Monat: Februar 2022

Angst nach dreiundachtzig Jahren 

Vor dreiundachtzig Jahren überfiel Nazideutschland Polen und löste damit den furchtbaren Zweiten Weltkrieg aus. Dreiundachtzig Jahre später überfällt Rußland, die größte Landmacht Europas, das territorial zweitgrößte Land Europas, die Ukraine. Mit der infamen Begründung unterlegt, es handele sich bei der Spitze des souveränen Staates Ukraine um Faschisten und Drogenabhängige. In meiner Lebenszeit gab es nur die Gewißheit, das es in Europa nicht mehr wieder zu einem derart furchtbaren Geschehen kommen werde, daß die Völker Europas niemals wieder Krieg gegeneinander führen und die Menschen niemals wieder auf die Schlachtbank des Nationalismus geführt würden. Der Zweite Weltkrieg war der vollkommene Verlust von Humanität und jeglicher menschlicher Kultur. Es war die bloße Barbarei. Wie angesichts dieser Erkenntnis nach dreiundachtzig Jahren erneut ein Land inmitten Europas überfallen werden kann, das zu den größten Opfern schon des Weltkrieges zählte, bleibt vollkommen schleierhaft. Vor allem in Nachkriegsdeutschland haben die Erfahrungen aus Faschismus und Krieg sowie die Erkenntnis der deutschen Schuld und Verantwortung für den Weltenbrand zu einer eher zurückhaltenden Position in der politischen Bewertung dessen geführt, was in der Sowjetunion und Rußland geschieht und als politische Strategie erdacht wird. Das Land, dessen Volk die größten Opfer im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatte, wird nunmehr mit einem barbarischen Angriffskrieg gegen ein “Brudervolk“ zum Aggressor. Die verstehbare „Friedenssehnsucht“ vor allem in Deutschland und der daraus folgende eher defensive Umgang mit russischer Politik haben, vom russischen Präsidenten alleine zu verantworten, ein jähes Ende gefunden. Die Entwicklung in Europa macht Angst, macht mir Angst.

“Mir kläwe am Lääve”

Mein alter Freund Reiner, Sozialdemokrat, Kölner und jeck, ruft Freunde, Bekannte, Nachbarn auf, an Rosenmontag in Köln für den Frieden in Europa zu demonstrieren, kostümiert oder ohne Maskerade, jedenfalls mit Schutzmaske. Nur selten ist Reiner an der Seite des Festkomitees des Kölner Karnevals zu finden. Jetzt schon. Ich schließe mich seiner Bitte, seiner Aufforderung an:

Die völkerrechtswidrige russische Invasion in der Ukraine ist ein brutaler Akt Putins gegen die Menschen dort und zugleich ein akute Bedrohung des Friedens in Europa. Möglichst viele Menschen in möglichst vielen Ländern sollten Putin auffordern, die Kriegshandlungen sofort einzustellen und seine Truppen vom Territorium der Ukraine abzuziehen. NATO und EU sind aufgerufen, möglichst schnell geeignete Sanktionen auf den Weg zu bringen. 

Gleichzeitig verbieten sich alle Gedankenspiele, militärisch in diesen Konflikt einzugreifen. Auch wenn die Versuchung groß erscheint, auf Gewalt mit Gewalt zu antworten, bleibt es dabei: Der Konflikt ist nur politisch zu lösen. Wir wollen unsere Solidarität mit den Menschen in der Ukraine, aber auch mit den Kriegsgegnern in Russland, zeigen bei einer Friedensdemonstration am Rosenmontag, zu der das Festkomitee des Kölner Karnevals, Köln stellt sich quer, Arsch huh und Klust aufrufen aufrufen.

Los geht es am Rosenmontag um zehn Uhr auf dem Chlodwigplatz mit einer kleinen Kundgebung. Lasst uns einmal mehr zeigen, dass wir Kölner:innen nicht nur feiern können, sondern auch zur Stelle sind, wenn es um Solidarität geht, für Frieden, Freiheit und Menschenrechte, gegen Unterdrückung, Krieg und Unrecht!

Das sind auch die Werte der Sozialdemokratie. Seid also am Montag dabei, mit oder ohne Kostüm, damit es eine eindrucksvolle Demonstration wird. 

Unser Motto: Nieder mit den Waffen, denn „mir kläwe am Lääve“ !

Einundsiebzig

Einundsiebzig Jahre alt bin ich kürzlich geworden. Einundsiebzig Jahre habe ich in einem Deutschland und in einem Europa leben dürfen, das nach dem Zweiten Weltkrieg zwar keineswegs gewaltfrei war und ist, in dem es aber auch keinen verheerenden Krieg zweier oder mehrerer großer europäischer Staaten gegeneinander gegeben hat. Es gab und gibt Haß und Gewalt. Immer noch. Es gab und gibt Terror, Unterdrückung und Verfolgung. Es gab die gewaltsamen Konflikte auf dem Balkan. Es gab die regionalen Kriege am Südrand der ehemaligen Sowjetunion. Es gab die bürgerkriegsähnliche Gewalt in Nordirland. Es gab und gibt terroristische Gewalt ganz unterschiedlicher Couleur in vielen europäischen Ländern auch in der Mitte des Kontinents. Es gab den nach wie vor ungeklärten Konflikt im Mittelmeer zwischen türkischen und griechischen Zyprioten. Was es bis gestern nicht gegeben hat, war der Überfall der großen Landmacht Russland auf die einst befreundete Ukraine. Nazideutschland hatte die Ukraine einst überfallen. Die Ukraine und die ukrainische Bevölkerung haben dieses einzigartige Verbrechen erlitten und eine gewaltige Last an menschlichen, ökonomischen und kulturellen Opfern tragen müssen. Und nun der Überfall von Putins Rußland. Ich schäme mich und ich gestehe, daß mir diese Entwicklung große Sorge bereitet. Die Idee vom friedlichen und Frieden schaffenden Europa beginnt zu bröckeln. Übersteigerter Nationalismus, Großmachtssucht, die wirre Verklärungen einstiger politischer und militärischer Stärke, eine kraftlose, in die Vergangenheit gerichtete und überlebte Ideologie, was auch immer Wladimir Putin zum völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine bewogen haben mag, für keinen dieser Gründe kann man Verständnis aufbringen. Ein Land, eine Staatsführung, ein Herrscher, deren Kernkompetenz in der Bedrohung liegt, nicht in der Pflege gut nachbarschaftlicher Verhältnisse, deren Macht fußt auf der Verfolgung und Unterdrückung oppositioneller Kräfte im eigenen Land sowie in den Nachbarstaaten, in denen alte Weggefährten diktatorisch herrschen und an der Macht gehalten werden, deren strategische Option im Umgang mit Nachbarstaaten die Zersetzung ist, die Allianz mit Demokratiefeinden und Rechtsextremisten, die schmutzige Produktion von Lügen und Verschwörungsmythen, ein solches Land hat nichts beizutragen zu einer friedvollen Entwicklung des Kontinents. Krieg, Zersetzung, Nationalismus, Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit sind keine angemessenen Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart. Viele der ehemaligen Vasallenstaaten hatten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion meist nichts eiligeres zu tun, als Rußland zu entkommen und unter die Fittiche anderer Schutzmächte zu schlüpfen, NATO, EU. Grundlos?Ich schäme mich für jene im eigenen Land, die, oft unter Zuhilfenahme von Argumenten, die nach historischer Verantwortung klingen, eine Beschwichtigungspolitik in Richtung Moskau und seiner Vasallenstaaten betreiben. Oder, schlimmer noch, sich ohne jede wirtschaftliche Not in ökonomische und mithin auch politische Abhängigkeit Russlands begeben. Ich schäme mich für einen ehemaligen Kanzler, der Putin in Weißwaschermanier als „lupenreinen Demokraten“ zu adeln sucht. Es geht schon lange nicht mehr um einen Ost-West-Konflikt oder seine späten Auswirkungen. Wenn Donald Trump seinen Bro Putin für dessen Krieg gegen die Ukraine lobt, wird schlagartig klar, wie fatal, wie verkommen, wie heruntergewirtschaftet Politik in Europa auch sein kann. Die Haltung zum politischen Rußland dieser Tage scheidet Demokraten von Lumpen. Und schließlich: Das erste Opfer dieses geschichtsvergessenen Überfalls auf die Ukraine sind die Menschen in Rußland. Sie werden die Rechnung zahlen müssen, die die Weltgemeinschaft präsentieren wird. Sie und die Menschen in der Ukraine. Drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Großmacht Sowjetunion ist es hohe Zeit für Demokratie im Riesenreich vor und hinter dem Ural, für Entwicklung, für Frieden und Wohlstand und Kultur.

Get Back by The Beatles 

Für „Love Me Do“, den ersten Beatlestitel aus dem Jahr Neunzehnhundertzweiundsechzig, war ich mit elf Jahren doch noch zu jung. Ein Jahr später, als „I Want To Hold Your Hand“ England überrollte und dann ganz Europa und hernach „She Loves Me“ den Taumel noch verstärkte, da war es auch um uns Zwölfjährige im Porzer Stadtgymnasium geschehen und um die Kinder und Jugendlichen aus unserem Viertel, den „Schlichtwohnungen“ in „Klein-Korea“ in Porz, seinerzeit noch aufstrebende Großstadt am südöstlichen Rand von Köln. Die „Fab Four“, John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr und sehr schnell auch ihre Epigonen bestimmten von Stund‘ an den musikalischen Geschmack in „Klein-Korea“, auch Kleidung, Habitus, Haarlänge, Benehmen, Schmuck, die Größe des Schlags an den Hosenbeinen, kurzum alles, was den Alltag pubertierender Bengels und Mädels so ausmachte. Der Stielkamm und das Kettchen am Arm waren ebenswenig wegzudenken aus dem Leben der Imitation der Idole, wie der Versuch, deren Texte zu durchschauen und sich deren Hintersinn anzueignen. Glückliche Zeit. Die Entfremdung von den Eltern, denen das alles zu neu, zu laut, zu ungewohnt, zu frech, zu unangepaßt war, wurde aufgewogen, aufgehoben von der großen Einigkeit der Jugend, der gemeinsamen Lebensidee, der geteilten Alltagskultur, der gemeinschaftlichen Abkehr von der Welt der Erwachsenen, von der Lust am Aufruhr, von der Entdeckung der Sexualität und Körperlichkeit. I Can Get No Satisfaction. Mit zwölf Jahren fing das alles an. Platten kaufen, Plattenspieler organisieren, Getränke besorgen, Feten feiern, unschuldig zunächst, voller Hingabe auch. Das pralle Leben wollte ergriffen sein. Später habe ich kaum je mehr gelernt fürs Leben an Umgangsformen, an Gemeinschaft, an Kultur, an Verständigung, an Kommunikation. An Musik, natürlich. 

In diese Welt des Zwölfjährigen, des Fünzehn- oder Siebzehnjährigen durfte ich wieder eintauchen, als mir vor ein paar Tagen mein Sohn Palle und seine Freundin Kathrin den wunderbaren Band „Get Back by The Beatles“ zum immerhin einundsiebzigsten Geburtstag schenkten. Sozusagen als Anlaß für eine Revue in die Jugendtage, in den Kulturschock: „Als wollten sie die Originalität der Beatles noch unterstreichen, kapierten versnobte Erwachsene einfach nicht, was sie auszeichnete. Noel Coward schrieb Neunzehnhundertfünfundsechzig in sein Tagebuch: ‚… Sonntagabend sah ich mir die Beatles an. Ich hatte sie nie zuvor leibhaftig erlebt. Der Lärm war von Anfang bis Ende ohrenbetäubend … ich war wahrhaftig entsetzt und schockiert über das Publikum. Es war wie eine massenhafte Masturbationsorgie.‘“ So heißt es in der bemerkenswerten Einleitung zu diesem wunderbar mit sprechenden Fotos der Beatles illustrierten Band von Hanif Kureishi unter dem Titel „All You Need“. Mit diesen verächtlichen Herabsetzungen dessen, was uns wichtig war, heilig, haben wir seinerzeit alle zu leben gelernt. „Wenn man wie ich in den Fünfzigerjahren aufwuchs, hatte man eine befremdliche Vorstellung von Kunst. (…) Die Botschaft war eindeutig: Kultur, egal welche, war eigentlich zu hoch für uns. Wir waren nicht diejenigen, für die sie gemacht war. Wobei wir Erwachsenen ohnehin misstrauten, da sie aus unserer Sicht ein größtenteils tristes und wenig beneidenswertes Leben führten. In der Schule und andernorts begegneten Erwachsene jungen Menschen mit Furcht und Neid, belächelten sie oder behandelten sie von oben herab. Was uns eigentlich als verlockende Zukunft hätte erscheinen sollen – eine Familie gründen und arbeiten gehen -, wirkte auf uns nicht sehr erstrebenswert. Und trotzdem sehnten sich junge Menschen – besonders, wenn sie Elvis oder Little Richard gehört hatten – nach einer Kunst, die sie in ihrer Frustration und ihren verwirrenden sexuellen Bedürfnissen begreifen konnten. Einer Kunst, die zu ihnen und über sie sprach, die ihnen Anlässe bot, sich auf die Zukunft zu freuen. Der Glaube an die Zukunft ist schließlich etwas sehr Kostbares. Und nichts, wozu man im Alleingang gelangt. Man braucht eine Gruppe, eine Bewegung, eine gemeinsame Kultur.“ Diese wenigen Sätze geben die Erwartungen sehr gut wieder, wie sie auch Kinder der hiesigen Unterschicht hatten. Man wird nicht alleine groß, erwachsen, klug oder umgänglich. Man braucht Freunde, eine Clique, Gleichgesinnte, Weggefährten. Man braucht gemeinsame Ziele, Idole, ähnliche Fragen, vergleichbare Ideen, Austausch, Freundschaft, Liebe, Kommunikation. Man braucht Spiritualität, Ergriffenheit, Religion, Gottesfurcht. Verstand. Führung. Nicht nur wir damals. Das gilt immer, ist universell. Man vergißt das nur allzu leicht. Ich danke Kathrin und Palle für die Zeitreise in mich selbst, die das tolle Beatles-Buch ausgelöst hat.

„Plötzlich tauchten im Fernsehen, in den Zeitungen und Zeitschriften diese jungen Menschen auf – die Beatles und andere -, noch dazu mit seltsamen und faszinierenden Frisuren; ihre Musik lief im Radio. Vor allem in London, aber nicht nur dort, gab es auf einmal so etwas wie soziale Mobilität, die Möglichkeit zu entkommen, die Chance auf eine erfülltere Zukunft. Keine Privatschule und keine der großartigen britischen Universitäten hatte diese revolutionären Jungs hervorgebracht, sondern eine zerbombte Hafenstadt im Norden. (…) Für mich war das eine Offenbarung. In der Schule wollte man uns beibringen, dass wahre Kunst, selbst wenn sie langweilig war, der moralischen Erbauung dienen und uns zu besseren Menschen machen sollte – zu kultivierteren, bewussteren und anspruchsvolleren Menschen, die mit vornehmerem Akzent sprachen. Bildung würde uns den Weg dorthin weisen. Autoritäten erklärten uns unaufhörlich, welche Veranstaltungen wir besuchen sollten, worauf es wirklich ankam und was wertlos sei. Was als Kultur galt, wurde stets streng reguliert und kontrolliert. Ihre Grenzen überwacht. Überschreiten durfte man diese nur auf eigene Gefahr. Würden die Grenzen wegfallen, bräche schließlich Chaos aus – oder etwa nicht? Die Fünfzigerjahre kurz nach dem Krieg waren eine Zeit der Verknappung gewesen und auch an Kunst herrschte Mangel. Nicht alle durften welche haben. Nicht alle konnten sie verstehen. Du jedenfalls nicht. Und auch sonst niemand wie du, von deiner Sorte und deiner sozialen Herkunft.“ Die Beatles und hernach die vielen anderen Bands und Musiker halfen uns, in England wie auch in Porz, die sozialen Barrieren zu überschreiten, Grenzen einzureißen, Trennendes zu überwinden. Uns loszusagen von den Eltern. Auf die eigene Kraft zu vertrauen. Den eigenen Standpunkt einzunehmen. Man selbst zu werden. Wir hatten es, wir Zwölf- bis Siebzehnjährigen, soviel einfacher als unsere Eltern. Mit den vier Jungs aus Liverpool und denen, die ihnen vorangingen und ihnen folgten.

She

Alice Phoebe Lou – She (Live)
SHE (Independent Release): alicephoebelou.lnk.to/she “She” – live recording in Berlin at Silent Green (filmed at two shows in Berlin – Silent Green & Passionskirche)