Monat: Mai 2021

Karten über Sprache

Nach ewig langer Zeit, ist’s ein Jahr? Länger? Bestimmt!, habe ich gestern meinen Sohn und seine Freundin besucht, in Moers, der schönen Hanns-Dieter-Hüsch-Stadt am linken Niederrhein. Hüsch, der ach so genaue Beobachter und virtuose Sprachschöpfer, stammt von dort. Und so habe ich etwas mit nach Hause genommen, nach Wermelskirchen.

Ein Buch über Sprache. Eines zudem, das aus wenig Sprache und vielen Bildern und Karten besteht. Über Sprache. In Japan sagen Verliebte zärtlich “Eierkopf” zueinander. Doch. Und überall auf der Welt heißt die Mama Mama. Fast. Auf Georgisch heißt sie Papa. Beispiele nur von vielen erhellenden, belustigenden, informativen oder unterhaltsamen Fakten aus dem Bereich der Sprache. Wie heißt “Wau-Wau” auf finnisch oder spanisch? Welche verrückten Ortsnamen gibt es alles in Deutschland. Wieviele europäisch anmutende Ortsbezeichnungen gibt es in Ohio? Das muß man nicht alles wissen. Aber es macht Spaß, es zu erfahren.

Wo werden von wem welche Formen der Anführungszeichen genutzt? Baden-Württenberger schlafen unter dem Teppich, während alle anderen in Deutschland das unter einer Decke machen. Wo pellt sich die Haut und wo schält sie sich? Es gibt Informationen über Fremdwörter, Alphabetisierungsraten, Lehnwörter, die Häufigkeit von Nachnamen. Droge und Depression haben die Deutschen dem Französischen entnommen. Wie erotisch, Nippes, Plüsch oder Plörre. Der Scheck stammt aus dem Arabischen, das Kompliment ist spanisch, der Spaß italienisch, wie kann es anders sein?, und die Droschke russisch.

Wo heißt der Fußball auf der Welt Soccer und wo heißt man ihn Football? In diesem tollen Buch kann man erfahren, erlesen, wie die ursprüngliche Bedeutung europäischer Städtenamen war. Paris etwa die Stadt der Bootsleute. Gewußt? London war das Dorf am breiten Fluß, der Ort am Sumpf. Was heißt hier war? Kurzum: Ein tolles Buch, grandios illustriert, allerbestens ausgesucht, ein Genuß, Quell für gute Laune, allerbester Gesprächsanlaß.

Weißt Du eigentlich, daß in Persien eine Koseansprache von Verliebten lautet: Möge eine Maus dich fressen? Und Unverpacktladen ist eine Sprachschöpfung aus dem Jahr 2019. Danke Kathrin, Danke Palle.

Notiz an mich: Notizzettel kaufen

Wie ich an die Kulturgeschichte des Notizzettels geriet

„Auch Friedrich Engels war am Ende seines Lebens so schwer an dem tückischen Krebs erkrankt, dass er, Autor von Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft und neben Karl Marx Mitverfasser des Kommunistischen Manifests, am Ende seiner schriftstellerischen Laufbahn nicht mehr voluminöse Bücher, sondern nur noch Notizzettel schrieb, wenn er etwas mitzuteilen hatte. Notizzettel können also, (…), der letzte Anker sein, um menschliche Kommunikation aufrechtzuerhalten.“

Ein Zitat, heute vormittag auf einer Internetseite gelesen, ich weiß wirklich nicht mehr, wohin mich das vormittägliche Surfen geführt hatte, dieses Zitat also machte mich neugierig. Engels, ein Gelehrter auch der Sprache, des guten Ausdrucks, der schönen Formulierung, teilt sich mittels Zettel mit am Ende seines Lebens. Das ist mir, der ich doch schon viele Jahre von Friedrich Engels auf gute Weise begleitet werde, vollkommen unbekannt geblieben. Der Entdecker dieses, wie soll man sagen? Umstandes? dieses Schicksals, Hektor Haarkötter, teilt seine Erkenntnis in einem frisch erschienen Buch mit dem schlichten Titel “Notizzettel” mit. Haarkötter hat, vor seiner Tätigkeit als Hochschullehrer und Kommunikations- und Medienwissenschaftler, als Journalist gearbeitet, auch fürs Fernsehen, als ich noch beruflich tätig war mit meiner Firma, ebenfalls für Rundfunkanstalten. So haben sich die Wege seinerzeit gekreuzt und jetzt kreuzen sie sich wieder, virtuell, als Buch und Text, als Blog und Notiz. Notiz an mich: Notizzettel kaufen. Das war der Eintrag auf dem virtuellen Post-it, das ich dann angelegt habe, dem Notizzettel im Tablet, der mir hilft, schnelle Einfälle nicht zu vergessen, Ideen zu notieren, einen flüchtigen Gedanken festzuhalten.

Notiz an mich. Gedacht, geschrieben getan. Meine Buchhandlung hier am Ort, die Buchhandlung van Wahden am Markt, dürfte das Buch nicht vorrätig haben. Nahm ich an. Ist ja auch keine Universitätsbuchhandlung. Eine Untersuchung mit dem Untertitel “Denken und Schreiben im einundzwanzigsten Jahrhundert” muß gewiß bestellt werden. Von wegen. Ein Anruf. Dann war klar. Das Buch ist da. Also gekauft und begonnen zu lesen. „’Ein Zettel ist ein kleines, meist loses Stück Papier'”, heißt es in einer der seltenen definitorischen Bemühungen um den Notizzettel, nämlich der Online-Enzyklopädie Wikipedia.“ Schreibt Hektor Haarkötter. Und der Verlag beschreibt die Haarkötterschen Notizzettel folgendermaßen: „Notizzettel sind Einkaufszettel, Spickzettel, Schmierzettel, Skizzen, Karteikarten, Post-its. Sie halten Flüchtiges für das Gedächtnis fest und sind doch provisorisch, unkompliziert und vorläufig – sie organisieren Wissen. Erstmals erzählt Hektor Haarkötter die Kulturgeschichte des Notizzettels von den Anfängen bis heute und formuliert gleichzeitig dessen Theorie: Ob als politisches Kommunikationsmedium der RAF-Gefangenen, als Strukturgerüst von Literatur, als Laborbuch der Naturwissenschaften oder als Link im Internet: Der Notizzettel ist ein Aufschreibesystem, Hard- und Software in einem und: ein Vergessensmedium. Seine Bedeutung für die Kulturgeschichte des Denkens ist nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr zu unterschätzen.“

Wer das Buch nach diesem Waschzetteltext – schon wieder ein Wort, in dem der Zettel steckt: gemeint ist der Kurztext, der von Verlagen beispielsweise Redaktionen zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wird – nicht haben will und kauft, dem ist nicht zu helfen. Kulturgeschichte des Notizzettels. Vergessensmedium. Wissensorganisation.

„Es scheint auf den ersten Blick keine sehr gute Idee zu sein, das Wertvollste, was wir haben, unsere Gedanken, dem flüchtigsten Medium anzuvertrauen, das es seit Menschengedenken gibt, dem Notizzettel. Der Notizzettel ist so vergänglich wie die Gedanken selbst. So schnell, wie er zur Hand ist, so schnell ist er auch wieder fort. Wo habe ich mir das noch mal aufgeschrieben? Der Notizzettel hat viele Orte, die alles eines gemein haben: aus dem Auge, aus dem Sinn. Er teilt damit den Friedhof alles Überflüssigen und alles Unangenehmen: das Vergessen – was, nebenbei bemerkt, ein denkbarer Beleg dafür ist, dass alles Unangenehme überflüssig ist. Notizzettel auf Kühlschranktüren, Notizzettel an Toilettenspiegeln, Notizzettel auf Landkarten, Einsatzplanungswänden und Spindtüren, Notizzettel mit Klebestreifen, gelocht und beringt, Notizzettel auf Blöcken, in losen Blättern, in Karteikästen oder in ihrer edelsten Form: als Notizbuch, das für seinen Besitzer einen so enormen Wert haben kann, dass etwa der Schriftsteller Bruce Chatwin im Verlustfall einen gigantischen Finderlohn auslobte.“

Vernachlässigt sei, so Hektor Haarkötter, der Notizzettel, das “unbeschriebene Blatt oder gar nur ein Teil davon, eine Karte, ein Fetzen, ein Ausriss oder ein Schnipsel“. Und dieser Vernachlässigung entreißt der Autor den Zettel, untersucht die Notiz, würdigt sie, ja: adelt ihn, den Notizzettel. Er beschreibt die Kulturgeschichte und entwickelt eine Theorie der Notiz, bevor er sich der Frage zuwendet, ob und wie sich das Notieren in einer digitalen Informationsgesellschaft verändert.

Auf 558 Seiten. Gewiß keine Magerkost. Ein dickes Buch über die kleine und und dünne Notiz. Wissenschaft, aber in journalistischer Sprache, verstehbar, mit Witz und Esprit erzählt. Notiz an alle, die Spaß an der Sprache habe: Notizzettel kaufen. Von Hektor Haarkötter.

Erich

Mein Vater hätte heute Geburtstag, den sechsundneunzigsten. Hätte, weil er doch bereits sehr früh verstorben ist, mit Neunundfünfzig schon. Das ist nun bereits siebenundddreißig Jahre her. Eine lange Zeit. Sehr lange. Er hat den Niedergang der DDR nicht erlebt und die Wiedervereinigung der beiden Deutschländer. Er, der als Kommunist doch Hoffnungen hegte auf ein besseres Deutschland, das er im Osten vermutete. Er hat seine Enkel nicht aufwachsen sehen und konnte die Kinder nicht als Erwachsene erleben. Er hat den Aufstieg einer Partei mit rechtsextremem Flügel und ihren Einzug in den Bundestag nicht verdauen müssen. Und die antisemitischen Exzesse auf bundesdeutschen Strassen nicht. Er hat den Niedergang seiner Partei, der Kommunisten in Deutschland, und der Sozialdemokraten, in der viele seiner Freunde versammelt waren, nicht erlitten. Erich hat auch nicht mitgelebt, wie sein Sohn Filme fürs Fernsehen produziert und selbst erstellt hat. Das hätte ihn gewiß sehr interessiert. Die digitale Welt der Tablets und Mobiltelefone, eine globalisierte Welt, in der Informationen in Bruchteilen von Sekunden überall auf der Erde zur Verfügung stehen, das war noch keine Herausforderung für meinen Vater Erich. Die Möglichkeit des Bloggens wäre gewiß ein Reiz für ihn gewesen, ein Anreiz, da er doch immer mal wieder geschrieben hat in seinem Leben, Briefe, Texte zur politischen Lage, Einschätzungen und Aufgabenstellungen in seiner gewerkschaftlichen Arbeit. Die hochdigitalisierte Medienwelt mit weltweiten Lügen und Fakenews, Tee-Party, Trump, Johnson, die Eliten- und Wissenschaftsfeindlichkeit eines gehörigen Teils der Menschen hierzulande, dumpf, empathielos, nationalistisch, rückwärtsgewandt, Haß und Beleidigungen als Beifang öffentlicher Kommunikation, mit all dem und vielem mehr hatte sich der belesene Arbeiter nicht auseinanderzusetzen. Die gefährliche Pandemie mit Kontaktsperren und erheblichen Einschränkungen des Alltagslebens, mit Einsamkeit und Alleinsein zu Hause mußte dieser Mann nicht durchleben, der als Siebzehnjähriger mit dem Panzer Lebensraum im Osten suchen mußte und erst mit Fünfundzwanzig aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft heimkehren durfte an den Rhein. Der Zerfall der Sowjetunion, der Wandel Russlands zu einer nationalistisch-imperialistischen Regionalmacht ohne die Merkmale eines Rechtsstaates, einer gewachsenen Demokratie, das hätte ihn, der zum Freund der Sowjetunion und ihrer Bürger geworden ist nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht, in der Kriegsgefangenschaft, gewiß zugesetzt. Ihm war es nicht vergönnt, einen gemeinsamen Lebensabend mit meiner Mutter zu verbringen. Er starb, bevor er seine Rente in Anspruch nehmen konnte. Sehr krank, nach sehr langem Aufenthalt in Krankenhäusern. Erst, wenn ich ein wenig aufzähle, bilanziere, was ihm, Erich, erspart blieb und was er nicht erleben durfte, wird mir deutlich, wie schnell sich die Welt in den vergangenen vier Jahrzehnten dreht, wie beschleunigt Wandel sich vollzieht, wie grundlegend Erfahrungen sich ändern. Und: wie wichtig der Vater ist und wäre. Er hat mir siebenunddreißig Jahre gefehlt.

Eric Carle

Eric Carle ist tot. Einundneunzig Jahre alt. Der Name ist womöglich vielen nicht präsent. Seine Schöpfungen allerdings, die bleiben in den Köpfen und Herzen. Die kleine Raupe Nimmersatt zum Beispiel. Die bekamen und bekommen viele Kinder von ihren Eltern geschenkt, damals wie heute, seit vielen Jahrzehnten. Geschaffen von Eric Carle. Wie Varus der Grillerich, der keinen Ton herausbringt, bis er die Richtige trifft oder ein Samenkorn auf Reisen. Alles Carlesche Schöpfungen. Vor sieben Jahren habe ich schon einmal etwas über die weltberühmte Raupe geschrieben. Damals habe ich das Kinder-Bilder-Buch für ein Nachbarskind gekauft, für Frida, heute ein Schulkind, das anderswo in Wermelskirchen wohnt. Und dabei habe ich mich dann über den Marktplatz ausgelassen, an dem die Buchhandlung sich befindet, und der kein Marktplatz ist, weil ihm alles fehlt, um Markt zu machen. Kann man so heute noch lesen. Wenn Eric Carle der Anlaß ist, sich Gedanken über den Marktplatz im Wermelskirchen zu machen, ist das gut.

Gemüse, Genital?

Spargel. Das Feingemüse, schlank, weiß oder, in diesen Breiten seltener, grün gilt Feinschmeckern als Delikatesse. Das faserige Gemüse besteht überwiegend aus Wasser, wartet aber mit vielen Mineralien auf, gilt als blutreinigend und wassertreibend. Ein edles Gemüse, dem ein Denkmal zusteht, die Ehre der Kunst sozusagen. Wie in Torgau. Dort hat der Holzkünstler Mario Locke dem Spargel zu Ehren eine Holzskulptur erschaffen, die, auf dem Marktplatz stehend einem Ukas aus dem Rathaus zufolge mit Holzlatten stabilisiert werden mußte. Offenbar war der Beamtenschaft die schlanke Spargelform nicht stabil genug. Spargel. Spargel? Nein, Spargel. Jede andere Assoziation, jede andere Interpretation des Kunstwerks wäre – gemein.

Quoten-Idiot

Tja, Jens Lehmann, ein Name, den man sich wird nicht mehr merken müssen. Der ehemalige Nationaltorhüter, hat sich um Kopf und Kragen geschwätzt und trägt zu Recht den Titel des Quoten-Idioten. Ein Prominenter, der öffentlich einem Kollegen gegenüber rassistische Ansagen macht, ist seinen Prominentenstatus in unserem Land schnell los. Gottlob. Aber auch zuvor schon hat er eigenwillige, eher krude Ansichten von sich gegeben. Das schwule Outing seines Kollegen Hitzelsberger habe er nicht erwartet, da Hitzlsperger “sehr intelligent” sei und “von seiner Spielweise überhaupt nicht den Anlass gegeben hätte”. Hä? Wie spielt denn ein schwuler Abwehrspieler anders als ein Hetero-Abwehrrecke? Und verteidigt ein Kluger anders als ein Blöder? Hernach hat Lehmann in einem mittlerweile gelöschten Tweet die Zahl der Grippetoten mit der Zahl der Corona-Toten verglichen, obwohl da längst wissenschaftlicher Konsens war, dass Covid-19 weitaus gefährlicher ist. Jens Lehmann ist “aus der Zeit gefallen” wie das Fußballmagazin “Elf Freunde” schreibt. Jou. Höflich formuliert. Er hat mal gut gehalten.