gesprochen wird und zumal, wie es unter unseren Jugendlichen immer häufiger geschieht, über Juden. “Der Mensch ist entweder ein Bruder im Glauben oder ein Bruder in der Menschlichkeit.” Das sagte im 7. Jahrhundert Ali ibn Abi Talib, der als vierter Kalif und zugleich erster Imam wie kein anderer Nachfolger des Propheten Sunniten und Schiiten verbindet. Das, genau das, ist aber auch zugleich der humane Kern, der den morgen- und abendländischen Religionen gemeinsam ist und in der Französischen Revolution als Gleichheitsgebot säkularisiert wurde.

Lasst uns, egal, ob gläubig oder nicht, schwarz oder weiß, heimisch oder fremd, lasst uns jederzeit wieder auf die Barrikaden gehen, um unsre Freiheit, unsre Gleichheit und eben auch unsere Brüderlichkeit zu demonstrieren. Die siebzehn Menschen, die in Paris als Journalisten, als Polizisten, als Juden ermordet wurden, sind in unserem Gedächtnis und unseren Gebeten als Menschen lebendig. Sie sind Zeugen dafür, dass der Kampf weitergeht, der 1789 in Paris seinen Ausgang nahm: Alle Menschen werden Brüder.

Navid Kermani, Schriftsteller und Orientalist, ist Muslim iranischer Abstammung und lebt in Köln. Vor Kurzem erschien sein neues Buch Zwischen Koran und Kafka. Die hier veröffentlichte Rede hielt er am 14.1. auf der Trauerkundgebung für die Opfer des Pariser Anschlags in Köln.