Monat: September 2021

Das Modell für Heldenfotos bei der Nachtarbeit

Herr Becker, der Bundestagswahlkampf hat sich ja lange sehr mit Nebensächlichkeiten beschäftigt. Was war Ihre schönste Perle? Jürgen Becker: Die Plakate von Christian Lindner. „Nie gab es mehr zu tun.“ Er arbeitet auch nachts. Alle anderen Politikerinnen und Politiker hängen da schon längst mit ‘ner Flasche Bier auf dem Sofa, aber er ist der einzige, der schuftet. Und tagsüber jobbt er als Modell für Heldenfotos.

Aus einem Interview mit dem Kölner Kabarettisten Jürgen Becker im Remscheider General-Anzeiger vom fünfundzwanzigsten September Zweitausendundeinundzwanzig

Ups, was kommt jetzt?

Das war mein Gedanke, als sich plötzlich ein fremder Mann neben mich stellt. Also sehr nah neben mich stellt. Ich stand um die Ecke vom Heumarkt und versuchte, einen Aufkleber von einem Gasthausschild abzukratzen. “Lügenpresse” stand fett darüber. Darunter kam ein Pamphlet auf Journalisten und Journalismus. Der Ankleber hatte unverkennbar eine sehr rechte Gesinnung.
Ich kann und will meinen Beruf nicht so in den Dreck ziehen lassen. Und ich möchte, dass diejenigen, die so etwas anbringen, wissen, dass nicht alle ihrer Meinung sind. Also hatte ich angefangen, den leider sehr festklebenden Zettel abzukratzen.
Und dann stand dieser Mann neben mir. Würde er mich beschimpfen? Bedrohen? Nein. Er fing in aller Ruhe an, gemeinsam und schweigend mit mir den Aufkleber zu entfernen. “Dafür muss man sich immer Zeit nehmen”, sagte er nach einigen Sekunden. Wir lächelten. Leider haben wir den Aufkleber nicht ganz wegbekommen. Aber zumindest klargestellt, dass es so nicht geht. Für solche Situationen liebe ich Köln.

Die Kölner Journalistin Bettina Blaß in der neuesten Ausgabe ihres Newsletters Op Jück von gestern

Zukunftskoalition

Der Mann hat sein Konzept tapfer durchgezogen, bis zur letzten Sekunde an der Wahlurne einfach alles falsch zu machen. Dass er nun offenbar ernsthaft eine „Zukunftskoalition“ anführen will: für mich die Sensation des Wahlabends. 

Micky Beisenherz: Wie man den Weichen stellt, in: Süddeutsche Zeitung von heute

Sieben Jahre

Irgendwie eine magische Zahl, Sieben. Die Sieben ist die Summe von drei und vier, von Geist und Seele einerseits sowie Körper andererseits, also das Menschliche. Lehrt mich Wikipedia. In Asien gilt sie als Glückszahl und in Märchen, Sagen und Erzählungen aus weit vergangenen Zeiten taucht die Sieben häufig auf: Die sieben Zwerge hinter den sieben Bergen im Märchen von Schneewittchen, die sieben Weltwunder, die sieben Tage einer Woche und die Erschaffung der Welt in sieben Tagen im Schöpfungsmythos der hebräischen Bibel. Ich bleibe bei den Jahren. Die Sieben taucht auch bei den Jahren häufig auf: das verflixte siebte Jahr, der siebenjährige Krieg, der Siebenjahrplan. Mein siebtes Jahr ist verbunden mit dem kleinen Gerät , das sieben Jahre und vier Monate lang links in der Brust sitzend mein Herz mit Strom und Impulsen zum Herzschlag versorgt hat. Die letzten sieben Jahre verdanke ich mithin diesem Wunderwerk der Ingenieurskunst. Seit gestern trage ich ein neues dieser technischen Wunder in mir. Und hoffe auf weitere sieben Jahre und vier Monate.

Wahlansichten

(…) Beatrix von Storch in Reizwäsche

Nächsten Sonntag dann also wählen. Wird auch Zeit. Schließlich sind in Folge des warmen Spätsommers viele dieser Plakate mit lächelnden Gesichtern oder/und nichtssagenden Sprüchen an den Laternenpfählen inzwischen auf Augenhöhe gerutscht und auf ohnehin nicht breiten Gehwegen im Viertel zum echten Verkehrshindernis geworden. Vielleicht könnten sie demnächst statt Kabelbinder mal Draht verwenden. Dehnt sich bei Wärme nicht so aus. Oder diese ganze alberne Stadtvermüllung ganz lassen. Oder kennt irgendwer irgendwen, dessen Stimmabgabe mal durch so ein Plakat beeinflusst wurde? Vielleicht, wenn Beatrix von Storch sich mal in Reizwäsche ablichten ließe. Aber das möchte doch auch niemand sehen. Letztens kam mir ein Einzel-Wahlkämpfer am Waidmarkt auf dem Rad entgegen. Er hatte einen Anhänger dabei, der nach Marke Eigenbau aussah, und darauf hatte er ein großes Plakat montiert, das für die FDP warb, ohne dass Christian Lindner darauf abgebildet war. Ich wusste gar nicht, dass die Partei solche Werbeträger überhaupt hat. Ob der Mann auf dem Rad nun ein eifriger Sympathisant, ein angestellter Mini-Jobber oder ein Kölner Kandidat höchstselbst war, weiß ich nicht. Aber vermutlich wird auch er froh sein, wenn der Kampf am Sonntag ein Ende hat.


Deutsch für Deutsche

Der Dame und den beiden Herren, die ins Kanzleramt wollen, dürfte es kaum anders gehen. Seit Wochen tagsüber im Bus durch die Pampa schaukeln und auf Marktplätzen oder in Gemeindesälen die immer selben Reden halten – da hat der Spaß doch schon lange aufgehört. Und abends dann noch vor die Kameras. Vor rund zehn Jahren gab es höchstens zwei solcher Duelle im Ersten und im ZDF. Doch seit die Privaten Sender (mal wieder) eine Info-Offensive ausgerufen haben, gibt’s gleich drei Ausgaben dieser Redeshows. Und zwischendurch nahezu jeden Abend irgendwo ein Format, in dem Politiker Bürgerfragen beantworten sollen oder sich von Kindern über die Gefahren des Rauchens aufklären lassen müssen. Sehenswert wird sowas allenfalls, wenn Nachwuchsreporter auf ein schlichtes Gemüt wie AfD-Spitzenkandidat Tino Chrupalla treffen, der das „deutsche Kulturgut“ retten möchte. Auf die Frage, was das denn sei, antwortete der Mann: „Wir möchten, dass wieder mehr deutsche Volkslieder gelehrt werden, dass deutsche Gedichte gelernt werden. Dass wir auch unsere deutschen Dichter und Denker wieder mehr in den Schulen würdigen.“ Jawoll! Zu dumm nur, dass dem Denker Chrupalla auf Nachfrage nicht ein einziges Gedicht einfallen wollte. (…)

Reinhard Lüke, Bart-Shampoo für Dichter, in: Meine Südstadt