Monat: November 2014

FDP und die Volkskammer

Im öffentlichen Bewusstsein ist sie kaum mehr vorhanden, die FDP.  Aus dem Bundestag haben die Bürger sie herausgewählt und nach und nach auch aus den Landtagen. Sie ist beim Status einer Splitterpartei angekommen. Und also dreht der Vorsitzende, der als Retter gewählte Christian Lindner, rhetorisch auf. Der Bundestag sei mit der Volkskammer der DDR zu vergleichen, sagte Lindner laut n-tv, weil bei der Abstimmung über den gesetzlichen Mindestlohn nur fünf Abgeordnete eine Gegenstimme abgegeben hätten. “Das ist nicht nur Politik wie in der DDR-Volkskammer. Das sind auch Abstimmungsergebnisse wie in der Volkskammer.” Gewagte Brachialrhetorik war und ist zwar durchaus das Kennzeichen der FDP und vieler ihrer Repräsentanten, der Westerwelles, Möllemanns, Niebels oder Dörings , war bislang aber die Sache von Christian Lindner nicht.  Vorbei. Was macht der gemeine FDP-Mann nicht alles, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden in Blätterwald und Fernsehdschungel? Selbst vor Pöbelphrasen schreckt er nicht zurück, vor Beleidigungen des Parlaments und der Parlamentarier, vor unzulässigen und unpolitischen Vergleichen. Schade. Die Partei ist hin. Offenbar.

Willkommen in Wermelskirchen

Es ist die Stunde gekommen, ein Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person.” So der Papst in dieser Woche vor dem Europaparlament. Die Heiligkeit der menschlichen Person. Nicht die Heiligkeit nur der europäischen Person. Alle Menschen sind heilig. Ob sie nun reich sind oder arm, ob sie in Europa leben oder anderswo, ob sie alt sind, groß, schön, mutig oder anmutig, selbständig oder bedürftig, Christ oder Moslem, einerlei. Der Mensch an sich ist heilig. Und dort, wo die Heiligkeit des Menschen bewahrt, gepflegt wird, wo sie Leitlinie des Handelns ist, dort ist die Zivilgesellschaft in guten Händen. In Wermelskirchen beispielsweise. “Um Flüchtlingen und Asylsuchenden Hilfestellung zu leisten und sie, durch tatkräftige Unterstützung, willkommen zu heißen, ist eine Hundertschaft von Menschen aus unterschiedlichen Kirchengemeinden nun aktiv geworden: ‘Willkommen in Wermelskirchen – Initiative von Christen für Asylsuchende’ ist ihr vorläufiger Name und hat, nach einem ersten Treffen vor vier Wochen, bereits erste Erfolge vorzuweisen.” So war es in dieser Woche in der Bergischen Morgenpost zu lesen. Nochmal: Christen aus unterschiedlichen Kirchengemeinden in unserer Stadt heißen die einhundertfünfundzwanzig Asylsuchenden in Wermelskirchen Willkommen. Mehr noch, sie helfen diesen gestrandeten und geschundenen Mitbürgern: “Arbeitsgruppen, die Sprachkurse anbieten, ein Café International, Mentoren, ein virtuelles Möbellager, Informationen in Sachen Asylrecht oder simple Aufbau- und Umzugshilfe leisten, sind bereits in der Initiative entstanden. Auch ein gemeinsames Weihnachtsfest mit und für Flüchtlinge soll voraussichtlich am Sonntag, 28. Dezember, gefeiert werden.” Zudem werden elf Flüchtlingskinder von drei Lehrern ehrenamtlich unterrichtet, bis sie in der Lage sind, am regulären Schulunterricht teilzunehmen. Wie heißt es so schön in der Bibel, bei Matthäus Fünfundzwanzig, Vierzig: “Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.” Wahrlich, ein Zeichen, das diese Bürger Wermelskirchens in dieser Woche gesetzt haben. Denn aus der Mitte der Gesellschaft ist zusehends mehr Angst vor Fremdem und Fremden zu verspüren. Unter dem Deckmantel der Islamkritik wird mehr und mehr Xenophobie verbreitet. Selbst ein stadtbekannter Ratsherr beispielsweise nutzt die Hinrichtung einer Frau im Iran als Vorwand, um die Frage zu stellen, “ob es nicht sinnvoll wäre, das Konzept des ‘friedlichen Zusammenlebens’ unterschiedlicher Kulturkreise in Frage zu stellen zu müssen? Es scheint zumindest einen prominenten Kulturkreis zu geben, in dem Gewalt, Unterdrückung, Missachtung der Menschenrechte etc. an der Tagesordnung sind – und dies sogar staatlich legitimiert. Wen dem so ist, sollte man konsequenterweise die Entscheidung treffen, dass dieser Kulturkreis seine Kultur in seiner geografischen Region pflegen kann, aber bitte nicht bei uns!” By the way: Das war kein Ratsherr der AfD, wie man ja womöglich annehmen könnte.  Wer noch mehr Unflat über ausländische Mitbürger, über Flüchtlinge oder Asylsuchende lesen möchte, der suche die Kommentarseiten der Bergischen Morgenpost zu einem Artikel über die Mahnwache in dieser Woche vor dem Rathaus auf. Dennoch: Die christliche Initiative “Willkommen in Wermelskirchen” belegt, daß die Zivilgesellschaft lebt, daß Bürger achtsam sind, daß man Menschen in Not und Bedrängnis beisteht, die Augen vor Leid nicht verschließt. Ich wünsche mir, daß sich die politischen Parteien, die Vereine, Künstler, Schulen, andere Gruppen, Stammtische, Chöre und Gesangvereine, städtische Institutionen, Unternehmen, WiW,  Rockbands, Journalisten, Lehrer, Volkshochschule, Stadtverwaltung, kurzum: daß sich das menschliche Wermelskirchen, die Mitte der Gesellschaft, unser Gemeinwesen um diese Initiative der Einhundert versammelt, den Kreis der Helfenden vergrößert und so ein Zeichen setzt für nachhaltige Hilfe für Flüchtlinge und Bedrängte, gegen Unmenschlichkeit und Verrohung, gegen Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhaß. Nochmal, weil es doch schön ist, wenn ein Heidenkind die Bibel zitiert, Matthäus Fünfundzwanzig, Vierzig: “Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.”

Brustzensur

Ist das zu glauben? In Oberhausen haben sich brave Bürger über Akt-Kunst im Technischen Rathaus beschwert. Dort sei zuviel nackte Haut zu sehen. Nach nur vier Tagen hat das Gebäudemanagement verfügt, daß die Kunst dem Unmut weichen müsse. Wegen bloßer Brüste. Hat man in Oberhausen schon mal was von der Kunstfreiheit gehört? Oder vom Zensurverbot? Kann man dem Gebäudemanagement und der Stadtverwaltung nicht mal eben eine Grundgesetzfassung zur Verfügung stellen? Die Künstlerin, Maria Mancini, hält das ganze für respektlos. Die Westdeutsche Zeitung zitiert sie: “‘Die Nacktheit gehört einfach zur Kunst. Ich konnte nicht fassen, dass es heutzutage noch solche Grenzen gibt’, sagt sie. Sexualität und nackte Haut sei in vielen auch nicht künstlerischen Darstellungen dauerpräsent. Sie sei daher enttäuscht und traurig. Für die Ausstellungskonzeption habe sie sich lange Gedanken gemacht: ‘Jetzt ist da ein große Lücke’, klagt sie. ‘Das ist respektlos gegenüber mir als Künstlerin'”.

In den guten alten Zeiten

Schon Neunzehnhundertsechsundsechzig hat Franz Josef Degenhardt die “guten, alten Zeiten” besungen. Degenhardt, der einst sagte, daß ihn “das Volk (…) immer, wenn ich ihm zu nahe komme, zum Frieren” bringe, Degenhardt hat seinen Blick nach vorne und zugleich zurück gewandt. “Ob die Hand ganz rot von Blut war und die Weste schwarz von Dreck,
das war gleich, wenn nur die Haut ganz weiß war, ohne jeden Fleck.” Aktuell irgendwie. Zum Frieren.

Dort im Südrandkrater, hinten an der Zwischenkieferwand,
wo im letzten Jahre noch das Pärchen Brennesseln stand,
wo es immer, wenn der Mond sich überschlägt, so gellend lacht,
drüben haust in einem Panzer aus der allerletzten Schlacht
jener Kerl mit lauter Haaren auf dem Kopf und im Gesicht,
zu dem, wenn es Neumond ist, unser ganzer Stamm hinkriecht.
Jener schlägt ein Instrument aus hohlem Holz und Stacheldraht
und erzählt dazu, was früher sich hier zugetragen hat
in den guten alten Zeiten.

Damals konnte, wer da wollte, auf den Hinterkrallen stehn.
Doch man fand das Kriechen viel bequemer als das Aufrechtgehn.
Der Behaarte sagt, sie seien sogar geflogen, und zwar gut.
Aber keiner fand je abgebrochene Flügel unterm Schutt.
Über Tage und in Herden lebten sie zur Sonnenzeit,
doch zum Paaren schlichen sie in Höhlen, immer nur zu zweit.
Ihre Männchen hatten Hoden und ein bißchen mehr Gewicht,
doch ansonsten unterschieden sie sich von den Weibchen nicht
in den guten alten Zeiten.

Damals wuchsen fette Pflanzen überall am Wegesrand,
doch sie abzufressen galt als äußerst unfein in dem Land.
Man verzehrte Artgenossen, selbst das liebenswerte Schwein,
doch die aufrecht gehen konnten, fraß man nicht, man grub sie ein.
Manchmal durfte man nicht töten, manchmal wieder mußte man.
Ganz Genaues weiß man nicht mehr, aber irgendwas ist dran.
Denn wer Tausende verbrannte, der bekam den Ehrensold,
doch erschlug man einen einzelnen, hat der Henker ihn geholt
in den guten alten Zeiten.

Wenn ein Kind ganz nackt und lachend unter einer Dusche stand,
dann bekam es zur Bestrafung alle Haaren abgebrannt.
Doch war’s artig, hat’s zum Beispiel einen Panzer gut gelenkt,
dann bekam es zur Belohnung um den Hals ein Kreuz gehängt.
Man zerschlug ein Kind, wenn es die Füße vom Klaver zerbiß,
doch man lachte, wenn’s dem Nachbarkind ein Ohr vom Kopfe riß.
Blut’ge Löcher in den Köpfen zeigte man den Knaben gern,
doch von jenem Loch der Löcher hielt man sie mit Hieben fern
in den guten alten Zeiten.

Alle glaubten an den unsichtbaren gleichen Manitu,
doch der Streit darüber, wie er aussah, ließ sie nicht in Ruh.
Jene malten ihn ganz weiß und andre schwarz oder gar rot,
und von Zeit zu Zeit, da schlugen sie sich deshalb einfach tot.
Ob die Hand ganz rot von Blut war und die Weste schwarz von Dreck,
das war gleich, wenn nur die Haut ganz weiß war, ohne jeden Fleck.
Und den Mischer zweier Farben federte und teerte man
oder drohte ihm für nach dem Tode Feuerqualen an
in den guten alten Zeiten.

Und wer alt war, galt als weise, und wer dick war, galt als stark.
Und den fetten Greisen glaubte man aufs Wort und ohne Arg.
Und wenn Wolken sich am Abend färbten, freute man sich noch,
und man fraß ganz ruhig weiter, wenn die Erde brandig roch.
Denn vom Himmel fiel noch Wasser, und die Sonne war noch weit,
und der große Bär, der schlief noch, in der guten alten Zeit.
Und die Erde drehte sich nicht plötzlich rückwärts und im Kreis.
Doch man schaffte rüstig, bis es dann gelang, wie jeder weiß.
Und da war Schluß mit jenen Zeiten,
mit den guten alten Zeiten.

Und so hocken wir bei Neumond an der Zwischenkieferwand,
wo im letzten Jahre noch das Pärchen Brennesseln stand.
Und wir lauschen dem Behaarten, der sein Instrument laut schlägt.
Und wir lauschen, lauschen, lauschen nächtelang und unbewegt.
Und wir träumen von den guten alten Zeiten und dem Land,
wo man überall und jederzeit genug zu fressen fand.
Unsre Stammesmutter streichelt unser Jüngstes mit den Zehn,
manchmal seufzt sie: O ihr Brutgenossen, war das früher schön
in den guten alten Zeiten?

Töricht

Den Vogel allerdings hat jetzt FDP-Chef Christian Lindner mit der These abgeschossen, auch ein Festhalten am Solidaritätszuschlag über 2019 hinaus wäre eine Steuererhöhung. Nicht dass es nicht gute Argumente für ein Auslaufen des “Solis” in der heutigen Form gäbe. Wenn jetzt aber schon die Nicht-Abschaffung einer Steuer als Steuererhöhung gebrandmarkt wird, dann ist eine ernsthafte Debatte in diesem Land tatsächlich nicht mehr möglich. Auffällig ist: Immer wenn sich zuletzt CSU und FDP in der Steuerpolitik zusammentaten, kam etwas besonders Törichtes heraus. Zur Erinnerung reicht ein einziges Wort: Hotelsteuer.

Claus Hulverscheid, Ende der Debatte, Süddeutsche Zeitung vom achtundzwanzigsten November Zweitausendvierzehn

Hennamond im Bürgerzentrum

Eine Lesung von Fatma Bläser aus ihrem Buch “Hennamond” im Bürgerzentrum, organisiert vom Frauenzimmer, der Gleichstellungsbeauftragten, Esther Wargenau-Zeitz, und der Buchhandlung van Wahden. Gestern Abend. Gegen die Championsleague mit Bayern München und Schalke Nullvier. Ein Abend mit einem düsteren, einem bedrückenden und belastenden Thema. Männliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen in einer patriarchalen Gesellschaft, Zwangsverheiratung, Ehrenmord. Die in Ostanatolien geborene Autorin hat das alles erlebt. Am eigenen Leib und in der familiären Umgebung. Sie las sozusagen aus ihrem eigenen Leben. Angesichts dieser Umstände hatte ich eine Zuhörerrunde von neunzehn bis dreiundzwanzig Interessierten erwartet. Gefehlt, weit gefehlt. Mehr als achtzig Bürger hatten sich eingefunden und auch einen gehörigen Eintrittsobulus gezahlt, mehrheitlich Frauen, aber auch zwei Hände voll Männer. Sie hörten Fatma Bläser aufmerksam zu und debattierten hernach angemessen-ausgewogen, ohne in irgendeine Form von Islamgegnerschaft oder Ausländerschelte zu verfallen. Ausdruck für eine funktionierende Zivilgesellschaft in Wermelskirchen. Und: Zum zweiten Mal innerhalb von nur zwei Wochen habe ich eine öffentliche Veranstaltung mit ungewöhnlich großer Zuschauerzahl erlebt, mit mehr Teilnehmern, als beispielsweise die politischen Parteien in Wermelskirchen regelmäßig versammeln können. Die Parteien, die tonangebenden Kommunalpolitiker waren auch gestern nicht zugegen. Sie können offenbar noch sorglos (?) ignorieren, mit welchen Themen die Wermelskirchener sich bereitwillig plagen, wie sie debattieren, was sie umtreibt. Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit, heißt es im ersten Satz des Artikels Einundzwanzig des Grundgesetzes. Hier in Wermelskirchen wirken sie vielleicht ein bißchen weniger mit als anderswo. Gleichwohl: Eine spannende und lehrreiche Unternehmung war das gestern im Bürgerzentrum. Dank an die Frauenzimmerfrauen, an Frau Wargenau-Zeitz und an Gabi van Wahden. Ach übrigens: Hennamond – Mein Leben zwischen zwei Welten von Fatma Bläser ist zum Preis von nur acht Euro und neunundneunzig Cent in der Buchhandlung zu haben.