„Wir machen uns etwas vor, wenn wir annehmen, dass es irgendein Ausmaß an Verdorbenheit gibt, vor dem Trump zurückscheut, dass es irgendeine rote Linie gibt, die er nicht übertritt, wenn es um die Macht geht.“
Dave Eggers, US-amerikanischer Schriftsteller, zitiert nach: Boris Herrmann und Christian Zaschke, Herr der Lügen, in: Süddeutsche Zeitung vom zweiten November Zweitausendvierund zwanzig
Kategorie: Gesellschaft
„Das Jammern wird gefährlich“
Deutschlands größtes Problem ist heute seine Depression. Die Stimmung ist dabei deutlich schlechter als die Lage. Der Pessimismus droht Politik und Wirtschaft zu lähmen und die Krise herbeizuführen, die man verhindern will. (…)
Was jedoch grundsätzlich fehlt, ist Verantwortungsbewusstsein – zu viele in Deutschland weigern sich, Verantwortung zu übernehmen, und suchen stattdessen die Schuld bei anderen. Wir brauchen einen Kennedy-Moment: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst. Nur so kann Deutschland aus dem Teufelskreis von Pessimismus und Paralyse ausbrechen.
Die Menschen sind zutiefst unzufrieden mit Politik und Gesellschaft, und die Zukunftsängste sind größer denn je. (…) Zugleich zeigt der Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung einen Widerspruch: In den letzten 20 Jahren war die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrem eigenen Leben nie so hoch wie heute, während die Zufriedenheit mit Gesellschaft und Politik gleichzeitig nie so niedrig war. Zu keiner Zeit waren mehr Menschen in Arbeit, die realen Löhne steigen erheblich. Viele Unternehmen machen hohe Gewinne und suchen eher zusätzliche Arbeitskräfte, statt um ihre Existenz zu fürchten oder Arbeitsplätze abzubauen. Dennoch ist die Stimmung in den Unternehmen schlecht, und mit Blick auf die Zukunft wächst der Pessimismus. (…)
Unternehmen und Lobbyverbände schieben die Verantwortung für bessere Rahmenbedingungen fast ausschließlich der Politik zu. Diese soll Bürokratie und Regulierung abbauen, Steuern senken, Infrastruktur verbessern, günstigere Energie bereitstellen und mehr Subventionen gewähren. Doch ein Großteil der Verantwortung für die schwierige Lage der Industrie liegt bei den Unternehmen selbst. Insbesondere die Automobilbranche leidet unter dem Dieselskandal, dem versäumten Umstieg auf E-Mobilität und der starken Abhängigkeit von China mehr als unter den vermeintlich zu hohen Energiekosten oder übermäßiger Regulierung.
Auch in der Politik wird Verantwortung gerne auf andere abgeschoben. Die Ampelparteien geben sich gegenseitig die Schuld für fehlende Reformen und den ständigen Streit innerhalb der Koalition, anstatt Verantwortung für die Regierung zu übernehmen. Die Union kritisiert die Bundesregierung für fast jedes Problem im Land, obwohl sie nach 16 Jahren unter einer CDU-Kanzlerin für viele Probleme verantwortlich ist und auch heute im Bundesrat und im Bundestag maßgeblich an Entscheidungen beteiligt ist. (…)
Es sind vor allem die verletzlichen Gruppen, die als Sündenbock herhalten müssen. Wer Bürgergeld empfängt, sei faul und könne eigentlich arbeiten, erhalte zu viel Geld. Die Regelsätze sollten gekürzt werden. Viele Deutsche halten Migration für das größte Problem der Gesellschaft, glauben, dass durch die Kosten der Migration zu wenig Geld für ihre eigenen Bedürfnisse bleibt. Diese Behauptungen sind unsinnig und falsch.
Marcel Fratzscher, Fratzschers Verteilungsfragen, in: Die Wirtschaftskolumne von ZEIT ONLINE
Jemand
«Jeder ist jemand.»
Ein Satz, ein Sätzchen des Schriftstellers George Tabori, dem eine Wucht innewohnt, eine Kraft, die ganze Menschlichkeit. Wir alle sind Menschen, jemand, gleich, was wir fühlen, glauben, denken, gleich, wie wir aussehen, was wir können oder nicht können. Jemand. Jemand gehört zu uns, ist Teil von uns. Er mag fremd sein, aber er ist zugehörig. Teil des WIR.
Querulatorische Paranoia
Der Rechtsruck ist „kein Ruck mehr, sondern eine mittlerweile jahrzehntelange Verschiebung sämtlicher Grundprinzipien“, formulierte der Dramatiker Thomas Köck in seiner jüngst erschienenen „Chronik der laufenden Entgleisungen“. Es gibt keinen Rechtsruck, „es gibt einen Rechtserdrutsch, gesellschaftlich, der längst in vollem Gange ist“.
Dessen Boden wird genährt, lange schon, fürsorglich und hingebungsvoll. Durch jedes Wort der gezielten Bösartigkeit, was man salopp und leichtfertig die „rechten Provokationen“ nennt. Jede dieser Bösartigkeiten führte Tropfen für Tropfen mehr an Gefühlsrohheit hinzu. Man gewöhnte sich an sie. Noch die Empörung darüber besorgte ihr Geschäft, die Rohheit bleibt im Gespräch, kommt immer mehr ins Gespräch, die einen kritisierten sie, die anderen verteidigten sie, dann wirkt sie erst als eine mögliche Meinung, die man haben kann, dann nach und nach als eine unter den Gängigen. Empört man sich, spielt man ihnen schon in die Hände, und tut, was sie erhoffen, generiert Aufmerksamkeit. Bekämpft man sie „inhaltlich“, läuft man ihren „Inhalten“ hinterher. Was immer man tut, die Gefühlsrohheit leckt sich die Finger. Wenn sich alles um sie dreht, schraubt sie sich immer mehr in unsere Welt hinein.
(…) Die schlechten Manieren, die Gewaltsprache, die obszöne Redeweise, sie gelten als Ausweis der Unangepasstheit und der Aufrichtigkeit (Kickl sagt gern, man werde den Gegnern „einen Schlag aufs Hosentürl“ versetzen). Der Agitator muss sein Publikum im Bewusstsein stärken, hilfloses Objekt „einer permanenten Verschwörung“ zu sein.
(…) Tatsächlich hat sich eine Art „globaler Stil“ des Ethno-Nationalismus herausgebildet.
In jüngerer Zeit hat die französische Philosophin und Psychoanalytikern Cynthia Fleury von Milieus voller Bitterniss geschrieben. Sie spricht von einer „querulatorischen Paranoia“, einer „Vergiftung“, einer „Selbstvergiftung“ der Subjekte, die an realen, echten sozialen Problemen andockt, aber ins Maßlose eskaliert. Das „in das Ressentiment verliebte Subjekt“, erleidet einen „Verlust der Urteilsfähigkeit“. Fleury: „Eine Person, die diese Störung hat, gibt ihre Fehler nie zu, ist aggressiv und provoziert andere, hat unbeherrschte Wutausbrüche, ist pathologisch unaufrichtig, überempfindlich.“
(…) Der harte Kern dieser Wählerschaft wünscht sich genau das, was er bekommt.
Robert Misik, Aufbrausend, aggressiv, paranoid, in: Newsletter Vernunft und Extase
Eins Neununundsiebzig
„Bring Butter mit, wenn sie unter Eins Neununundsiebzig kostet.“ Laut schallte vor vielen Jahren, Jahrzehnten die Stimme der Gattin eines Kollegen durchs große Büro im Institut, in dem ich knapp zehn Jahre lang arbeiten durfte, so daß alle vom familiären Arbeitsauftrag erfuhren und der Präzision der entscheidenden Bedingung für den Arbeitseinsatz: Einsneununundsiebzig. Mark. D-Mark. Heute wären das Nullkommazweiundneunzig Euro. Für den immer noch handelsüblichen Zweihundertfünfzig-Gramm-Riegel. Seit ein paar Tagen, so ist zu lesen, hat Butter einen Rekordpreis erreicht: zwei Euro neununddreißig. Gut zweieinhalb mal so teuer wie in den glücklichen Tagen seinerzeit, als Ehemänner mit erfüllbaren Arbeitsaufträgen in die Welt der Supermärkte und Tante-Emma-Läden entlassen wurden.
Zwei Euro neununddreißig. „Das ist der höchste Preis, den es in Deutschland jemals gegeben hat“, sagte die Bereichsleiterin Milchwirtschaft der Agrarmarkt Informations-Gesellschaft (AMI) in Bonn, Kerstin Keunecke.
Butter kostet damit zehn Cent mehr als im Sommer Zweiundzwanzig, als der bisherige Höchstwert erreicht worden war. Marken wie Kerrygold, Meggle oder Weihenstephan liegen inzwischen bei dreuneununddreißig bis dreineunundvierzig Euro pro zweihundertfünfzig Gramm.
Bedingt durch Ukrainekrieg und Energiekrise war Butter bereits im Laufe des Jahres 2022 immer teurer geworden. Der Preis für ein Päckchen der Eigenmarken stieg auf das Allzeithoch von 2,29 Euro, im Sommer 2023 fiel er auf 1,39 Euro. Anschließend ging er erneut in die Höhe. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zahlten Verbraucher im August 2024 für Butter 41 Prozent mehr als 2020.
Bedrohungen
Diese kleine Fundsache aus threats, der neuesten (im Sinne von letzten) Errungenschaft aus dem Hause Mark Zuckerberg, läßt deutlich werden, was man unter Cerebralphimose verstehen könnte.
Meine Krankenkasse droht ernsthaft damit, meine VIERJÄHRIGE Tochter nicht weiter zu versichern, wenn ich nicht schleunigst schriftlich erkläre, ob sie Schülerin/Studentin ist, einen Wehr- oder Freiwilligendienst leistet oder Einkommen erzielt hat? Auf einem Formular, auf dem ihr Geburtsdatum AUFGEDRUCKT ist? Das Kind ist 49 MONATE alt!!
Digitalisierung scheitert dort, wo in Verwaltungen und Behörden Computer und gedruckte Schaltungen klüger sind, motivierter, beweglicher, resilienter. Als Mitarbeiter oder Fragebogengestalter.
Politik ist kein Zuschauersport
Aber es gibt noch eine andere wichtige Erkenntnis dieser Tage: Ein Mann allein, sei es Joe Biden oder Emmanuel Macron, vermag nicht mehr viel auszurichten. In der Familie, der Keimzelle des Staates, leben wir ja auch längst anders. Da gibt es keinen Pater familias und wenn ich zu Hause so anfangen würde, müssten alle lachen. Aus dem, was im privaten Leben wichtig ist – die Fairness, die Zuverlässigkeit, die Kommunikation, die Freiheit – kann man ableiten, wie Politik sein muss. Wenn man sich die Rangliste mit den glücklichsten Ländern anschaut – Finnland, Norwegen, Dänemark und die Schweiz sind da immer vorn – wird man Mühe haben, auch nur eine Politikerin, einen Politiker dieser Länder zu nennen. Glück braucht keine Helden. Und Politik ist kein Zuschauersport.
Nils Minkmar, Das Wunder von Paris, in: Newsletter, Der Siebte Tag
Spiel mir das Lied vom Tod
Abgestiegen
Die Fans, nein: nicht DIE Fans, sondern die „Ultras der Horde 1996“, die vorgeben, Fans des 1. FC Köln zu sein, sind abgestiegen. Nicht in die zweite Liga. In irgend eine Tiefe weit unterhalb von Tiefkellerniveau. Mit einem widerlichen und sexistischen Plakat gegen die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, gezeigt am 11. Mai.
In Zeiten, in denen Politiker in dieser Republik auf allen Ebenen geschmäht und beleidigt werden, bespuckt und verfolgt, attackiert und geschlagen. Widerlich, diese vermeintlichen Fußballfans. Offenbar ohne jegliches Gespür für die eigene Losung und das Umfeld ihrer Wirkung. Mit solchen Fans, scheuklapprig und ahnungslos, anstandslos ohnehin, ist kein Staat zu machen und keine Liga zu halten.
Schlimmer aber ist, daß das Plakat wirklich gezeigt wurde, daß die Verantwortlichen des Vereins nicht eingeschritten sind, daß es keinen Ordnungsdienst gab, der wirklich Ordnung gemacht, das Plakat abgehängt hätte. Dieser Verein ist abgestiegen. Jetzt schon. Moralisch. Keine offizielle Stellungnahme des Vereins und seiner Führung. Das kann keine Entschuldigung, von wem auch immer, wieder gutmachen. Nein, das ist nicht mein Verein. Egal, in welcher Liga.
Nachtrag: Für meine Enttäuschung, mehr noch: Fassungslosigkeit, für mein harsches Urteil ist nicht entscheidend, wie lange das Plakat zu sehen und zu lesen war. Daß sich Menschen überhaupt daran machen, ein derartiges Plakat in stundenlanger Arbeit zu erstellen und ins Stadion zu schleppen und es ihnen in der ganzen Zeit nicht aufgeht, was sie da treiben, das läßt mich an der Spezies zweifeln.