(…) Es scheint Leute zu geben, die schlicht das Unangenehme aus dem Sinn haben wollen. In der Psychoanalyse würde man das wohl Verleugnung nennen (in Abgrenzung zur Verdrängung, die eher als Triebabwehr verstanden wird), also die Ausblendung einer bedrohlichen oder unangenehmen Wirklichkeit durch kategoriale Leugnung des Offensichtlichen. Interessant ist der Mechanismus, weil er in letzter Zeit öfter aufgetaucht ist – immer dann, wenn Krisenhaftes erscheint, also Phänomene, die sich nicht einfach mit den Routinen des Altbekannten einordnen lassen. Ähnlich hat die gesamte Schwurblergemeinde in der Pandemie auf fast alles Plausible reagiert; so ähnlich arbeitet der gemeine Holocaust-Leugner; ganze Protestbewegungen können alles Ökologische oder mit dem Klimawandel Verbundene loswerden. Das Frappierende an solchen Reaktionen ist die unglaubliche Sicherheit und Bestimmtheit, mit der solche Einschätzungen daherkommen. Ihre Sozialform ist die der nicht-kritisierbaren konstativen Rede, die auch bei Aktivisten unterschiedlicher Couleur vorkommt. Hier wird klar gesagt, was ohnehin klar ist. Zweifel sind weder vorgesehen, noch können sie den Sprecher im Hinblick auf seine Sprecherposition erreichen.
Solche Positionen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre andere Seite nicht einfach eine andere Seite mit einer anderen Sicherheit ist. Die Unterscheidung ist nicht die, ob es das Hamas-Massaker gegeben hat oder nicht, ob die geleugneten Sätze über die Pandemie stimmen, ob der Holocaust wirklich stattgefunden oder ob es den anthropogenen oder soziogenen Klimawandel überhaupt gibt. Das wären dann eben gegenteilige Sätze, die man mit ebensolcher Sicherheit behaupten könnte, um den Diskurs zu beenden, was ja durchaus vorkommt. Die andere Seite solcher Sätze ist nicht schlicht das Gegenteil, sondern ob sie Anschlussmöglichkeiten ausschließen oder öffnen.
(…) Deshalb sind solche Leute – wir kennen es auch aus den Auseinandersetzung über die Pandemie, über den Holocaust, aus der Flüchtlingskrise, über den Klimawandel usw. – auch nicht aufklärbar. Wer je versucht hat, einen solchen Schwurbler – bleiben wir bei diesem eher untechnischen Begriff – darüber aufzuklären, dass das Asylrecht nicht dazu dient, Deutschland „umzuvolken“ oder dass der Klimawandel keine Erfindung der Grünen ist oder die Pandemie nicht eine Strategie der Hochfinanz, wird erlebt haben, dass dann selbst die Widerlegungsversuche und die Argumente zur Verfestigung der konstativen Positionen beitragen. Man könne dann an den Bemühungen der mainstream-Eliten sehen, wie sehr sie sich bemühen, der Lüge Vorschub zu leisten. (…)
Die andere Seite der Unterscheidung ist also nicht einfach der invertierte Satz. Die andere Seite der Unterscheidung ist, dass der invertierte Satz, also das Gegenteil des offenkundigen Unsinns, keineswegs alle Fragen beantwortet hat. Aus der Anerkennung des Hamas-Terrors in all seinen jegliche Zivilisiertheit verleugnenden Facetten ergibt sich gerade keine Sicherheit, sondern die offene Frage danach, was die angemessene Reaktion darauf ist. Die jetzigen Zerstörungen in Gaza sind keineswegs eine notwendige, also in serieller Kausalität unvermeidliche Folge des Terrorgeschehens, sondern eine kontingente Entwicklung. Man kann sogar die Strategie des israelischen Militärs kritisieren, ohne das Massaker zu leugnen – mein Gesprächspartner konnte es nicht. Und aus einer klaren Diagnose und Erkenntnis über das SARS-COV-2-Virus oder über die Wirksamkeit der Impfungen lässt sich keineswegs Eins-zu-Eins schließen, was die richtigen Maßnahmen sind oder gewesen wären, zumal sich die Schutzerwartungen der Impfung gegenüber während des Prozesses im Hinblick auf die Infektiosität der Geimpften verändert haben, die Impfung aber trotzdem Millionen Menschen das Leben und mancher Volkswirtschaft das Überleben gesichert haben. Und aus der Anerkenntnis des Klimawandels und des Zusammenhangs von CO2-Pollution und Erderwärmung ergibt sich nicht von selbst, welche Maßnahmen die richtigen sind und sein werden.
Erfahrungen werden dann zu Krisenerfahrungen, wenn man nicht eindeutig weiß, was zu tun ist, wenn routinisierte Muster fehlen, wenn die ohnehin unbekannte Zukunft noch unbekannter erscheint, wenn man nicht aushalten kann, dass Erwartungen auf eine zu offene Situation verweisen. Die Gegenreaktion besteht dann darin, zu klare Sätze, zu eindeutige Urteile, zu sicheres Wissen zu verwenden – und damit offene Anschlüsse zu vermeiden. (…)
Der größte Blödsinn, die dümmste Bosheit und die absurdesten Lügen eignen sich offenbar besonders als Schutzmechanismus, weil sie aufgrund ihrer fantasmatischen Irrationalität gar nicht in die Nähe irgendeiner Widerlegbarkeit kommen.
Das sei auch an die Adresse all jener gesagt, die geordnete Diskursverhältnisse einklagen, in denen man sich durch Anerkennung des anderen besser verständigen können soll. Was ich von meinem Gesprächspartner gelernt habe, ist dies:
Es gibt Positionen, die kann man nicht einmal nicht anerkennen, weil sie die andere Seite diskutabler Positionen darstellen – im wahrsten Sinne des Wortes.
Was verheißt das für die Auseinandersetzung mit den Abgebogenen, deren Zahl wächst – auf ganz unterschiedlichen Seiten übrigens? Nichts Gutes jedenfalls.
Armin Nassehi, Montagsblock