Mit annähernd Zweiundsiebzig sollte man so ziemliche alle Varianten des Silvesterfestes durch haben. Die der jugendlichen Clique mit Böller und nicht viel, aber genug Alkohol, des Party-Paares mit Freunden mit viel Alkohol und weniger Böllern, die Fêten mit Kindern und ohne Kinder, die gesetzt-geruhsamen Jahresübergänge mit leckersten Zutaten, aber doch auch weniger Alkohol, die Silvesterabende zu Hause, ohne Böller und nur Sekt zum Anstoß aus Neue Jahr. Ich versuche mich heute an einer für mich noch unerprobten Variante. Mit einem fremden Mann in einem Zimmer des hiesigen Krankenhauses, so ganz ohne jedes Familienmitglied, ins neue Jahr zu rutschen. Vermutlich sogar ohne Alkohol, allenfalls dem zum Einreiben. Mal sehen. Ich werde berichten. Jedes Fest ist es wert, angemessen gefeiert zu werden. Ich wünsche Euch allen jedenfalls einen gesunden Übergang ins Neue Jahr. Wir trinken dann ein bißchen später drauf.
Monat: Dezember 2022
Rauhnächte
Die Rauhnächte, das sind die zwölf heiligen Nächte zwischen Weihnachten bzw. Wintersonnenwende und dem Dreikönigstag und gelten seit jeher als heilige Zeit. Als Zeit der Geister, der Wölfe und Dämonen. Die Zeit „Zwischen den Jahren“, auch eine schöne Beschreibung für die Spanne, gilt als mythenumwoben. Vermutlich stammen viele der Bräuche, die sich um sie ranken, noch aus vorchristlicher Zeit. Meine Freundin Gabriele Ertl schrieb heute auf Facebook:
Eine Raunacht. Der Duft von Kräutern: Wacholder, Beifuss, Salbei, Thymian, und ein bischen Weihrauch erfüllt das Haus. Vom Dachboden bis in den Keller werden alle Räume bis in die Ecken mit den Kräutern geräuchert, und durch die offene Haustür verschwinden traditionell die bösen Geister vor dem Duft, den gesammelten Gedanken und Wünschen. Kerzen brennen und geben warmes Licht. Friedlich ist es.
Seinen Ursprung hat der Brauch vermutlich in der Zeitrechnung nach einem Mondjahr. Ein Jahr aus zwölf Mondmonaten umfasst nur dreihundertvierundfünfzig Tage. Um mit dem Sonnenjahr und seinen dreihundertfünfundsechzig Tagen in Übereinstimmung zu bleiben, werden die auf die mehr als 365 Tage des Sonnenjahres fehlenden elf Tage – beziehungsweise zwölf Nächte – als „tote Tage“, als Tage „außerhalb der Zeit“, außerhalb der Mondmonatsrechnung, eingeschoben. In solchen Zeiten, so der Mythos, wird verbreitet angenommen, dass Gesetze der Natur außer Kraft geraten und die Grenzen zu anderen Welten aufgehoben werden. Es gibt noch weitere Tage im Jahr, an denen, wie es bei Überzeugten heißt, „die Grenze zur feinstofflichen Welt dünner ist und die ähnlich gut geeignet sind wie die Rauhnächte, um Wünsche zu formulieren, zu orakeln. Etwa Beltane / Walpurgisnacht / Samhain / Halloween / Allerheiligen / Allerseelen / Thomasnacht / Nikolausnacht.
GLASSES FROM OUTERSPACE
VON WOLFGANG HORN
Der zweite Weihnachtsfeiertag hatte so seine Tücken. Die provisorische Lesebrille, die meinen relativ frisch gelaserten Augen die Arbeit mit Computer, Tablett, iPhone und Apple-Watch möglich machte, gab nach wenigen Tagen schon die Zusammenarbeit auf. Das heißt: eigentlich nur das rechte Glas. Heute, gleichsam am dritten Weihnachtsfeiertag, nahte aber bereits Rettung: Gudrun Kirst. Sie ist die Inhaberin des Optikergeschäfts Sehenswert an der Kölner Str. 29, eingesessenen Dellmännern als „Madel“ gewiß ein Begriff. Frau Kirst nahte mit einem groß dimensionierten Koffer mit unzähligen verschiedenen Brillengläsern aller nur denkbaren Stärken und Einstellungen. Flugs schuf sie eine sechs Meter lange Schneise, stellte Ihre Meßtafeln mit Texten und Zahlen auf, ganz, wie man es im Optikergeschäft auch macht. Ein Gestell auf die Nase und das mitunter mühselige Verfahren beginnt.
Der Nichtseher beschreibt dem Sehenden, was er erkennen kann und was nicht, wo die Blindheit beginnt. Try and error, Versuch und Irrtum. Ist es so ein bißchen schärfer? So vielleicht? Können Sie die untere Reihe auch lesen? Und ganz links, was für ein Buchstabe ist das? Dann aber hat man es geschafft, das Team Optikerin und brillenloser Kunde, sind zu einem Ergebnis des Gemeinsem Ratschlages gekommen. Eine Lese- und Computerbrille, die den ganzen unmittelbaren Körperbereich zu erkennen möglich macht. PC, iPhone, Uhr, Buch und Zeitung, Brief. Toll. Und am allerbesten: Das Untersuchungsgestell ist der Hammer. Die Partybrille. Glasses from Outerspace. Elton John wäre neidisch. Leider weigert sich Frau Kirst, dieses formschöne Teil in ihr Programm aufzunehmen. Das war heute das allererste Mal in meinem nun bald zweiundsiebzigjährigen Leben, daß eine Brillenanpassung bei mir zu Hause stattgefunden hat. Den Arztbesuch kennt man, immer noch, gottlob. Händler liefern bis ins Haus. Gottlob. Fußpflegerinnen und Friseurinnen arbeiten ebenfalls ambulant. Aber der Hausbesuch der Optikerin ist für mich die absolute Premiere. Das sollte Schule machen in einer immer älter und womöglich immer immobiler werdenden Gesellschaft.
(Zuerst erschienen im Forum Wermelskirchen)
Die Nobelpreisvariante
Wenn sich gekrönte Häupter der ganzen Welt, Staatenlenker, Industrielle, Bürokraten, Scheichs, Minister, Kanzler, Professoren, Forscher, Potentaten von der einstigen Mutter des Punk, Patti Smith, das Lied singen lassen müssen, das ein einundzwanzigjähriger „Protestsänger“, Bob Dylan, 1962 womöglich als Allegorie auf den Atomstaub nach den vielen oberirdischen Testexplosionen geschrieben hatte, ist das für mich immer wieder ein großartiges Erlebnis. Die Welt ändert sich. Zu langsam, zugestanden. Aber wer hätte 1962 auch nur einen Dime gegeben auf das Ereignis, das ich mir immer wieder anschauen kann. Meine Lebenspanne reicht von der scheuklapprigen Nachkriegszeit in eine Zeit und eine Gesellschaft, in der die Eliten jenen zuhören müssen, sie ehren dürfen, ihre Werke anerkennen, die sich um die eine Welt des Friedens mühen, der sozialen Gerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und der Schonung der Natur, des gemeinschaftlichen Kampfes für demokratische Verhältnisse und Einrichtungen, für eine Kultur des Streits mit dem Ziel der gemeinschaftlichen Überzeugung. A hard rain. Selbst der saure Regen oder der Klimawandel sind spürbar. Aber es treten eben auch das von Wölfen gehütete Kind auf, die Jungfrau mit dem brennenden Körper, die zehntausend Redner mit gebrochenen Zungen, die hundert Trommler mit brennenden Händen, die Männer mit blutenden Hämmern, die zwölf Berge und sieben Wälder, die Leiter im Wasser, die menschenleere Straße voller Diamanten, die alles verschlingende Flutwelle, das Mädchen, das einen Regenbogen schenkt. Die Apokalypse. Gottes Zorn. Der Dichter endet in der Gosse. Der Clown weint. Ein Mensch hungert. „Where souls are forgotten“.
Und Patti Smith, Freundin von Dylan, ist ebenso ergriffen, wie es Teile des Publikums sind, nervös, aufgeregt. Es nutzt alle Erfahrung nichts, wenn zum in der ganzen Welt geachteten und gleichsam gesiegelten Kulturgut hinzugefügt wird, was einst der Verhöhnung diente, der Beleidigung, der verächtlichen Ausgrenzung. Oben und unten haben ausgedient. Hoch und Alltag. Kultur ist Kultur ist Kultur.
Mein Tryptichon
Zunächst waren es Corona und und die Pandemie, die meinen Aktionsradius schlagartig verkleinerten. Nicht Schrittchen für Schrittchen, in kleinen Dosen, langsam. Nein. Für den Risikopatienten mit vorgeschädigter Lunge hieß es, Kontakte einzuschränken, drastisch, Masken zu tragen, auf Medikamente und Impfstoffe zu warten. Zwischenzeitlich gibt es Medikamente und Impfstoffe in ausreichender Zahl und auch das winzige, nur rund zwanzig bis dreihundert Nanometer große Virus hat sich verändert. Die gegenwärtige Mutation ist nicht annähernd so gefährlich für die Gesundheit und fürs menschliche Leben wie die Ausgangsform. Trotz spürbar besserer medizinischer Versorgung hatte ich mich hernach entschieden, mindestens bis zur Booster-Impfung alles so zu belassen. Keine Kontakte außer Haus. Keine Konzerte, leider, leider. Keine Feiern. Keine Restaurants, keine Freundschaftsbesuche, kein Café. Keine Treffen im Familienkreis in Köln. Plausch und Kännchen nur draußen. Gespräche und Debatten ebenfalls. Kein politisches Treffen, keines in der Partei, keines mit der Flüchtlingsinitiative. Keines mit den Kolleginnen und Kollegen, die beim Forum Wermelskirchen hilfreich zur Hand sind. Keine Sportveranstaltung mehr. Kein Einkaufsbummel. Draußen, das waren und sind nunmehr, auch nach der Boosterimpfung, Arztbesuche, Augenoperationen, Blutabnahmen. Zunächst allenfalls Antwort auf Corona und die bleibenden Gefahren für Menschen meines Alters. Nunmehr, in den vergangenen Monaten, tritt indes eine Verschlechterung meines Gesundheitszustandes hinzu. Meine körperliche Belastbarkeit ist hin. Der Kopf leistet mir gute Dienste. Wie eh und je. Nur meine Mobilität ist stark eingeschränkt. Treppen machen große Mühen, meine Wege sind sehr kurz, allenfalls zwischen zwei Zimmern, zu einem anderen Sitzplatz. Und, ich höre den Spott schon, in den nächsten Tagen wird ein Treppenlift dafür sorgen, daß ich ohne größere Luftnot aus dem ersten Stock in die Küche und ins Wohnzimmer kommen kann und ebenso luftnotlos auch wieder zurück. Lifta. So schrumpft die Welt. Das ganze Universum paßt in nur zwei kleinere Zimmer. Und auf eine geräumige Terrasse. Wenn Sohn und Freundin kommen, Freunde, Nachbarn. Das Fenster befindet sich, weil bereits in die Dachschräge eingepaßt, sehr weit oben, seine Rollokästen schließen die Öffnung deckenhoch ab. Mein Blick nach draußen, aus diesem Zimmer, geht auf die Gartenseite. Von dem aber kriege ich nichts mit. Ich habe mein eigenes Triptychon. Zwei Tafeln, links und in der Mitte, gestatten mir einen Blick auf den Götterbaum im nachbarschaftlichen Garten, die Rechte auf den Giebel des anderen Nachbarhauses, das zu Weihnachten immer so hell illuminiert wird. Götterbaum. Für hiesige Naturschützer ein Nachtmahr. Das aus China stammende Gehölz mag Trockenheit und Hitze und könnte einheimisches Gewächs verdrängen. Mein Triptychon mit einem Spurenelement von Klimakatastrophe. Der beste Indikator auf meinem Triptychon ist die Farbe blau. Blau bedeutet Himmel, Sonne, Trockenheit. Grau hingegen verheißt Regen, Schnee, Wind. Das Triptychon aber ist nur ein kleiner Blick in die Welt, ein Mini-Ausschnitt. Zoom und Consorten, Facetime, das normale Telefon, Briefe, Mails, all die modernen technischen Kanäle zur Kommunikation lassen mich nicht zum Eremiten geraten. Mein Radius ist eingeschränkt. Ich nehme an Veranstaltungen nicht mehr persönlich teil, offline sozusagen. Die Technologie aber bietet neue Möglichkeiten, Dinge in Erfahrung zu bringen, sich auszutauschen, sich aufeinander zu beziehen. Ich bin also noch da und möchte auch noch eine Weile bleiben. Auch, wenn das für einige Menschen bedeuten wird, daß nicht mehr ich sie, sondern eher sie mich werden aufsuchen müssen. Den Kartenvorverkauf werde ich im neuen Jahr starten. Ich danke allen Weggefährten bis hierher und wünsche allen erholsame Feiertage, einen guten Übergang in ein besseres Jahr Zweitausenddreiundzwanzig und noch viel gemeinsame Zeit und inspirierende Gespräche.
Das Bergische in der Krimiliteratur
Da liest man, nächtens, weil auch Senioren die Nacht zum Tag machen können, wenn der Schlafrhythmus meint, mit einem Siebzehnjährigen zu tun zu haben, statt mit einem Einundsiebzigjährigen. Ein simpler Zahlendreher.
Zumal es seit einer Woche nicht geregnet hat. Was in dieser Einöde namens Bergisches Land, das genaugenommen aus mittelmäßigen Hügeln besteht, einem Wunder gleichkommt. Ihre irreführende Benennung verdankt die Gegend den Herzögen von Berg, ihren Ruf als Idylle allein dem Niedergang der traditionellen Handwerksbetriebe und der Metallindustrie. Jahrhundertelang haben sie die hiesige Luft und sämtliches Wasser verpestet und den Mischwaldbestand zwecks Brennstoffgewinnung geplündert. Bereits im Spätmittelalter wurden örtliche Bäche und Flüsse von Gerbern, Blaufärbern und Bleichern in stinkende Kloaken verwandelt. Nicht weit von hier gab es vor etwas mehr als hundert Jahren auch noch geheime Pulvermühlen, deren gelegentliche Explosionen die Arbeiter Beine, Arme oder das Leben kosteten. Von Salpeterverätzungen ganz zu schweigen. In Lumpen-und Papiermühlen fingen sich ganze Frauengenerationen – manche noch Kinder – die Tuberkulose ein. In Hammermühlen ging es ihren Männern nicht besser, Richtung Wuppertal schufteten sich Hutbandweber und Seilmacher zu Tode. Mit anderen Worten: Ländliche Idylle herrschte hier selten. Auch nicht für die Bauern. Und kulturell gesehen ist das Bergische nach Schuknechts Dafürhalten bedauerlich unterentwickelt.
Ellen Jacobi, Mordsjubiläum. Ein Krimi aus dem Bergischen Land. E-Book, Bastei Lübbe
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Neben rheinischen Frohnaturen wohnen in den Fachwerkhäusern des Ortskerns minderbegabte Töpferinnen, esoterisch-ökologische Spinner und Großstadtflüchtlinge auf der Suche nach Beschaulichkeit. Der vernunftbegabte bergische Teil der Dorfbewohner verzichtet dagegen auf malerisch verfallende Behausungen in feuchter Tallage. Die Eingeborenen ziehen Niedrigenergiehäuser mit Solarpaneelen in Hanglage vor. Es ist anzunehmen, dass sie von dort aus spöttisch auf alle Dorfnostalgiker herabschauen. Und auf jene Tagestouristen, die anreisen, um sich bei Hasim – einem algerischen Schlitzohr, der das historische Mühlenlokal betreibt – lederartige Waffeln mit Sprühsahne und dünnen Dröpelminnakaffee andrehen zu lassen, anstatt sein vorzügliches Couscous mit Lamm zu kosten. Andere steuern Heiners Tattooworld im Schatten der Dorfkirche an, um sich sinnfreie chinesische Schriftzeichen in den Arm stechen zu lassen. Ein Angebot, das sich an die im kurvenreichen Eifgental epidemisch auftretenden Motorradhorden wendet. Offenbar erfolgreich. Einzig die Klatschzentrale im Ortskern scheint ein Relikt aus vergangenen Zeiten zu sein. Es ist ein Edeka-Laden samt Postfiliale. Mit eigenwilligen Öffnungszeiten, wie Schuknecht bei dem Versuch, einen Einschreibebrief abzuholen, feststellen musste. Höchstens vier Stunden am Tag sind Kunden willkommen: zwischen 6:30 Uhr und 11 Uhr morgens. Ungefähr. Geführt wird der Schrummelladen von einer pensionierten Grundschullehrerin mit Doppelnamen. Schuknecht runzelt die Stirn. Wie lautete der noch? Stand unter den Öffnungszeiten. Auf einem Schild aus Salzteig. Irgendwas mit Bimmel oder Bummel? Egal, muss man sich nicht merken! Besagte Dame stellt hinter halbblinden Scheiben ein obskures Angebot aus: Neben Ansichts- und Wanderkarten werben Faltblätter für ihre Frauenkräuterseminare im Bergischen Freilichtmuseum Lindlar. Frauenkräuter! Firlefanz! Strickstrümpfe und bizarre Töpferwaren aus hiesiger Fertigung runden neben Eiern von einer Straußenzuchtfarm im Nachbardorf Emminghausen das Sammelsurium ab. Straußeneier!
Das letzte Wort
Jetzt reden sie zu zweit. Überwiegend. Der eine mit Kenntnissen vom Fußball, der andere mit Kenntnissen, ja, von was? vom Medienbetrieb. Ungebremst der eine, zu schnell, oft unverständlich. Wie immer und heute zum letzten Male der andere. Sie parlieren miteinander, plaudern, scherzen. Nur miteinander. Nicht mit einem, nicht für ein Publikum. An denen vorbei. Beide. Zum letzten Mal heute. Leider nur die beiden.
Because The Night
Notfalljaulen
Jahrelang nichts. Kein Ton hier bei einigen Notfallsimulationen, bei Probealarmen in vergangenen Jahren. Keine Sirene, kein Läuten, kein Lärm. Heute aber. Notfalljaulen. Um Punkt zehn Uhr neunundfünfzig. Das Handy, die Handies jaulen und heulen, schräg und laut. Die Textnachricht beruhigt. Kein Notfall. Bundesweiter Warntag. Probewarnung.