Monat: Oktober 2016

Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt

Carolin Emcke hat heute in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. In ihrer Dankesrede spricht sie auch über ihre Homosexualität, über Fanatismus, über Freiheit.

Von Carolin Emcke

I.

Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus… All die ersten Jahre, seit der Auszeichnung an George F. Kennan 1982, schaute ich die Verleihung des Friedenspreises von unten nach oben: Meine Eltern hatten eigenwilligerweise nur zwei Fernseh-Sessel, Kinder mussten sich unterhalb arrangieren und so lag ich auf dem Teppich und hörte gebannt die Reden der Preisträger. Ich sage “Preisträger”, denn die ersten dreizehn Jahre, die ich von unten nach oben blickte, waren es ausschließlich Männer. Auch als ich längst eine eigene Wohnung hatte, behielt ich dieses Ritual bei: Ich betrachtete den Friedenspreis vom Fußboden aus. Irgendwie schien das auch angemessen zu sein. Seit der Preisverleihung an David Grossman saß ich dort, wo Sie jetzt sitzen.

Letztes Jahr noch bin ich mit einem Freund am Vorabend der Verleihung nachts in den Festsaal im Frankfurter Hof geschlichen, um die Tischordnung für das Festessen zu manipulieren (wobei wir peinlicherweise erwischt wurden) und jetzt das hier…

Weil geredet werden kann

Carolin Emcke, Publizistin und Autorin der Süddeutschen Zeitung, erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Von Jens Bisky mehr …
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Meine Damen und Herren, ich bedanke mich beim Stiftungsrat des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels für diese Auszeichnung. Sie erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit und einem glücklichen Staunen.

Niemand wächst allein. Einige, die hier an dieser Stelle vor mir standen, waren für mein Denken existentiell. Die Werke vieler Friedenspreisträger*innen, aber auch die Begegnung mit manchen haben mich zu der gemacht, als die ich heute schreibe: Martin Buber und Nelly Sachs, David Grossman und Jorge Semprun, und in besonderer Weise Jürgen Habermas und Susan Sontag. Nach ihnen in einer Reihe zu stehen, lässt mich diesen Preis weniger als Auszeichnung denn als Aufgabe begreifen.Niemand schreibt allein. Zwei Menschen waren für mein Schreiben unverzichtbar und ihnen möchte ich ausdrücklich danken: der Photograph und Freund Sebastian Bolesch, der mich über 14 Jahre auf allen Reisen ins Ausland begleitet hat und ohne den kein Text so entstanden wäre. Und mein Verleger und Lektor Peter Sillem vom S. Fischer Verlag, der mich seit dem ersten Manuskript über alle Zweifel hinwegträgt und ohne den kein Buch so erschienen wäre. Vielen Dank.

II.

Nicht alle, aber viele, die vor mir hier standen, haben nicht allein als Individuen, sondern sie haben auch als Angehörige gesprochen. Sie haben sich selbst verortet in einem Glauben oder einer Erfahrung, in der Geschichte eines Landes oder einer Lebensform – und darauf reflektiert, was das heißt, als chinesischer Dissident, als nigerianischer Autor, als Muslim, als Jüdin hier in der Paulskirche zu sprechen, in diesem Land, mit dieser Geschichte.

Für diejenigen, die hier oben, mit dieser Perspektive sprechen durften, bedeutete es oft auch, aus und von einer besonderen Perspektive zu erzählen. Sie waren eingeladen und sie wurden ausgezeichnet, weil sie sich für ein universales Wir einsetzten – und doch haben sie oft auch als Angehörige einer bedrängten Gruppe, eines marginalisierten Glaubens, einer versehrten Gegend gesprochen. Das ist durchaus bemerkenswert, denn es ist keineswegs gewiss, was das heißt: angehörig oder zugehörig zu sein.

Das moderne hebräische Wort für “angehören”, “shayach”, stammt ursprünglich aus dem Aramäischen – ist gleichsam zugewandert, aus einer Sprache in eine andere, um dann ironischerweise die Bezeichnung für “Angehörigkeit” zu bilden. Das Wort shayach verweist auf nichts anderes. Anders als die meisten anderen Begriffe im Hebräischen birgt es in sich keine Anteile eines anderen. Es gehört gleichsam sich selbst. Etwas als shayach zu bezeichnen, bedeutet: es ist relevant, angemessen, wichtig. Das wäre eine schöne Spur: sich zugehörig zu zählen zu einem Glauben oder einer Gemeinschaft, hieße: ich bin für diese Gemeinschaft relevant, in ihr zähle ich als wichtiges Element.

Aber Angehörigkeit lässt sich auch in die andere Richtung denken: nicht nur ich bin für diese Gemeinschaft wichtig, sondern auch der Glaube für mich. Jüdisch zu sein oder katholisch oder muslimisch, das macht etwas aus. Es strukturiert mein Denken, meine Gewohnheiten, meinen Tag. Almosen zu geben, das gehört zu den einen, wie das Beten bei Tisch oder das Anzünden der Kerzen zu den anderen.

Im Deutschen kennt der Begriff “gehören” mehrere Verwendungen: i) jemandes Besitz zu sein, aber auch ii) Teil eines Ganzen zu sein, zu etwas zu zählen, sowie iii) “gehören” als an einer bestimmten Stelle passend zu sein und für etwas erforderlich zu sein. Bin ich, wenn ich fromm bin, im Besitz des Glaubens? Ist Religiosität etwas, das mir gehört? Oder ist Glaube etwas, das sich im und durch das Hadern bestätigt? Was heißt also an-gehören in Bezug auf den Glauben? Gehört mir mein Glaube oder gehöre ich dem, an den ich glaube?

Damit ist noch nicht einmal berührt, ob diese Angehörigkeit etwas ist, zu dem es sich bewusst entscheiden lässt. Ab wann jemand zu einer Kirche oder Gemeinschaft gehört, das lässt sich festmachen an den jeweiligen Riten der Aufnahme. Aber ab wann der Glaube zu einer Person gehört, das ist weniger eindeutig. Hatten mich die Passionen und Kantaten von Bach nicht schon durchdrungen und von innen heraus geformt, bevor ich von einem Glaubensbekenntnis auch nur wusste? Gehörte das nicht zu mir, und das heißt: bildete das nicht schon eine Voraussetzung für die, die ich werden sollte, bevor ich mich überhaupt zu einer Gemeinschaft hätte zugehörig erklären können?

Nun kennt das Wort “Angehörigkeit” keine Schattierungen. Es suggeriert eine einheitliche Empfindung. Als ob es uns immer gleich relevant sei, jüdisch oder protestantisch oder muslimisch zu sein, . Als ob es sich an jedem Ort gleich anfühlte, kurdisch zu sein oder polnisch oder palästinensisch. Als ob es nicht in unterschiedlichen Situationen ganz unterschiedlich prägnant sein könnte. Mein Freund, der Regisseur Nurkan Erpulat, hat einmal auf die Frage, was es für ihn bedeute, muslimisch zu sein, geantwortet: “Das kommt auf den Kontext an.” Manchmal ist die argentinische Herkunft besonders deutlich im glücklichen Blick auf die leuchtend lilafarbenen Blüten der Jacaranda. Aber manchmal ist sie besonders deutlich fern von dort, in Berlin, wenn ein Hubschrauber über der Stadt nicht von einem Militär-Putsch kündet, sondern nur von einem Stau – und die eingeübte Angst eine Weile braucht, bis sie sich verzieht.

Für manche wird das eigene Judentum besonders spürbar, wenn sie die Süße von Äpfeln mit Honig an Rosh ha’shana schmecken. Für andere dagegen, wenn sie in der Paulskirche sitzen und einer Rede zuhören müssen, in der das furchtbare Leid der eigenen Angehörigen von einem Menschheitsverbrechen, an das bis heute zu erinnern ist, zu einer bloßen “Moralkeule” verstümmelt wird. Ist Zugehörigkeit also etwas, das aufscheint im Zusammensein mit anderen oder etwas, das aufscheint, wenn man als einziger aus einer Gemeinschaft herausfällt? Weil die jüdische Perspektive als eine, die zu dieser Gesellschaft gehört, einfach ausgeblendet wird. Ist Zugehörigkeit also mit Glück oder mit Trauer verbunden? Ist zugehörig, wer als zugehörig erkannt wird und ist anders zugehörig, wem diese Anerkennung verweigert wird?

Wem gehört also dieses An-gehören – einem selbst oder den anderen? Gibt es das nur in einer Form oder in verschiedenen? Und vor allem: wie viele Kontexte und Verbindungen können für mich in diesem Sinne relevant und wichtig sein? Wie viele Schnittmengen gibt es von Kreisen, in denen ich passend bin und aus denen ich mich als Individuum zusammensetze? Ich bin homosexuell und wenn ich hier heute spreche, dann kann ich das nur, indem ich auch aus der Perspektive jener Erfahrung heraus spreche: also nicht nur, aber eben auch als jemand, für die es relevant ist, schwul, lesbisch, bisexuell, inter*, trans* oder queer zu sein. Das ist nichts, das man sich aussucht, aber es ist, hätte ich die Wahl, das, was ich mir wieder aussuchte zu sein. Nicht, weil es besser wäre, sondern schlicht, weil es mich glücklich gemacht hat. Als ich mich das erste Mal in eine Frau verliebte, ahnte ich – ehrlich gesagt – nicht, dass damit eine Zugehörigkeit verbunden wäre. Ich glaubte noch, wie und wen ich liebe, sei eine individuelle Frage, eine, die vor allem mein Leben auszeichnete und für andere, Fremde oder gar den Staat, nicht von Belang.

Jemanden zu lieben und zu begehren, das schien mir vornehmlich eine Handlung oder Praxis zu sein, keine Identität. Es ist eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung, dass etwas so Persönliches für andere so wichtig sein soll, dass sie für sich beanspruchen, in unsere Leben einzugreifen und uns Rechte oder Würde absprechen wollen. Als sei die Art, wie wir lieben, für andere bedeutungsvoller als für uns selbst, als gehörten unsere Liebe und unsere Körper nicht uns, sondern denen, die sie ablehnen oder pathologisieren. Das birgt eine gewisse Ironie: Als definierte unsere Sexualität weniger unsere Zugehörigkeit als ihre.

Manchmal scheint mir das bei der Beschäftigung der Islamfeinde mit dem Kopftuch ganz ähnlich. Als bedeutete ihnen das Kopftuch mehr als denen, die es tatsächlich selbstbestimmt und selbstverständlich tragen. So wird ein Kreis geformt, in den werden wir eingeschlossen, wir, die wir etwas anders lieben oder etwas anders aussehen, dem gehören wir an, ganz gleich, in oder zwischen welchen Kreisen wir uns sonst bewegen, ganz gleich, was uns sonst noch auszeichnet oder unterscheidet, ganz gleich, welche Fähigkeiten oder Unfähigkeiten, welche Bedürfnisse oder Eigenschaften uns vielleicht viel mehr bedeuten. So verbindet sich etwas, das uns glücklich macht, etwas, das uns schön oder auch angemessen erscheint, mit etwas, das uns verletzt und wund zurücklässt. Weil wir immer noch, jeden Tag, Gründe liefern sollen dafür, dass wir nicht nur halb, sondern ganz dazugehören. Als gäbe es eine Obergrenze für Menschlichkeit.

Es ist eine merkwürdige Erfahrung: Wir dürfen Bücher schreiben, die in Schulen unterrichtet werden, aber unsere Liebe soll nach der Vorstellung mancher Eltern in Schulbüchern maximal “geduldet” und auf gar keinen Fall “respektiert” werden? Wir dürfen Reden halten in der Paulskirche, aber heiraten oder Kinder adoptieren dürfen wir nicht? Manchmal frage ich mich, wessen Würde da beschädigt wird: unsere, die wir als nicht zugehörig erklärt werden, oder die Würde jener, die uns die Rechte, die zu uns gehören, absprechen wollen? Menschenrechte sind kein Nullsummenspiel. Niemand verliert seine Rechte, wenn sie allen zugesichert werden.

Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird. Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen. Das ist der Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft.

Verschiedenheit ist kein Grund für Ausgrenzung. Ähnlichkeit keine Voraussetzung für Grundrechte. Das ist großartig, denn es bedeutet, dass wir uns nicht mögen müssen. Wir müssen einander nicht einmal verstehen in unseren Vorstellungen vom guten Leben. Wir können einander merkwürdig, sonderbar, altmodisch, neumodisch, spießig oder schrill finden. Um es für Paulskirchen-Verhältnisse mal etwas salopp zu formulieren: ich bin Borussia Dortmund-Fan. Ich habe, nun ja, etwas weniger Verständnis dafür, wie man Schalke Fan sein kann. Und doch käme ich nie auf die Idee, Schalke-Fans das Recht auf Versammlungsfreiheit zu nehmen.

“Die Verschiedenheit verkommt zur Ungleichheit”, hat Tzvetan Todorow einmal geschrieben, “die Gleichheit zur Identität.” Das ist die soziale Pathologie unserer Zeit: dass sie uns einteilt und aufteilt, in Identität und Differenz sortiert, nach Begriffen und Hautfarben, nach Herkunft und Glauben, nach Sexualität und Körperlichkeiten spaltet, um damit Ausgrenzung und Gewalt zu rechtfertigen. Deswegen haben diejenigen, die vor mir hier standen und wie ich von einer besonderen Perspektive gesprochen haben, doch beides betont: die individuelle Vielfalt und die normative Gleichheit. Die Freiheit, etwas anders zu glauben, etwas anders auszusehen, etwas anders zu lieben, die Trauer, aus einer bedrohten oder versehrten Gegend oder Gemeinschaft zu stammen, den Schmerz der bitteren Gewalterfahrung eines bestimmten Wirs – und die Sehnsucht, schreibend eben all diese Zugehörigkeiten zu überschreiten, die Codes und Kreise in Frage zu stellen und zu öffnen, die Perspektiven zu vervielfältigen und immer wieder ein universales Wir zu verteidigen.

III.

Zurzeit grassiert ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa. Pseudo-religiöse und nationalistische Dogmatiker propagieren die Lehre vom “homogenen Volk”, von einer “wahren” Religion, einer “ursprünglichen” Tradition, einer “natürlichen” Familie und einer “authentischen” Nation. Sie ziehen Codes und Begriffe ein, mit denen die einen aus- und die anderen eingeschlossen werden sollen. Sie teilen willkürlich auf und ein, wer dazugehören darf und wer nicht.

Alles Dynamische, alles Vieldeutige an den eigenen kulturellen Bezügen und Kontexten wird negiert. Alles individuell Einzigartige, alles, was uns als Menschen, aber auch als Angehörige ausmacht: unser Hadern, unsere Verletzbarkeiten, aber auch unsere Fantasien vom Glück, wird geleugnet. Wir werden sortiert nach Identität und Differenz, werden in Kollektive verpackt, alle lebendigen, zarten, widersprüchlichen Zugehörigkeiten verschlichtet und verdumpft.

Sie stehen vielleicht nicht selbst auf der Straße und verbreiten Angst und Schrecken, die Populisten und Fanatiker der Reinheit, sie werfen nicht unbedingt selbst Brandsätze in Unterkünfte von Geflüchteten, reißen nicht selbst muslimischen Frauen den hijab oder jüdischen Männern die Kippa vom Kopf, sie jagen vielleicht nicht selbst polnische oder rumänische Europäerinnen, greifen vielleicht nicht selbst schwarze Deutsche an – sie hassen und verletzen nicht unbedingt selbst. Sie lassen hassen. Sie beliefern den Diskurs mit Mustern aus Ressentiments und Vorurteilen, sie fertigen die rassistischen Product-Placements, all die kleinen, gemeinen Begriffe und Bilder, mit denen stigmatisiert und entwertet wird, all die Raster der Wahrnehmung, mithilfe derer Menschen gedemütigt und angegriffen werden.

Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nicht nur diejenigen, die er sich zum Opfern sucht, sondern alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen, Reinen, Völkischen verengt die Welt. Es schmälert den Raum, in dem wir einander denken und sehen können. Es macht manche sichtbar und andere unsichtbar. Es versieht die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziationen und die anderen mit abwertenden. Es begrenzt die Fantasie, in der wir einander Möglichkeiten und Chancen zuschreiben. Mangelnde Vorstellungskraft und Empathie aber sind mächtige Widersacher von Freiheit und Gerechtigkeit. Das ist eben das, was die Fanatiker und Populisten der Reinheit wollen: sie wollen uns die analytische Offenheit und Einfühlung in die Vielfalt nehmen. Sie wollen all die Gleichzeitigkeiten von Bezügen, die uns gehören und in die wir gehören, dieses Miteinander und Durcheinander aus Religionen, Herkünften, Praktiken und Gewohnheiten, Körperlichkeiten und Sexualitäten vereinheitlichen

Sie wollen uns weismachen, dass es das nicht gäbe, demokratischen Humanismus. Sie wollen Pässe als Ausweise der inneren Verfasstheit missdeuten, nur um uns gegeneinander auszuspielen. Das hat auch etwas Groteskes: Jahrzehntelang hat diese Gesellschaft geleugnet, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, jahrzehntelang wurden Migrantinnen und Migranten als “Fremde” angesehen, nicht als Bürgerinnen und Bürger, jahrzehntelang wurden sie behandelt als gehörten sie nicht dazu, als dürften sie nichts anderes sein als Türken – und jetzt wirft man ihnen vor, sie wären nicht deutsch genug und besäßen noch einen zweiten Pass?

Die Familie meiner Mutter ist vor dem Krieg ausgewandert nach Argentinien. Alle in ihrer Familie besaßen zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Pässe, mal einen argentinischen, mal einen deutschen, manchmal beide. Ich habe sie zuhause bei mir aufgehoben: den Pass meines Großvaters, den mir mein Onkel geschenkt hat, und den meiner Mutter. Meine Nichte Emilia, die heute hier ist und die wie alle ihre Geschwister in den USA geboren ist, hat auch einen amerikanischen Pass. Mehrsprachig waren und sind alle.

Aber glauben die Neonationalisten wirklich, irgendjemand in meiner Familie wäre weniger demokratisch gewesen, hätte deswegen weniger Respekt vor der Freiheit jedes Einzelnen und dem Schutz menschlicher Würde? Glauben die wirklich, der Pass sage etwas aus über die eigene Abneigung gegen Verrohung und die Bereitschaft, sich demokratisch für eine offene Gesellschaft zu engagieren – und zwar, egal wo?

Ich vermute eher, alle, die einmal vertrieben wurden, die Flucht oder auch nur Migration kennen, alle, die sich an verschiedenen Orten in der Welt zu Hause fühlen, alle, die mit Heimweh oder Fernweh geplagt sind, alle, die die verschiedenen Klangfarben der Ironie und des Humors lieben, die sich abwechseln und vermischen, wenn man die Sprache wechselt, alle, die Kinderlieder erinnern, die die nächste Generation nicht mehr kennt, alle, die die Brüche der Gewalt und des Kriegs miterlebt haben, alle, denen die Furcht vor Terror und Repression unter die Haut gezogen ist, wissen doch um den Wert stabiler rechtsstaatlicher Institutionen und einer offenen Demokratie. Vielleicht sogar etwas mehr als diejenigen, die noch nie darum bangen mussten, sie zu verlieren.

Sie wollen uns einschüchtern, die Fanatiker, mit ihrem Hass und ihrer Gewalt, damit wir unsere Orientierung verlieren und unsere Sprache. Damit wir voller Verstörung ihre Begriffe übernehmen, ihre falschen Gegensätze, ihre konstruierten Anderen – oder auch nur ihr Niveau. Sie beschädigen den öffentlichen Diskurs mit ihrem Aberglauben, ihren Verschwörungstheorien und dieser eigentümlichen Kombination aus Selbstmitleid und Brutalität. Sie verbreiten Angst und Schrecken und reduzieren den sozialen Raum, in dem wir uns begegnen und artikulieren können.

Sie wollen, dass nur noch Jüdinnen und Juden sich gegen Antisemitismus wehren, dass nur noch Schwule gegen Diskriminierung protestieren, sie wollen, dass nur noch Muslime sich für Religionsfreiheit engagieren, damit sie sie dann denunzieren können als jüdische oder schwule “Lobby” oder “Parallelgesellschaft”, sie wollen, dass nur noch Schwarze gegen Rassismus aufbegehren, damit sie sie als “zornig” diffamieren können, sie wollen, dass sich nur Feministinnen gegen Machismo und Sexismus engagieren, damit sie sie als “humorlos” bespötteln können. In Wahrheit geht es gar nicht um Muslime oder Geflüchtete oder Frauen. Sie wollen alle einschüchtern, die sich einsetzen für die Freiheit des einzigartigen, abweichenden Individuellen. Deswegen müssen sich auch alle angesprochen fühlen. Deswegen lässt sich die Antwort auf Hass und Verachtung nicht einfach nur an “die Politik” delegieren. Für Terror und Gewalt sind Staatsanwaltschaften und die Ermittlungsbehörden zuständig, aber für all die alltäglichen Formen der Missachtung und der Demütigung, für all die Zurichtungen und Zuschreibungen in vermeintlich homogene Kollektive, dafür sind wir alle zuständig.

Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt

Was wir tun können? “Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden,” schrieb Hannah Arendt in der Vita Activa, “und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.” Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heißt: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt. Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: die Begabung zum Anfangen. Wir können hinausgehen und etwas unterbrechen. Wir können neu geboren werden, in dem wir uns einschalten in die Welt. Wir können das, was uns hinterlassen wurde, befragen, ob es gerecht genug war, wir können das, was uns gegeben ist, abklopfen, ob es taugt, ob es inklusiv und frei genug ist – oder nicht. Wir können immer wieder anfangen, als Individuen, aber auch als Gesellschaft. Wir können die Verkrustungen wieder aufbrechen, die Strukturen, die uns beengen oder unterdrücken, auflösen, wir können austreten und miteinander suchen nach neuen, anderen Formen. Wir können neu anfangen und die alten Geschichten weiterspinnen wie einen Faden Fesselrest, der heraushängt, wir können anknüpfen oder aufknüpfen, wir können verschiedene Geschichten zusammen weben und eine andere Erzählung erzählen, eine, die offener ist, leiser auch, eine, in der jede und jeder relevant ist.

Das geht nicht allein. Dazu braucht es alle in der Zivilgesellschaft. Demokratische Geschichte wird von allen gemacht. Eine demokratische Geschichte erzählen alle, nicht nur die professionellen Erzählerinnen und Erzähler. Da ist jede und jeder relevant, alte Menschen und junge, die mit Arbeit und die ohne, die mit mehr und die mit weniger Bildung, Dragqueens und Pastoren, Unternehmerinnen oder Offiziere, jede und jeder ist wichtig, um eine Geschichte zu erzählen, in der alle angesprochen und sichtbar werden. Dafür stehen Eltern und Großeltern ein, daran arbeiten Erzieher und Lehrerinnen in den Kindergärten und Schulen, dabei zählen Polizistinnen und Sozialarbeiter, Clubbesitzer und Türsteher. Diese demokratische Geschichte eines offenen, pluralen Wir braucht Bilder und Vorbilder, auf den Ämtern und Behörden ebenso wie in den Theatern und Filmen – damit sie uns zeigen und erinnern, was und wer wir sein können.

Wir dürfen uns nicht nur als freie, säkulare, demokratische Gesellschaft behaupten, sondern wir müssen es dann auch sein. Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut. Säkularisierung ist kein fertiges Ding, sondern ein unabgeschlossenes Projekt. Demokratie ist keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit Ungewissheiten und Kritik. Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder. Im Zuhören aufeinander. Im Nachdenken über einander. Im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten. Und nicht zuletzt im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen.

Ist das mühsam? Ja, total. Wird das zu Konflikten zwischen verschiedenen Praktiken und Überzeugungen kommen? Ja, gewiss. Wird es manchmal schwer sein, die jeweiligen religiösen Bezüge und die säkulare Ordnung in eine gerechte Balance zu bringen? Absolut. Aber warum sollte es auch einfach zugehen? Wir können immer wieder anfangen. Was es dazu braucht? Nicht viel: etwas Haltung, etwas lachenden Mut und nicht zuletzt die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern, damit es häufiger geschieht, dass wir alle sagen: Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus.

Vom Folk zur noblen Literatur

Zweiundfünfzig Jahre ist es alt, dieses Videostückchen vom Newport Folk Festival. Damals hieß es noch Folk, was Robert Allan Zimmerman da sang. Ab heute sind seine Texte geadelt. Als Literatur. Nein: große Literatur. Preiswürdige Literatur.

Hey, Mr. Tambourine Man, play a song for me
I’m not sleepy and there ain’t no place I’m going to
Hey, Mr. Tambourine Man, play a song for me
In the jingle jangle morning I’ll come following you
Though I know that evenings empire has returned into sand
Vanished from my hand
Left me blindly here to stand but still not sleeping
My weariness amazes me, I’m branded on my feet
I have no one to meet
And the ancient empty street’s too dead for dreaming
Hey, Mr. Tambourine Man, play a song for me
I’m not sleepy and there ain’t no place I’m going to
Hey, Mr. Tambourine Man, play a song for me
In the jingle jangle morning I’ll come following you
Take me on a trip upon your magic swirling ship
My senses have been stripped
My hands can’t feel to grip
My toes…

Grau

Weisheit hatte früher viel mit Weißheit zu tun: je grauer, desto schlauer. Nachzulesen ist das in der Bibel (Buch der Sprüche sechzehn, einunddreißig): “Graue Haare sind eine Krone der Ehre; auf dem Weg der Gerechtigkeit wird sie gefunden.” Die Weisheitsliteratur Salomos kennt heute kaum noch einer.

Titus Arnu, Stilkritik. Graue Haare. Heidi Klum hat ein Foto für uns. Ein Beweisfoto, das wir gar nicht sehen wollen. Aber seien wir nicht so haarspalterisch!, in: Süddeutsche Zeitung vom zehnten Oktober Zweitausendundsechzehn

Fünftausend

Fünftausend Kilometer. Das ist seit dem Juli letzen Jahres meine persönliche Zwischenbilanz. Auf dem Rad. Überwimg_4981iegend erstrampelt auf der hiesigen Radtrasse und Nebenstrecken links und rechts der ehemaligen Bahnstrecke. Seit eineinviertel Jahren. Immerhin. Wie ich schon einmal hier geschrieben hatte: für einen älteren Herren mit Schrittmacher und Raucherlunge geht das. Mein Sohn Palle hat mich heute begleitet auf dem Weg nach Burscheid und zurück. Er war zumeist dabei, wenn ich eine glatte Tausenderzahl zu melden hatte. Und ab sofort arbeite ich am nächsten Tausender. Nach sechstausend Kilometern sollte hier wieder was vom Radeln zu lesen und der Tachometerstand zu sehen sein. Auf denn.

Die Ironie der Missionarsstellung: Von der A-tergo-Zeit zum Face-to-Face-Liebesspiel

Das Wort Missionarsstellung enthält eine unberechtigte Ironie. Die christlichen Prediger haben fremden Völkern nicht nur das Evangelium gebracht, sondern auch die Idee, dass der Begegnungs-Charakter von Sexualität ernst genommen werden muss. Wie in Paris, also auch im Busch. Kurzum, der Übergang von der A-tergo-Zeit zum personalisierten Face-to-face-Liebesspiel darf unter keinen Umständen ins Lächerliche gezogen werden.

Der Philosoph Peter Sloterdijk im Interview mit S. Michaelsen, D. Pfeifer und V. SchröderGuter Sex braucht Freiheit. Die erotische Revolution sollte das gesellschaftliche Bewusstsein erweitern. Heute herrschen zwischen Frauen und Männern aber oft Misstrauen und Unsicherheit, in: Süddeutsche Zeitung vom siebzehnten September Zweitausendundsechzehn

Rede von Bundestagspräsident Norbert Lammert zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2016 in Dresden

Man muss es nicht mehr aufregend finden, dass wir – mehr als ein Vierteljahrhundert nach Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands – unseren Nationalfeiertag schon zum zweiten Mal hier in Dresden feiern. Aber freuen dürfen wir uns durchaus darüber, dass selbstverständlich geworden ist, was über Jahrzehnte völlig ausgeschlossen schien. Die erste Dresdner Einheitsfeier 2000 hat eine große deutsche Zeitung unter der Überschrift „Bratwurst und Barock“ als Veranstaltung beschrieben, bei der „den Deutschen an diesem zehnten Jahrestag der wiedererlangten Einheit das fröhliche Feiern nicht so recht gelingen will“. Seitdem ist manches anders geworden – in diese wie in jene Richtung. Rundum fröhlich ist Dresden auch in diesem Jahr nicht – und Deutschland auch nicht. Das Jahr 2016 macht Zusammenhänge, aber auch Spannungen deutlich, mit denen Europa und seine Nachbarn im 21. Jahrhundert zu tun haben:
In Großbritannien haben die Wähler in einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit beschlossen, aus der Europäischen Union auszutreten. Die junge Generation, die von dieser Entscheidung am längsten betroffen sein wird, hat daran am wenigsten teilgenommen. In der Türkei haben Teile der Armee die demokratisch gewählte Regierung durch einen Putsch gewaltsam stürzen wollen, und sind am Widerstand der Bevölkerung gescheitert, die nun die bittere Erfahrung macht, dass die Verfassungsordnung nicht nur von Militärs herausgefordert wird. In Syrien und den angrenzenden Regionen erleben die Menschen nun schon im fünften aufeinanderfolgenden Jahr die gnadenlose Anwendung brutaler militärischer Gewalt, die Hunderttausenden das Leben gekostet und Millionen aus ihren zerstörten Heimatorten vertrieben hat. An der östlichen Grenze Europas dauern die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Ukraine und Russland ebenso an wie die völkerrechtswidrige Annexion der Krim.
Allein diese Konflikte zeigen deutlich, dass die europäische Friedensordnung, wie sie in der Charta von Paris im Jahr 1990 von den europäischen Mitgliedsstaaten der KSZE, den USA, Kanada, der Sowjetunion und der Türkei feierlich bekräftigt wurde, weder selbstverständlich war, noch ein für allemal gesichert ist. Die Unterzeichner bekundeten damals ausdrücklich die Anerkennung nationaler Selbstbestimmung, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und die Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen. Es war ein Glücksversprechen – und es richtete sich an einen historisch zerstrittenen Kontinent, der wie unser Land lange geteilt war und dem – wie Deutschland auch – Einheit und Demokratie nun dauerhaft beschieden sein sollten. Der Triumph der Demokratie in ganz Europa war nicht „das Ende der Geschichte“, wie kluge Beobachter voreilig verkündeten. Die Geschichte war offen – und das ist sie auch heute. Wir Deutsche haben die Geschicke damals zum Glück in die Hand genommen – mit kräftiger Unterstützung unserer Nachbarn und Freunde. Wir, Sie alle, haben das Land gestaltet im Bewusstsein unserer besonderen Geschichte.
Meine Damen und Herren,vor 100 Jahren, im Dezember 1916, mitten im ersten Weltkrieg, erhielt das Eingangsportal unseres Parlaments in Berlin als Widmung die markante Inschrift: „Dem deutschen Volke“, das Reichstagsgebäude selbst war damals bereits 22 Jahre alt. Die Festlegung auf eine Inschrift war im Kaiserreich ebenso umstritten wie die Volksvertretung selbst. Dem Kaiser wurden die Worte „Dem deutschen Reich“ vorgeschlagen, Wilhelm II. plädierte für den Schriftzug „Der deutschen Einigkeit“ – er misstraute dem Parlament als einem Ort widerstreitender Meinungen und Interessen und beschwor die nationale Geschlossenheit. Alles nur Geschichte? Die vor einhundert Jahren beschlossene Widmung „Dem deutschen Volke“, die dem im Kriegsverlauf zunächst gewachsenen Selbstvertrauen der meisten damaligen Parlamentarier entsprach, konnte unmittelbar vor Weihnachten 1916 montiert werden. Es war das Jahr brutaler deutsch-französischer Schlachten um Verdun und an der Somme, an deren Ende es ohne wesentliche Verschiebung des Frontverlaufs und damit ohne Geländegewinne auf beiden Seiten mehr als hunderttausend Tote gab. Die Lettern der Widmung waren aus eingeschmolzenen französischen Kanonenkugeln gegossen – erbeutet in den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Die Bronzegießerei Loewy gehörte einer jüdisch-deutschen Familie, deren Sohn sich vom Judentum abgewandt hatte. Er ließ sich taufen, und nachdem er sich 1918 hatte adoptieren lassen, glaubte er sich mit seinem neuen Namen Erich Gloeden sicher – zu sicher. Von den Nationalsozialisten wurde er verhaftet, weil er Verfolgten geholfen hatte – darunter auch einem General aus dem Widerstand des 20. Juli. Gloedens Frau, seine Schwiegermutter und er selbst wurden im November 1944 in Plötzensee durch das Fallbeil getötet.
Erich Gloedens Geschichte zeigt beispielhaft, wie in unserem Land noch vor wenigen Generationen Menschen ausgeschlossen wurden aus der Nation, deren selbstverständliche Mitglieder sie waren, wie sie Rechte und Schutz verloren, ausgeliefert waren – in einer Zeit, da die Weimarer Republik zerschlagen, der Reichstag ausgebrannt, das Parlament entmachtet und politische Gegner an Leib und Leben bedroht waren. Geschichte. Die Nationalgeschichte jedes Landes ist die Summe der vielen, persönlichen Geschichten von Menschen, die meist unbeobachtet bleiben oder schnell vergessen werden. Geschichten wie die Erich Gloedens zählen zu unserem historischen Erbe. Sie sind uns Verpflichtung und sie lassen uns gerade am Nationalfeiertag auch darüber nachdenken, wie und was sich in den vergangenen einhundert Jahren glücklich gewandelt hat, wer und was deutsch ist und wen Deutschland heute in seine Rechtsordnung einschließt – für wen die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages unter der Widmung „Dem deutschen Volke“ Gesetze debattieren und beschließen.
Angesichts vieler Veränderungen, der objektiven Schwierigkeiten und der bisweilen auch zu Unrecht aufgetürmten scheinbaren Probleme, die uns heute beschäftigen, steht außer Frage, dass „dem deutschen Volke“ selbst aufgegeben ist, nach einer zeitgemäßen Bestimmung dessen, was Deutschland im 21. Jahrhundert sein will, zu suchen. Darüber darf und muss gestritten werden. Wer aber in diesem Streit das Abendland gegen tatsächliche und vermeintliche Bedrohungen verteidigen will, muss seinerseits in dieser Auseinandersetzung den Mindestansprüchen der westlichen Zivilisation genügen: Respekt und Toleranz üben und die Freiheit der Meinung, der Rede, der Religion wahren und den Rechtsstaat achten. Deutschland ist heute anders als vor einhundert Jahren – glücklicherweise – und anders auch als vor 25 Jahren. Deutschland verändert sich, weil sich nicht nur unsere Nachbarschaft verändert, sondern auch das Volk in Deutschland. Die unterschiedlichen Lebensgeschichten erzählen, wer wir sind und woher wir kommen, was uns prägt und was wir von den hier geltenden Werten und Regeln erwarten, die im Übrigen dazu dienen, dass alle in Deutschland lebenden Menschen hier ihr Lebensglück suchen können und hoffentlich auch finden. Und wo immer gewohnte Verhaltensmuster von Zuwanderern mit hier geltenden Gesetzen kollidieren, gelten selbstverständlich die hiesigen Regeln. Für alle. Ausnahmslos.
„Unser Boot ist hoffnungslos überladen. Der Korb schwebt schon über dem Meer, als ich den Arm des Mannes zurückreiße. Ich hebe meine Tochter heraus und wickele sie mir vor die Brust. Sie ist erst zwei Tage alt. Ich habe sie noch in der Hafenstadt geboren, am nächsten Tag ging es auf diesen Kahn. Die Erleichterung kommt erst später, als wir in den Baracken der Notunterkunft sitzen. Wir sind davongekommen, mit unserem Leben. Angekommen sind wir noch lange nicht.” Das klingt in unseren Ohren wie das Schicksal eines Flüchtlings aus dem Nahen Osten. Es ist aber die Geschichte einer jungen Frau, die 1945 mit ihrer Familie aus Königsberg floh. „Eine Viertelstunde, nachdem wir abgelegt hatten, fiel der Motor unseres Bootes aus. Alle fingen an zu schreien. (…). Meine Schwester sprang ins Wasser und fing an, das Boot zu ziehen. Nach einer Weile sprang ich hinterher. In dem Moment konnte ich nicht denken, ich sah nur mein Leben an mir vorbeiziehen.“ Auch diese junge Frau ist über das Wasser geflüchtet. Yusra Mardini, geboren in Syrien, lebt seit etwas mehr als einem Jahr mit ihrer Familie in Deutschland. Im Sommer nahm die 18-Jährige an den Olympischen Spielen in Brasilien teil. Die Schwimmerin startete in der Mannschaft der Flüchtlinge. „Manchmal eröffnet einem das Leben Möglichkeiten, wenn man sie am wenigsten erwartet“, sagt sie. Dieser Staat, dessen Einheit wir heute feiern, unsere Gesellschaft, kann und will Möglichkeiten eröffnen, ein Leben in Frieden und Freiheit zu führen: „Dem deutschen Volke“, Hiergeborenen und Zugewanderten, Jungen und Alten, Frauen und Männern, Christen, Muslimen und Juden, Armen und Reichen. Vielfalt ist keine Worthülse – längst wohnen hier in Sachsen gebürtige Schwaben, aber auch Tschechen und Polen, haben Brandenburgerinnen Bremer mit türkischen Wurzeln geheiratet, sind einst aus der DDR freigekaufte Berliner vom Rhein zurück an die Spree gezogen, Westfalen haben in Mecklenburg-Vorpommern ihr Glück gemacht, Niedersachsen in Thüringen – als Ministerpräsidenten zum Beispiel. Und ein Dresdner Schauspieler beeindruckt seit Jahren ein millionenstarkes Fernsehpublikum im „Münster-Tatort“. Deutschland ist ein vitales Land, ein attraktiver Standort, eine vielfältige, bunte Gesellschaft, durch Persönlichkeiten geprägt, die Tradition wie Innovation überzeugend verkörpern: Ein in Bangkok geborener Oberstleutnant leitet die Big Band der Bundeswehr, eine Chinesin wurde Vizepräsidentin einer bayerischen Universität, eine Syrerin ist in diesem Jahr Weinkönigin in Trier, ein türkischstämmiger Muslim war Schützenkönig einer katholischen Schützenbruderschaft in Werl/Westfalen und eine Fernsehmoderatorin, deren Familie aus dem Irak stammt, verteidigt die Freiheit sowie die Rechte und Pflichten der Presse in Deutschland gegen demokratiegefährdende Anwürfe. Deutsche Fußball-, Olympia- und Paralympics-Mannschaften sind erfolgreich, auch deshalb, weil ihre Mitglieder mit ihren Mannschaftskameraden mit welcher Herkunft auch immer, gemeinsame Ziele verfolgen und zusammen kämpfen. Unter einer Flagge.

Wir sind heute in der glücklichen Lage, die Einheit, die wir heute feiern, gestalten zu können – anders als die Deutschen über Jahrhunderte ihrer Geschichte. Der Wunsch nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“ war lange eine wirklichkeitsfremde Vorstellung, so zum ersten Mal formuliert 1841, vor 175 Jahren, geträumt auf einer Insel, im Wind auf der Klippe. Die Insel war Helgoland und gehörte damals nicht zu Deutschland, das es als Nationalstaat noch nicht gab, sondern zum Britischen Königreich. Der Träumer war Hoffmann von Fallersleben, dessen Sehnsucht nach nationaler Einheit und Freiheitsrechten sein „Lied der Deutschen“ zum Ausdruck brachte. Im Jahr darauf wurde der Professor für deutsche Sprache aus dem Lehramt an der Universität Breslau entlassen – seiner politischen Gedichte wegen. Das damalige Recht war nicht auf seiner Seite. Die Einheit war damals noch weit entfernt, die Freiheit war jedenfalls sehr entwicklungsfähig. In der Geschichte des „Deutschlandlieds“ spiegeln sich die Turbulenzen der deutschen Geschichte wie in der Inschrift des Reichstags. Nationalistisch-aggressiv intonierten Soldaten die erste Strophe eben dieses Liedes im Ersten Weltkrieg. „Deutschland, Deutschland über alles“. In diabolischer Einfalt übernahm die nationalsozialistische Führerriege diese erste Strophe sinnwidrig in ihre Propagandafeldzug gegen das eigene und später gegen die anderen Völker. Und es war nur folgerichtig, dass das gleiche Regime die zweite und dritte Strophe verbot. Da war von Recht und Freiheit längst nicht mehr die Rede – und die Einheit des Landes überstand dieser Krieg auch nicht.
Heute genießen wir wie selbstverständlich Rechte, die Hoffmann von Fallersleben und seinen Zeitgenossen verwehrt waren. Wir leben in staatlicher Einheit, in Recht und Freiheit. Wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn. Deutschland ist ein demokratischer Staat. Sicher nicht perfekt, aber gewiss in besserer Verfassung als jemals zuvor. Das Paradies auf Erden ist hier nicht. Aber viele Menschen, die es verzweifelt suchen, vermuten es nirgendwo häufiger als in Deutschland. Wenn das so ist, haben wir eine doppelte Legitimation, darauf zu bestehen, dass dieses Land in seinen Grundorientierungen so bleibt, wie es ist. Nach einer Anfang dieses Jahres beim Weltwirtschaftsforum in Davos vorgestellten Umfrage unter 16.000 Menschen aus aller Welt, Meinungsführern in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung, gilt Deutschland mit Blick auf politische Stabilität, wirtschaftliche Prosperität, soziale Sicherheit, Bildung, Wissenschaft und Infrastruktur als „bestes Land“ auf dieser Erde. Das ist vielleicht doch übertrieben. Aber offensichtlich ist: Vieles ist uns gelungen, manches offenbar besser als anderen; doch im Vergleich mit anderen Ländern zeichnen wir uns gerade nicht durch ausgeprägte Zufriedenheit aus. In einem virtuellen Glücksatlas des amerikanischen Gallup-Instituts, das die gefühlten Erfahrungen unter 138 befragten Nationen erfasst, ordnen die Deutschen sich auf Rang 46 ein – zwischen dem Senegal und Kenia. Man muss das nicht für die sprichwörtliche deutsche Bescheidenheit halten. Wir können und dürfen durchaus etwas mehr Selbstbewusstsein und Optimismus zeigen. Arthur Schopenhauer, in Danzig geboren, in Frankfurt/Main gestorben, der weder die erste deutsche Einheit 1871 erlebt hat noch die zweite 1990, aber in vielen deutschen und europäischen Städten gelebt und Erfahrungen gesammelt hat, darunter auch Dresden, hat eine Beobachtung formuliert, die auch heute noch aktuell scheint: „Ein eigentümlicher Fehler der Deutschen ist, dass sie, was vor ihren Füßen liegt, in den Wolken suchen“. Wir leben in Verhältnissen, um die uns fast die ganze Welt beneidet. Und wir stehen – auch deshalb – vor Herausforderungen, die wir bewältigen müssen und können, wenn wir es wollen.
Die Deutsche Einheit fordert uns alle, die Zufriedenen wie die Unzufriedenen, aber gerade am heutigen Tag dürfen wir uns außer der Wahrnehmung der Rückschläge, Hemmnisse und Zukunftsängste durchaus auch Zufriedenheit erlauben, wenn nicht gar ein Glücksgefühl. Denn wir leben jetzt so zusammen, wie es ganze Generationen vor uns nur träumen konnten: In Einigkeit und Recht und Freiheit.
Das sind gleich drei gute Gründe zum Feiern. Mindestens drei. In diesem Sinne wünsche ich uns allen, hier in Dresden und überall im Lande einen friedlichen und fröhlichen Nationalfeiertag.

(Beitragsfoto: © Gerd Seidel, Norbert Lammert (CDU), MdB, Bundestagspräsident, CC BY-SA 3.0 Die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Person(en) beschränken bestimmte Weiterverwendungen des Bildes ohne dessen/deren vorherige Zustimmung)