Kategorie: Gesellschaft

Politik ist kein Zuschauersport

Aber es gibt noch eine andere wichtige Erkenntnis dieser Tage: Ein Mann allein, sei es Joe Biden oder Emmanuel Macron, vermag nicht mehr viel auszurichten. In der Familie, der Keimzelle des Staates, leben wir ja auch längst anders. Da gibt es keinen Pater familias und wenn ich zu Hause so anfangen würde, müssten alle lachen. Aus dem, was im privaten Leben wichtig ist – die Fairness, die Zuverlässigkeit, die Kommunikation, die Freiheit – kann man ableiten, wie Politik sein muss. Wenn man sich die Rangliste mit den glücklichsten Ländern anschaut – Finnland, Norwegen, Dänemark und die Schweiz sind da immer vorn – wird man Mühe haben, auch nur eine Politikerin, einen Politiker dieser Länder zu nennen. Glück braucht keine Helden. Und Politik ist kein Zuschauersport.

Nils Minkmar, Das Wunder von Paris, in: Newsletter, Der Siebte Tag

Abgestiegen

Die Fans, nein: nicht DIE Fans, sondern die „Ultras der Horde 1996“, die vorgeben, Fans des 1. FC Köln zu sein, sind abgestiegen. Nicht in die zweite Liga. In irgend eine Tiefe weit unterhalb von Tiefkellerniveau. Mit einem widerlichen und sexistischen Plakat gegen die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, gezeigt am 11. Mai. 

In Zeiten, in denen Politiker in dieser Republik auf allen Ebenen geschmäht und beleidigt werden, bespuckt und verfolgt, attackiert und geschlagen. Widerlich, diese vermeintlichen Fußballfans. Offenbar ohne jegliches Gespür für die eigene Losung und das Umfeld ihrer Wirkung. Mit solchen Fans, scheuklapprig und ahnungslos, anstandslos ohnehin, ist kein Staat zu machen und keine Liga zu halten.

Schlimmer aber ist, daß das Plakat wirklich gezeigt wurde, daß die Verantwortlichen des Vereins nicht eingeschritten sind, daß es keinen Ordnungsdienst gab, der wirklich Ordnung gemacht, das Plakat abgehängt hätte. Dieser Verein ist abgestiegen. Jetzt schon. Moralisch. Keine offizielle Stellungnahme des Vereins und seiner Führung. Das kann keine Entschuldigung, von wem auch immer, wieder gutmachen. Nein, das ist nicht mein Verein. Egal, in welcher Liga.

Nachtrag: Für meine Enttäuschung, mehr noch: Fassungslosigkeit, für mein harsches Urteil ist nicht entscheidend, wie lange das Plakat zu sehen und zu lesen war. Daß sich Menschen überhaupt daran machen, ein derartiges Plakat in stundenlanger Arbeit zu erstellen und ins Stadion zu schleppen und es ihnen in der ganzen Zeit nicht aufgeht, was sie da treiben, das läßt mich an der Spezies zweifeln.

Herr und Frau Williams

Aus Versehen rechtskräftig geschieden

Herr und Frau Williams sind geschieden. Nach 21 Ehejahren. So weit, so gut. Nichts Besonderes, eigentlich. Nur: Mr. and Mrs. Williams wollten gar keine Scheidung. Aber der Mitarbeiter einer Anwaltskanzlei in London hat im vergangenen Jahr in einem Online-Scheidungsportal versehentlich die falsche Akte geöffnet und damit einen endgültigen Scheidungsbeschluss für das falsche Ehepaar erwirkt. So kann’s gehen. In England. Die Londoner Kanzlei hat den Fehler zwar noch bemerkt und die Aufhebung des Scheidungsbeschlusses gefordert. Der zuständige Richter Sir Andrew McFarlane lehnte den Antrag jedoch ab. Der Scheidungsbeschluss ist rechtskräftig. Denn es bestehe “ein starkes öffentliches Interesse daran, die Sicherheit und Endgültigkeit zu respektieren, die sich aus einem rechtskräftigen Scheidungsbeschluss ergeben, und den durch ihn geschaffenen Status quo zu erhalten”, argumentierte der Richter. So kann’s gehen. Im Rechtsstaat. Großbritannien. Digitalisierung.

„Die FDP verschwindet im Faltenwurf des Freiheitsgedankens“

Der Artikel unter diesem wahrlich malerischen Bild der Überschrift im Blog der Republik muß doch einfach gelesen werden, oder? Hans-Christian Hoffmann hat sich an der aktuellen und der zeitgeschichtlichen FDP abgearbeitet und kommt zur Schlussfolgerung, für die FDP sei „kein Rettungsanker ist in Sicht“.

Die ganze Ampel, im internen Streit verhedeert, stehe nicht wirklich strahlend da. Mit Abstand am stärksten jedoch sei die FDP in der Gunst der Wählerinnen und Wähler in Ungnade gefallen. An der Politik allein könne dieser Absturz indes nicht liegen, da sich Erfolge und Fehlschläge der Regierungsarbeit ziemlich gleichmäßig auf alle drei Parteien verteilten. SPD und Grüne aber hätten ihre Kernkompetenzen bewahren können, die FDP hingegen habe nur das ordoliberale Gedankengut im Werkzeugkasten.

Der deutsche Liberalismus habe sich seit seiner parteipolitischen Manifestierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konsequent in zwei Strömungen bewegt, in einer linksliberalen und einer nationalliberalen (neoliberalen). Mit der Gründung der FDP 1948 sei es erstmals gelungen, beiden politischen Grundorientierungen ein gemeinsames Dach zu geben. Und doch habe es lediglich mit den Freiburger Thesen von Flach und Maihofer nur einmal ein stringentes gemeinsames Programm gegeben, „wenn auch nur für kurze Zeit“.

Genscher und Lambsdorff hätten das neu gewonnene Profil nach der Vollendung der Ostpolitik ab Mitte der siebziger Jahre zielgerichtet geschliffen. Nach dem Sturz der sozialliberalen Regierung 1982 habe die FDP ihren linksliberalen Flügel inhaltlich wie personell abgestoßen. Damitsei der Versuch gescheitert, den politischen Freiheitsgedanken auch inhaltlich in nur einer Partei auszuformen. „Linksliberale und neoliberale Ideenwelten sind ganz offenbar nicht miteinander vereinbar. Sichtbar geworden ist dies durch die permanenten Auseinandersetzungen und Animositäten zwischen FDP und Grünen, die den Linksliberalismus in ihr Programm integriert haben.“

Übrig geblieben sei eine Kleinpartei mit nur einem wirklichen Thema: Leistung muss sich wieder lohnen. An diesem Kernsatz orientierten sich die permanenten Forderungen nach Steuererleichterungen und Deregulierungen in der Wirtschaft zur Gewinnmaximierung. Und: In diesem engen Rahmen könne sich ein geschlossenes gesellschaftliches Konzept nicht entwickeln.

Vor allem die SPD habe dies vor der Koalitionsentscheidung nicht erkannt und sich an alten Vorstellungen aus der Frühzeit der sozialliberalen Koalition erwärmt. „Die liberale FDP ist im Faltenwurf des Freiheitsgedankens verschwunden. Ob sie als reine Funktionspartei für die Union überlebt, wird sich bald zeigen.“ Müssen.

Dumpfer Stuß

Was Künstliche Intelligenz noch alles hervorbringen und uns damit in Staunen versetzen wird, ist noch lange nicht abschließend ausgemacht.

Was uns natürliche Blödheit kredenzt, ist schon jetzt schon zum Speien. Da wirbt die Alternative für Deppen in Göppingen mit dem Bild einer Frau, promoviert, die Mitglied dieses Haufens werden will. Nur: Die Frau gibt es nicht. Die Promotion zwangsläufig auch nicht. Und das Bild dieser Dame ist die Hervorbringung eines Computeralgorithmus, Künstliche Intelligenz genannt. Wenn diese, die Künstliche Intelligenz, in die Fänge skrupelloser Blödmänner gerät, dann wird sich am Ende lediglich eine Lüge befinden, die bloße Unwahrheit, eine irre Verdrehung der Wirklichkeit.

Die haben offenbar niemanden gefunden, der sein Konterfei für diesen dumpfen Stuß hergeben wollte, also hat man kurzerhand Chat-GPT mal machen lassen. Die natürliche Blödheit steht der Künstlichen Intelligenz allemal im Wege …

Fantasmatische Irrationalität

Ich habe auch nachschauen müssen. Fantasmatisch bedeutet mindestens absonderlich, eigenwillig, grotesk. In älterer Lesart schrullig, wunderlich. Im nachfolgenden Montagsblock / Zweihunderteinundsechzig von Armin Nassehi, wärmstens zur Lektüre empfohlen, geht es um Muster und Mechanismen der Realitätsabwehr, die eine diskutable Position, die offene Kommunikation und Aufnahme von Argumenten verhindern und unmöglich machen.

Montagsblock /261

(…) Es scheint Leute zu geben, die schlicht das Unangenehme aus dem Sinn haben wollen. In der Psychoanalyse würde man das wohl Verleugnung nennen (in Abgrenzung zur Verdrängung, die eher als Triebabwehr verstanden wird), also die Ausblendung einer bedrohlichen oder unangenehmen Wirklichkeit durch kategoriale Leugnung des Offensichtlichen. Interessant ist der Mechanismus, weil er in letzter Zeit öfter aufgetaucht ist – immer dann, wenn Krisenhaftes erscheint, also Phänomene, die sich nicht einfach mit den Routinen des Altbekannten einordnen lassen. Ähnlich hat die gesamte Schwurblergemeinde in der Pandemie auf fast alles Plausible reagiert; so ähnlich arbeitet der gemeine Holocaust-Leugner; ganze Protestbewegungen können alles Ökologische oder mit dem Klimawandel Verbundene loswerden. Das Frappierende an solchen Reaktionen ist die unglaubliche Sicherheit und Bestimmtheit, mit der solche Einschätzungen daherkommen. Ihre Sozialform ist die der nicht-kritisierbaren konstativen Rede, die auch bei Aktivisten unterschiedlicher Couleur vorkommt. Hier wird klar gesagt, was ohnehin klar ist. Zweifel sind weder vorgesehen, noch können sie den Sprecher im Hinblick auf seine Sprecherposition erreichen.

Solche Positionen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre andere Seite nicht einfach eine andere Seite mit einer anderen Sicherheit ist. Die Unterscheidung ist nicht die, ob es das Hamas-Massaker gegeben hat oder nicht, ob die geleugneten Sätze über die Pandemie stimmen, ob der Holocaust wirklich stattgefunden oder ob es den anthropogenen oder soziogenen Klimawandel überhaupt gibt. Das wären dann eben gegenteilige Sätze, die man mit ebensolcher Sicherheit behaupten könnte, um den Diskurs zu beenden, was ja durchaus vorkommt. Die andere Seite solcher Sätze ist nicht schlicht das Gegenteil, sondern ob sie Anschlussmöglichkeiten ausschließen oder öffnen. 

(…) Deshalb sind solche Leute – wir kennen es auch aus den Auseinandersetzung über die Pandemie, über den Holocaust, aus der Flüchtlingskrise, über den Klimawandel usw. – auch nicht aufklärbar. Wer je versucht hat, einen solchen Schwurbler – bleiben wir bei diesem eher untechnischen Begriff – darüber aufzuklären, dass das Asylrecht nicht dazu dient, Deutschland „umzuvolken“ oder dass der Klimawandel keine Erfindung der Grünen ist oder die Pandemie nicht eine Strategie der Hochfinanz, wird erlebt haben, dass dann selbst die Widerlegungsversuche und die Argumente zur Verfestigung der konstativen Positionen beitragen. Man könne dann an den Bemühungen der mainstream-Eliten sehen, wie sehr sie sich bemühen, der Lüge Vorschub zu leisten. (…)

Die andere Seite der Unterscheidung ist also nicht einfach der invertierte Satz. Die andere Seite der Unterscheidung ist, dass der invertierte Satz, also das Gegenteil des offenkundigen Unsinns, keineswegs alle Fragen beantwortet hat. Aus der Anerkennung des Hamas-Terrors in all seinen jegliche Zivilisiertheit verleugnenden Facetten ergibt sich gerade keine Sicherheit, sondern die offene Frage danach, was die angemessene Reaktion darauf ist. Die jetzigen Zerstörungen in Gaza sind keineswegs eine notwendige, also in serieller Kausalität unvermeidliche Folge des Terrorgeschehens, sondern eine kontingente Entwicklung. Man kann sogar die Strategie des israelischen Militärs kritisieren, ohne das Massaker zu leugnen – mein Gesprächspartner konnte es nicht. Und aus einer klaren Diagnose und Erkenntnis über das SARS-COV-2-Virus oder über die Wirksamkeit der Impfungen lässt sich keineswegs Eins-zu-Eins schließen, was die richtigen Maßnahmen sind oder gewesen wären, zumal sich die Schutzerwartungen der Impfung gegenüber während des Prozesses im Hinblick auf die Infektiosität der Geimpften verändert haben, die Impfung aber trotzdem Millionen Menschen das Leben und mancher Volkswirtschaft das Überleben gesichert haben. Und aus der Anerkenntnis des Klimawandels und des Zusammenhangs von CO2-Pollution und Erderwärmung ergibt sich nicht von selbst, welche Maßnahmen die richtigen sind und sein werden.

Erfahrungen werden dann zu Krisenerfahrungen, wenn man nicht eindeutig weiß, was zu tun ist, wenn routinisierte Muster fehlen, wenn die ohnehin unbekannte Zukunft noch unbekannter erscheint, wenn man nicht aushalten kann, dass Erwartungen auf eine zu offene Situation verweisen. Die Gegenreaktion besteht dann darin, zu klare Sätze, zu eindeutige Urteile, zu sicheres Wissen zu verwenden – und damit offene Anschlüsse zu vermeiden. (…)


Der größte Blödsinn, die dümmste Bosheit und die absurdesten Lügen eignen sich offenbar besonders als Schutzmechanismus, weil sie aufgrund ihrer fantasmatischen Irrationalität gar nicht in die Nähe irgendeiner Widerlegbarkeit kommen.


Das sei auch an die Adresse all jener gesagt, die geordnete Diskursverhältnisse einklagen, in denen man sich durch Anerkennung des anderen besser verständigen können soll. Was ich von meinem Gesprächspartner gelernt habe, ist dies: 


Es gibt Positionen, die kann man nicht einmal nicht anerkennen, weil sie die andere Seite diskutabler Positionen darstellen – im wahrsten Sinne des Wortes.


Was verheißt das für die Auseinandersetzung mit den Abgebogenen, deren Zahl wächst – auf ganz unterschiedlichen Seiten übrigens? Nichts Gutes jedenfalls.

Armin Nassehi, Montagsblock

Nichts kommt aus der Tiefe des Raumes

Nun rächt sich, dass wir so viel mit Bildschirmen machen, denn dort gibt es nur vorne und links oder rechts. In der digitalen Welt kommt nichts aus der Tiefe des Raums, zu der unser Rücken zeigt. Darum ist das Gespür für Rücksicht oft unterentwickelt. Unsere Kultur hat mit der Trennung zwischen privat und öffentlich argen Schindluder getrieben. In der Bahn wird verdrängt, dass es sich um einen öffentlichen Raum handelt. Überall ist nun Homeoffice oder eben die heimische Couch. Man schaut gemütlich die Lieblingsserien, chattet oder telefoniert mit den Lieben daheim. Der Großraumwagen ist aber bloß simulierte Privatsphäre. Die alten Regeln, wie man sich in der Öffentlichkeit so benimmt, sind verwittert. Damals verbrachte man Stunden zusammen in der Bahn, ohne Filme, Musik oder Telefon. Man musste sich unterhalten.

Nils Minkmar, Newsletter Der Siebte Tag, Die Tiefe des Raumes