Michail Borissowitsch Chodorkowski ist wieder frei. Nach zehn Jahren im russischen Gefängnis wegen Steuerhinterziehung und planmäßigen Betrugs. Amnesty International sah in ihm einen politischen Gefangenen, weil er Gegner des russischen Präsidenten Putin war. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dagegen im Jahr Zweitausendelf die Verurteilung des Ex-Öl-Magnaten als nicht politisch motiviert eingestuft. Ex-Magnat. Das liest man seit gestern häufig. Ein Magnat ist eigentlich ein Angehöriger des englischen, polnischen oder ungarischen Hochadels. In einem allgemeineren Sinn, so belehrt uns Wikipedia, bezeichnet der Begriff Magnat einen Inhaber wirtschaftlicher Macht. Sehr häufig wird Chodorkowski auch als Ex-Oligarch bezeichnet. Auch hier hilft ein flotter Blick in Wikipedia. “Ein Oligarch ist ein Wirtschaftsmagnat oder Tycoon, der durch seinen Reichtum über ein Land oder eine Region weitgehende informelle Macht ausübt.“ Von einem Oligarchen spricht man, wenn er „einer von wenigen Herrschenden“ des betreffenden Landes ist. In den USA wurde der Begriff ursprünglich auf Personen angewandt, die in einer Region ihre eigenen Regeln aufstellen konnten, weil es an Vertretern der allgemeinen Rechtsordnung mangelte. Soweit die Geschichte und das Lexikon. Oligarchen sind also die schnell zu enormem, extremem, zu unglaublichem Reichtum gekommenen “Geschäftsleute”, vorwiegend aus Russland und ehemaligen Republiken der Sowjetunion stammend, die begannen, Massenmedien zu kontrollieren, politischen Einfluss auszuüben oder sich Fußballvereine im europäischen Ausland zu kaufen. Bleibt nur die Frage, wie man in den paar Jahren seit der Herrschaft Gorbatschows vom Funktionär der kommunistischen Jugendorganisation zum Ölmagnaten werden kann. 1989 übernahm Chodorkowski die Leitung einer Privatbank in Moskau, wurde Berater der russischen Regierung, später stellvertretender Minister, und hatte schon Neunzehnhundertfünfundneunzig die Möglichkeit, die Aktienmehrheit des größten russischen Ölkonzerns zu kaufen. Für schlappe Dreihundertneun Millionen Dollar. Wenige Jahre später galt er als der reichste Mann Russlands, finanzierte Oppositionsparteien und mühte sich, US-Unternehmen am Ölkonzern Jukos zu beteiligen. So führte er Verhandlungen mit den US-Ölkonzernen ExxonMobil und Chevron Texas über eine mögliche Beteiligung. Immer deutlicher wurde Chodorkowski zum Mann des Westens. Vor zehn Jahren, Zweitausenddrei, wurde Chodorkowski verhaftet und zu zehn Jahren Haft verurteilt. In nur dreizehn, vierzehn Jahren verstand es der ehemalige Jungfunktionär also, einen russischen Ölkonzern in seine Hand zu bringen, zum reichsten Mann Russlands zu werden, sich mit den Mächtigen anzulegen und ausländische Konzerne zur Beteiligung an der Verwertung russischen Öls anzuwerben. Wohlgemerkt: Bei seiner Verhaftung war Chodorkowski vierzig Jahre alt. Was soll man sagen? Ökonomisches Genie? Steile Karriere? Karl Marx hat in Anlehnung an die klassische Nationalökonomie den Begriff der “ursprünglichen Akkumulation” geprägt. Was sich so harmlos-nett und wissenschaftlich anhört, meint nichts anderes als Raub. Nicht die Sparsamkeit eines Einzelnen oder sein Fleiß machen es möglich, derartiges Eigentum anzuhäufen, sondern die gewaltsame Enteignung der Arbeitsmittel von den eigentlichen Produzenten. Handstreich. Diebstahl. Raub. Aber wegen dieser Delikte ist die Putinsche Justizverwaltung seinerzeit nicht tätig geworden. Nur wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung. Nicht wegen des Raubs russischen Eigentums. So ist das heutzutage mit den vermeintlichen Helden der Politik. Der russische Präsident braucht vor den olympischen Winterspielen Ruhe an der internationalen Medienfront. Die Menschenrechtler aus dem Westen beteiligen sich an der Befreiung des politischen Gefangenen. Vernebelt wird der Hintergrund, hier wie dort, durch zwei harmlose Wörtchen, Magnat und Oligarch. Vernebelt durch Presse und Politik.
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