Wie ich an die Kulturgeschichte des Notizzettels geriet
„Auch Friedrich Engels war am Ende seines Lebens so schwer an dem tückischen Krebs erkrankt, dass er, Autor von Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft und neben Karl Marx Mitverfasser des Kommunistischen Manifests, am Ende seiner schriftstellerischen Laufbahn nicht mehr voluminöse Bücher, sondern nur noch Notizzettel schrieb, wenn er etwas mitzuteilen hatte. Notizzettel können also, (…), der letzte Anker sein, um menschliche Kommunikation aufrechtzuerhalten.“
Ein Zitat, heute vormittag auf einer Internetseite gelesen, ich weiß wirklich nicht mehr, wohin mich das vormittägliche Surfen geführt hatte, dieses Zitat also machte mich neugierig. Engels, ein Gelehrter auch der Sprache, des guten Ausdrucks, der schönen Formulierung, teilt sich mittels Zettel mit am Ende seines Lebens. Das ist mir, der ich doch schon viele Jahre von Friedrich Engels auf gute Weise begleitet werde, vollkommen unbekannt geblieben. Der Entdecker dieses, wie soll man sagen? Umstandes? dieses Schicksals, Hektor Haarkötter, teilt seine Erkenntnis in einem frisch erschienen Buch mit dem schlichten Titel “Notizzettel” mit. Haarkötter hat, vor seiner Tätigkeit als Hochschullehrer und Kommunikations- und Medienwissenschaftler, als Journalist gearbeitet, auch fürs Fernsehen, als ich noch beruflich tätig war mit meiner Firma, ebenfalls für Rundfunkanstalten. So haben sich die Wege seinerzeit gekreuzt und jetzt kreuzen sie sich wieder, virtuell, als Buch und Text, als Blog und Notiz. Notiz an mich: Notizzettel kaufen. Das war der Eintrag auf dem virtuellen Post-it, das ich dann angelegt habe, dem Notizzettel im Tablet, der mir hilft, schnelle Einfälle nicht zu vergessen, Ideen zu notieren, einen flüchtigen Gedanken festzuhalten.
Notiz an mich. Gedacht, geschrieben getan. Meine Buchhandlung hier am Ort, die Buchhandlung van Wahden am Markt, dürfte das Buch nicht vorrätig haben. Nahm ich an. Ist ja auch keine Universitätsbuchhandlung. Eine Untersuchung mit dem Untertitel “Denken und Schreiben im einundzwanzigsten Jahrhundert” muß gewiß bestellt werden. Von wegen. Ein Anruf. Dann war klar. Das Buch ist da. Also gekauft und begonnen zu lesen. „’Ein Zettel ist ein kleines, meist loses Stück Papier'”, heißt es in einer der seltenen definitorischen Bemühungen um den Notizzettel, nämlich der Online-Enzyklopädie Wikipedia.“ Schreibt Hektor Haarkötter. Und der Verlag beschreibt die Haarkötterschen Notizzettel folgendermaßen: „Notizzettel sind Einkaufszettel, Spickzettel, Schmierzettel, Skizzen, Karteikarten, Post-its. Sie halten Flüchtiges für das Gedächtnis fest und sind doch provisorisch, unkompliziert und vorläufig – sie organisieren Wissen. Erstmals erzählt Hektor Haarkötter die Kulturgeschichte des Notizzettels von den Anfängen bis heute und formuliert gleichzeitig dessen Theorie: Ob als politisches Kommunikationsmedium der RAF-Gefangenen, als Strukturgerüst von Literatur, als Laborbuch der Naturwissenschaften oder als Link im Internet: Der Notizzettel ist ein Aufschreibesystem, Hard- und Software in einem und: ein Vergessensmedium. Seine Bedeutung für die Kulturgeschichte des Denkens ist nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr zu unterschätzen.“
Wer das Buch nach diesem Waschzetteltext – schon wieder ein Wort, in dem der Zettel steckt: gemeint ist der Kurztext, der von Verlagen beispielsweise Redaktionen zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wird – nicht haben will und kauft, dem ist nicht zu helfen. Kulturgeschichte des Notizzettels. Vergessensmedium. Wissensorganisation.
„Es scheint auf den ersten Blick keine sehr gute Idee zu sein, das Wertvollste, was wir haben, unsere Gedanken, dem flüchtigsten Medium anzuvertrauen, das es seit Menschengedenken gibt, dem Notizzettel. Der Notizzettel ist so vergänglich wie die Gedanken selbst. So schnell, wie er zur Hand ist, so schnell ist er auch wieder fort. Wo habe ich mir das noch mal aufgeschrieben? Der Notizzettel hat viele Orte, die alles eines gemein haben: aus dem Auge, aus dem Sinn. Er teilt damit den Friedhof alles Überflüssigen und alles Unangenehmen: das Vergessen – was, nebenbei bemerkt, ein denkbarer Beleg dafür ist, dass alles Unangenehme überflüssig ist. Notizzettel auf Kühlschranktüren, Notizzettel an Toilettenspiegeln, Notizzettel auf Landkarten, Einsatzplanungswänden und Spindtüren, Notizzettel mit Klebestreifen, gelocht und beringt, Notizzettel auf Blöcken, in losen Blättern, in Karteikästen oder in ihrer edelsten Form: als Notizbuch, das für seinen Besitzer einen so enormen Wert haben kann, dass etwa der Schriftsteller Bruce Chatwin im Verlustfall einen gigantischen Finderlohn auslobte.“
Vernachlässigt sei, so Hektor Haarkötter, der Notizzettel, das “unbeschriebene Blatt oder gar nur ein Teil davon, eine Karte, ein Fetzen, ein Ausriss oder ein Schnipsel“. Und dieser Vernachlässigung entreißt der Autor den Zettel, untersucht die Notiz, würdigt sie, ja: adelt ihn, den Notizzettel. Er beschreibt die Kulturgeschichte und entwickelt eine Theorie der Notiz, bevor er sich der Frage zuwendet, ob und wie sich das Notieren in einer digitalen Informationsgesellschaft verändert.
Auf 558 Seiten. Gewiß keine Magerkost. Ein dickes Buch über die kleine und und dünne Notiz. Wissenschaft, aber in journalistischer Sprache, verstehbar, mit Witz und Esprit erzählt. Notiz an alle, die Spaß an der Sprache habe: Notizzettel kaufen. Von Hektor Haarkötter.
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