Monat: November 2021

Entschuldigung

Sechzig Jahre hat es gedauert, bis sich die Eigentümerfamilie des Unternehmens Grünenthal, das das Schlafmittel Contergan mit dem berüchtigten Wirkstoff Thalidomid entwickelt, dieses zwischen Neunzehnhundertsiebenundfünzig und Neunzehnhuntereinundsechzig in den Markt gebracht und mit ihm tausende von Menschen und ihre Familien geschädigt hatte, jetzt an die Betroffenen und Geschädigten gewandt hat. Sechzig Jahre lang hatte die Familie, der das Unternehmen gehört, geschwiegen. Man nimmt an, daß in Deutschland etwa fünftausend Kinder mit Fehlbildungen zur Welt gekommen sind, nachdem ihre Mütter das Präparat in der Schwangerschaft eingenommen hatten. Viele Opfer sind bereits gestorben. Schätzungen besagen, daß heute noch etwa zweieinhalbtausend Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen leben. Das Unternehmen hatte vor neun Jahren schon so etwas wie eine Entschuldigung ausgesprochen dafür, nicht schon früher auf die Opfer zugegangen zu sein. Opferverbände hatten dies als wertlos oder gar beleidigend zurückgewiesen. Für die Eigentümerfamilie hat nunmehr Michael Wirtz öffentlich formuliert, daß er sich “für diese Thematiken, die sich bei Ihnen in all diesen Familien abgespielt haben, ausdrücklich entschuldige”, wie der Presse zu entnehmen ist. Man kann sich aber nicht entschuldigen, wenn man Unrecht getan hat. Man ist nicht aus der Schuld, wenn man eine einseitige Erklärung abgibt, ob öffentlich oder nicht. Man kann allenfalls die Geschädigten und ihre Angehörigen um Entschuldigung bitten. Darum bitten, daß sie verzeihen mögen. Diese Bitte annehmen, die Verzeihung, die Entschuldigung aussprechen, das können nur jene, deren Körper und Seelen geschädigt sind, ihre Freunde und ihr Umfeld. Wenn es schon sechs Jahrzehnte dauert, daß sich die Unternehmerfamilie selbst auf den Weg macht, vielleicht zur Versöhnung, dann hätte ich mir mehr sprachliche und gedankliche Mühe gewünscht.

„Laßt Euch Zeit“

Zweimal, Ende Oktober und Mitte November, hat die Stadt Krefeld beantragt, bei der Landesregierung, daß die Schülerinnen und Schüler in den Schulen der Stadt ihre Mund-Nasen-Schutzmasken auch während des Unterrichts tragen dürfen. Zweimal wurde das abgelehnt. “Damit gilt Landesrecht auch in Krefeld“. So der – ja, wie soll man sagen: hämische? – Kommentar des Landesgesundheitsministers. Von dem man nach dieser beharrlichen Verweigerung nicht weiß, ob er zurecht als solcher angesprochen werden darf. Heute kündigt die Schulministerin des Landes an, sie wolle die Maskenpflicht im Unterricht wieder einführen. Sie werde dem Kabinett die Pflicht zum Tragen einer Maske am Sitzplatz für alle Schulen empfehlen. Der treffende Twitterkommentar des Landesschülersprechers Dario Schramm: „Lasst Euch Zeit.“ Genau. Nichts überstürzen. Gut Ding will Weile haben.

Von Archäologen, Japanologen oder Proktologen 

Sahra Wagenknecht steht ja mächtig in der Kritik wegen ihrer Äußerungen zu den Impfungen. Ohnehin wirbt die Politikerin gerne für sich, indem sie sich auf der anderen Seite des linken Spektrums tummelt. Jedenfalls sorgte Wagenknecht in dieser Woche auch noch für viel Spott. Sie verwies auf einen Beitrag eines Astrophysikers, der sage, die Pandemie lasse sich nicht durchs Impfen beenden. Endlich auch ein Astrophysiker, der sich zu Wort meldet. Was sagen eigentlich Archäologen, Japanologen oder Proktologen zum Impfen?

Hagen Strauß, Sneaker und Hackengas, in: Remscheider General-Anzeiger von heute

Fremdscham wird ab jetzt in Kubickimetern gemessen

(…) Für die Gags ist diese Woche nämlich mal jemand anders als ich zuständig: Wolfgang Kubicki. Oder Gagbicki, wie er in der Humorbranche heißt. Gagbicki ist zurzeit noch Bundestagsvizepräsident und stolzer Wahl-Schleswig-Holsteiner. Geboren ist er allerdings in Niedersachen. Passenderweise in Braunschweig, was man ja theoretisch auch als Imperativ lesen könnte. Kubicki jedenfalls gibt seit einigen Wochen die Amy Winehouse der Freien Demokraten: ständig im Selbstzerstörungsmodus. Den präsentiert er dann mit Vorliebe in seinem medialen Wohnzimmer, dem, naja, TV-Sender BILD TV. Dort kippt er regelmäßig mit zurechtchoreographierten Beleidigungs-Salven Öl ins Empörungsfeuer der Corona-Leugner nach. Im freidrehenden Insultations-Modus trifft es dann beispielsweise Karl Lauterbach, der in Kubickis Stammkneipe nach Eigenaussage gerne “Spacken” genannt wird. Für die Frage, seit wann es einen Paulanergarten in Kiel gibt, bleibt keine Zeit. Märchenonkel Wolfgang, wie er bei den Jungen Liberalen gerne genannt wird, ist in Geberlaune. Ganz nach der Leitlinie der Pulitzerpreis-Combo aus dem Stammelstadl des wohl erfolglosesten Nachrichtensenders der Historie teilt er direkt weiter aus. Selbstverständlich nicht nur gegen den bei den Anti-Propaganda-Assistenten schwer verhassten Lauterbach, sondern zielsicher gegen so ziemlich jeden, der sich im Paternosterbingo der einstmals wirkmächtigsten Boulevardzeitung Deutschlands gerade im freien Fall nach unten befindet. Markus Söder etwa. (…) Hochprozentig … äh, sorry: Autokorrektur. Jetzt aber: Hochmotiviert kann Kubicki diese Woche sogar zweifach abliefern. Doppelsieg der Debattenkultur. Zunächst teilt FDP-Grandseigneur Kubicki gegen eben jenen Markus Söder aus. Sprachlich zwar nicht unbedingt literaturpreisverdächtig, aber dafür Breaking-News-tauglich nennt er Söder “charakterlos und erbärmlich”. Vielleicht wollte er aber auch nur den Titel seiner bald erscheinenden Memoiren enthüllen. Fremdscham wird ab jetzt jedenfalls in Kubickimetern gemessen. Wolfgang Kubicki hat massives Söderbrennen. Einmal in Fahrt, ist Old Stehkragen nicht mehr zu halten. Nach Söder trifft es Frank Ulrich Montgomery, den Vorstandsvorsitzenden des Weltärzteverbandes. Nachdem “Spacken”, “charakterlos” und “erbärmlich” bereits ausgespielt waren, bleibt eigentlich nur noch der Griff zum Massenmörder-Vergleich. In einem liberalen Geniestreich bezeichnet der Pablo Picasso der Geschmacklosigkeiten Montgomery als “den Saddam Hussein der Ärzteschaft”. Hoppla, mag da der eine oder andere denken: Ist das etwa diese sagenumwobene Fackel der Freiheit, von der zuletzt so häufig aus den Elfenbeintürmen der liberalbesoffenen Rechtsrand-Surfer schwadroniert wird? Diese Freiheit, die es um jeden Preis gegen die Merkel-Diktatur und “Woko-Haram” zu verteidigen gilt? Das absolute Recht, andere Menschen mit Massenmördern vergleichen zu dürfen, ohne dafür im linksversifften Cancel-Culture-Wahn direkt um seine Position als Bundestagsvizepräsident fürchten zu müssen? Egal, ich bin ja hier nicht die Chefreporterin Doppelmoral. Und Kubicki hat, ganz in AfD-Manier (menschenfeindliche Parolen heraushauen und hinterher alles ganz anders gemeint haben wollen), alles (Sie werden lachen) ganz anders gemeint. Er habe (Sie werden noch mal lachen, und dieses Mal aber so richtig) “nicht an den Massenmörder gedacht, sondern nur an dessen Schnurrbart”. Natürlich. Wer kennt sie nicht, den “Moustache Man of the Year 2005” Saddam Hussein und den ihm wie aus dem Gesicht geschnittenen Frank Ulrich Montgomery. Ein schönes Zeitdokument für Kubickis grenzenloses Talent als dubioser Westentaschenanwalt. Auf so eine Begründung muss man erstmal kommen. Das ist ein bisschen so, als würde ich Kubicki den Bill Cosby der Anwaltschaft nennen und anschließend behaupten, ich hätte natürlich nur gemeint, dass beide häufig sehr hübsche Maßanzüge tragen. Wolfgang Kubicki, der Diego Maradona der Altherrenwitzchen, kann sich damit natürlich ordentlich Fleißkärtchen abholen bei Mathias Döpfner, dem Mann, der sich schneller radikalisiert als sein Schatten. (…) Vor diesem Hintergrund wirkt es nicht mehr sehr überraschend, dass sich einige Parteikollegen bereits besorgt fragen, ob Wolle Kuby (wie man Kubicki unter Wolfgang Petry Fans nennt) womöglich eine Wette laufen hat: Schafft er es, die FDP zu beerdigen, noch bevor Christian Lindner endlich offiziell irgendein Bundesministerium leitet? Vielleicht ja gegen die Turbo-Intellektuellen vom Virologen-Stammtisch in seiner Stammkneipe. Den “Los Spackos”. Da wirkt es fast wie eine Lappalie, dass Kubicki kürzlich auch schon eingeräumt hatte, in der Corona-Zeit bewusst gegen Vorschriften zur Bekämpfung der Pandemie verstoßen zu haben. Etwa gegen die Regel, sich nicht mit mehr als einer Person aus einem anderen Haushalt treffen zu dürfen. Aber auch da hatte er den als “Kubicki-Schnurrbart” berühmt gewordenen Ausreden-Trumpf dabei: “Kein Mensch hat sich daran gehalten.” Eben. Der Bundestagsvizepräsident erst Recht nicht. Vorbildfunktion? Vollkommen überbewertet. Zum Glück hat die FDP einen heftigen Vogel. So weit, so gut. Voller Spannung dürfen wir also auf die kommende Woche blicken. Auf wen wird Wolfgang Kubicki im russischen Beleidigungs-Roulette als Nächstes zielen? Kandidaten gibt es ja so einige. Lothar Wieler vielleicht. Der wird nicht müde, die von Kubicki konsequent als zu drastisch ins Lächerliche gezogenen Überlegungen für neuen Corona-Maßnahmen als zu lasch zu bezeichnen. Oder vielleicht den FC Bayern München. Immerhin erwägt der Rekordmeister, ihm die Wochen, die Nationalimpfverweigerer Joshua Kimmich vermeidbar in Quarantäne verbringt, vom Gehalt abzuziehen. Das stößt Freiheitsikone Kubicki mit Sicherheit ganz übel auf. Zu Recht. Wo kommen wir auch hin, wenn jetzt jeder Impfskeptiker, der aufgrund seiner persönlichen Entscheidung zur Solidaritätslosigkeit plötzlich seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, mit Gehaltsentzug bestraft wird? Wir sind doch hier nicht in Nordkorea! Oder – ganz steile These – ist die unterklassige Provokations-Offensive aus dem Hause Kubicki womöglich nur eine generalstabsmäßig durchgeplante Ablenkungs-Strategie? Die FDP hatte sich zuletzt insgesamt in einer instabilen Verfassung präsentiert. Alles, was neue Lichtblicke wie Johannes Vogel oder Konstantin Kuhle mühsam aufgebaut hatten, wurde von Corona-Experten wie Volker Wissing oder Marco Buschmann wieder eingerissen, die sich offensichtlich zeitgleich um die goldene Ananas der Querdenker-Steigbügelhalter bewerben. So oder so – ich werde das Thema für Sie im Auge behalten. Bis nächste Woche!

Marie von den Benken, Massenmörder-Witze und Corona-Geschwurbel: Kubicki im Selbstzerstörungs-Modus, in: web.de

Freiheit und Verantwortung

Nun ist es aber so, dass zum Liberalismus neben der Freiheit auch die Verantwortung gehört. Zudem wird die Freiheit des Individuums begrenzt durch die Freiheit all der anderen Individuen. In einer Pandemie, in der die Ansteckung nur einen Hustenanfall des Sitznachbarn im Bus entfernt ist, sind diese anderen nun einmal verdammt nah an jeden Einzelnen herangerückt. Der Radius, innerhalb dessen man tun und lassen kann, was man will, ist enger geworden. Das sollte auch die FDP anerkennen. (…) Freiheit ohne Verantwortung ist nichts weiter als das Recht des Stärkeren. Besonders gravierende Folgen hat ein derart einfältiger Freiheitsbegriff, wenn die individuelle Entscheidungsfreiheit auch dann noch hochgehalten wird, wenn ebendiese Freiheit das Leben anderer gefährdet. (…)  Die Pandemie ist eine Zumutung, die verlängert wird durch jene, die entweder als Trittbrettfahrer auf die Impfbereitschaft der anderen setzen oder Corona irrigerweise für eine Lüge halten. Die Kosten dieses individuellen Verhaltens aber werden kollektiviert; die Gesellschaft muss sie tragen, auch in Form von Freiheitseinschränkungen für alle. Damit allerdings dürfte gerade die FDP am wenigsten einverstanden sein.

Henrike Roßbach, Das kann die FDP nicht ernsthaft wollen, in: Süddeutsche Zeitung 

Drei

Dreimal ist Bremer Recht, so ein regionales, norddeutsch-bremisches Wort. Hierzulande bekannter ist: Aller guten Dinge sind drei. Drei, das weist seit heute auch meine Corona-Warn-App aus. Ich bin drei mal geimpft, also: zweimal geimpft und einmal sogar geboostert. Mehr kann ich einstweilen nicht unternehmen, um mich und andere vor Corona zu schützen. Ich halte, so weit es geht, die erforderlichen Abstände zu anderen Menschen ein, ich meide größere Ansammlungen und Treffen und beachte die Hygieneregeln. Und: Genau das erwarte ich auch von meinen Mitmenschen. Impfen lassen, Abstand halten, Hygieneregeln einhalten. Nur so können wir gemeinsam Corona eindämmen. Nach und nach. Ohne das Impfen geht gar nichts. Ungeimpft bleiben wir Opfer des Virus und Mittäter. Ungeimpft sind wir mitverantwortlich für mangelnden Schutz für vulnerable, also verletzliche Menschengruppen, Alte, Kranke, Kinder, Behinderte. Freiwillig ungeimpft ist nicht sozial, sondern egomanisch. Also, meine Bitte: Laßt Euch alle impfen, bitte. Sorgen wir gemeinsam dafür, daß Corona seinen Schrecken verliert.