Monat: Oktober 2015

Corbyn statt Gabriel

Wie eingemauert verharrt die SPD im 25-Prozent-Keller. Das ist auch das „Verdienst“ Gabriels: Er verkörpert das Elend der deutschen Sozialdemokratie. Es mangelt ihm an Substanz, an sozialdemokratischer Grundierung. Er ist ein Machtpolitiker ohne inneren politischen Kompass. Er kann nicht überzeugen, weil es ihm an Überzeugungen fehlt. Von der Verschärfung des Asylrechts über TTIP und Vorratsdatenspeicherung bis zur Rüstungsexportpolitik: Unter Gabriels Führung gibt die SPD den perfekter Juniorpartner der Union. Deswegen ist seine Kanzlerkandidatur auch kein Aufbruchsignal. Sie zementiert vielmehr die politischen Verhältnisse. Das Glück für Gabriel ist das Dilemma all jener, die die Hoffnung auf eine gerechtere und sozialere Gesellschaft noch nicht aufgegeben haben: Die SPD hat zurzeit nichts Besseres im Angebot. Ihr fehlt ein Jeremy Corbyn.

Pascal Becker, Ein Sigmar ist kein Jeremy, in: Tageszeitung vom dreißigsten Oktober Zweitausendundfünfzehn

 

Mit Fragen leben

“Ihr habt mit Gewissheiten gelebt«, wann immer sie diesen Satz höre, denke sie, »was für ein Unsinn«, schreibt die legendäre italienische Kommunistin Rossana Rossanda in ihren Lebenserinnerungen. Das Gegenteil sei wahr gewesen: »Wir haben mit Fragen gelebt.« Soll heißen: Die Welt änderte sich ständig und stets war unklar, ob bisherige Analysen nicht über den Haufen geworfen werden mussten. Linkes Denken war niemals fix, sondern stets auf schwankendem Boden.

Robert Misik, Was Linke denken, Kindle Edition

Gastbeitrag: Persönliche Gedanken von „Jackie“ Herzog

“Willkommen in Dabringhausen” liest man als Überschrift, wenn man www.dabringhausen.info anklickt. Gemeint mit dem “Willkommen” sind wir wohl alle. Die von hier und die Hergekommenen. Jene, die vor langen Zeiten von überall hierhin geflohen sind, und die, die erst neulich kamen und immer noch kommen. Ein Informationsdienst rund um die Dabringhauser Mehrzweckhalle und die Menschen, die in der Halle vorübergehend leben müssen und die in ihr arbeiten. Ein formidabler Nachrichtendienst. Jedem zur regelmäßigen Lektüre empfohlen. Mit freundlicher Genehmigung des Verantwortlichen, Michael Jakstait, veröffentliche ich heute als ersten Gastbeitrag die “Persönlichen Gedanken” von Jackie Herzog, vom Deutschen Roten Kreuz, der Leiterin der Aufnahmeeinrichtung in der Mehrzweckhalle.

Persönliche Gedanken von “Jackie” Herzog

Relativ spontan habe ich vor ein paar Wochen der Bitte zugestimmt die Notunterkunft in Dabringhausen zu leiten. Auch wenn ich zuvor schon in Bergisch Gladbach-Sand dabei war, so wirklich gewusst auf was ich mich einlasse habe ich nicht.

Klar, viel Arbeit! Das es so viele Stunden werden, nun ja, ich bin ja robust, jetzt hatte ich ein ganze Wochenende frei, zumindest körperlich, und mir geht so vieles durch den Kopf was ich heute und auch gestern hätte machen können/sollen/müssen. 

Wenn ich an die letzten Wochen denke geht mir immer wieder „professionelle Distanz“ durch den Kopf, auch und gerade im Zusammenhang mit „meinem“ tollen Team, welches eine unglaubliche Arbeit leistet, und vor allem sehr jung ist.

Freitag haben die Flüchtlinge, die am 19. September in Dabringhausen eingetroffen sind, ihre Reise in die Regelkommunen angetreten. Dienst an diesem Tag hatten eigentlich nur zwei, alle aus meinem Team waren vor Ort – um sich zu verabschieden, einen Schlussstrich zu ziehen, um mich nicht alleine zu lassen!

Männer die in Syrien alles verloren haben, haben sich weinend von uns verabschiedet.

Kinder, die nicht so ganz verstanden warum sie schon wieder in einen Bus steigen müssen, die weinen, sich auf meinem Arm aber beruhigen lassen. Ein Kind, welches beim Umzug in die Schuberthalle weinte, weil es Angst hatte uns nicht mehr wieder zu sehen, und uns am Bus einfach nur noch mit leeren Augen angeschaut hat.

Bis der letzte Bewohner in seinem Bus saß habe ich so viele Worte des Danks gehört, versucht die Angst zu nehmen, Angst vor einer so ungewissen Zukunft. Und habe immer wieder den deutschen Satz: “Ich werde Dich nie vergessen, Danke!“ gehört.

Auch bei uns sind Tränen geflossen, aus verschiedenen Gründen , zum einen weil ein Abschied immer traurig ist, zum anderen aus Zufriedenheit. Zufriedenheit dass alle Menschen aus der Mehrzweckhalle in ein festes „Zuhause“ gehen (naja, zumindest eins mit einer abschließbaren privaten Tür).

Und Dankbarkeit, Dankbarkeit gegenüber jedem einzigen freiwilligen Helfer in der Halle. Nur weil es diese unglaubliche Hilfe der Bevölkerung gibt, hatte ich (wir) überhaupt die Chance, so intensiven Kontakt zu den Bewohnern aufzubauen. Danke!

„Professionelle Distanz“ wahren, ich glaube dass wir das tun, unsere Tränen sind eher ein Zeichen der Menschlichkeit. Ein Ventil, um Platz zu schaffen für die 144 Menschen die jetzt in der Halle sind.

Die Kommunikation ist aufgrund der vielen Sprachen diesmal deutlich schwieriger, die medizinische Betreuung intensiver. Ein Kind hat vor ein paar Wochen seine Chemotherapie beendet hat, ein junger nierentransplantierter Mann ist dabei, der mit seinem kleinen Bruder geflohen ist.

Auch diese Menschen werden wir bis zu Ihrer Busfahrt in eine ungewisse Zukunft begleiten.

Mit und gerade durch Euch!

Hinten, weit in der Türkei …

Einfache Lösungen gibt es nicht. Das liegt nicht etwa daran, dass, wie Peter Gauweiler behauptet, das geltende Recht außer Kraft gesetzt worden wäre, sondern wohl eher daran, dass es sich dem Realitätsdruck der Krise nicht gewachsen zeigt. Das Schengen-Abkommen, der Asylkompromiss von 1992, der Vertrag von Lissabon und Dublin II haben dem Exportweltmeister Deutschland erlaubt, es sich in einem Krähwinkel weitab von Konflikten „hinten, weit in der Türkei“ gemütlich zu machen. Jetzt wird es nicht von „Strömen“ überrannt, sondern sieht sich mit einer Realität konfrontiert, die die Bundeskanzlerin bei ihrem Grußwort zum Gewerkschaftstag der IG Metall mit den Worten beschrieb: „die Globalisierung tritt sozusagen in unser eigenes Haus hinein.“ Das ist eine nüchterne Sachverhaltsbeschreibung, die ihre Politik besser beschreibt als auf sie projizierte Gefühlsregungen. Die leitende Angestellte in später Nachfolge des Hamburger Weltökonomen beschreibt die Lage, wie sie ist. Andere erwecken den Eindruck, als wollten sie sich vor ihr wegducken und als sei das eine Lösung. Peter Gauweilers Idee, dass jedes Land seine eigenen Grenzen schützen können muss, hält als Norm dem Realitätsdruck nicht stand. (…) Immer deutlicher gelangt eine Kette von Versäumnissen in den Blick: dass es keine europäische Asyl- und Migrationspolitik gibt, dass es auch nach Jahrzehnten des Debattierens kein deutsches Einwanderungsgesetz gibt, dass Deutschland seinen Zahlungsverpflichtungen für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen nicht nachkommt, dass auch getroffene Beschlüsse viel zu langsam umgesetzt werden. (…) Der Politik Kontrollverlust vorzuwerfen, verkennt ihre tatsächliche Herausforderung, erzeugt als Boulevard-Trick die irrige Hoffnung, dass lautstarke Kontrollversprecher etwas besser regeln könnten als diejenigen, die sich redlich darum bemühen, der Lage gerecht zu werden. So bleibt am Ende die Hoffnung, dass sich die gemeinsamen Werte des Grundgesetzes und der Europäischen Union als belastbarere Grundlage für das politische Management der Krise und ihre Umsetzung in ordentliche Verwaltung bewähren.

Hans Hütt, Deutschlands Erfolg hat seinen Preis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom sechsundzwanzigsten Oktober Zweitausendfünfzehn

Für eine Handvoll Euro

Warum ist die Flüchtlingsproblematik automatisch Teil der Asyldebatte? Asyl ist ein wichtiges Grundrecht, aber warum gibt es keine Strukturen für Einwanderung jenseits des Asylgesetzes? Warum müssen sich Flüchtlinge, die nicht politisch oder religiös verfolgt werden, mit dem unsäglich dummen Begriff “Wirtschaftsflüchtlinge” oder gar “Wirtschaftsasylanten” beschimpfen lassen? Wir wollen unsere T-Shirts und Jeans für ein paar Euro kaufen, und wundern uns, dass die Menschen außerhalb Europas immer ärmer werden und nach Europa kommen, um Hunger und Not zu entkommen. Die “Sortierung” in “gute” und “böse” Flüchtlinge ist unfassbar arrogant und geht am Kern des Problems vorbei. Die Lösung kann nur lauten, das ausbeuterische Wirtschaftssystem, auf dessen Kosten wir in der westlichen Welt leben, gerechter zu gestalten.

Bärbel Konermann-Krüger aus Bornheim in einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung vom sechsundzwanzigsten Oktober Zweitausendfünfzehn

Nicht Nichts

AnnenMayKantereit. Jung. Aus Köln. Geile Stimme. Deutsche Texte. Nicht Nichts.

Nicht Nichts ohne dich,
Aber Weniger, viel Weniger für mich
Nicht Nichts ohne dich,
Aber Weniger, viel Weniger Für mich

Angelehnt an einen, inspiriert von einem Großmeister deutscher Texte. Erich Fried.

Ohne dich

Nicht nichts ohne dich
aber nicht dasselbe

Nicht nichts
ohne dich
aber vielleicht weniger
Nicht nichts
aber weniger
und weniger

Vielleicht nicht nichts
ohne dich
aber nicht mehr viel