Kategorie: Gesellschaft

Fantasmatische Irrationalität

Ich habe auch nachschauen müssen. Fantasmatisch bedeutet mindestens absonderlich, eigenwillig, grotesk. In älterer Lesart schrullig, wunderlich. Im nachfolgenden Montagsblock / Zweihunderteinundsechzig von Armin Nassehi, wärmstens zur Lektüre empfohlen, geht es um Muster und Mechanismen der Realitätsabwehr, die eine diskutable Position, die offene Kommunikation und Aufnahme von Argumenten verhindern und unmöglich machen.

Montagsblock /261

(…) Es scheint Leute zu geben, die schlicht das Unangenehme aus dem Sinn haben wollen. In der Psychoanalyse würde man das wohl Verleugnung nennen (in Abgrenzung zur Verdrängung, die eher als Triebabwehr verstanden wird), also die Ausblendung einer bedrohlichen oder unangenehmen Wirklichkeit durch kategoriale Leugnung des Offensichtlichen. Interessant ist der Mechanismus, weil er in letzter Zeit öfter aufgetaucht ist – immer dann, wenn Krisenhaftes erscheint, also Phänomene, die sich nicht einfach mit den Routinen des Altbekannten einordnen lassen. Ähnlich hat die gesamte Schwurblergemeinde in der Pandemie auf fast alles Plausible reagiert; so ähnlich arbeitet der gemeine Holocaust-Leugner; ganze Protestbewegungen können alles Ökologische oder mit dem Klimawandel Verbundene loswerden. Das Frappierende an solchen Reaktionen ist die unglaubliche Sicherheit und Bestimmtheit, mit der solche Einschätzungen daherkommen. Ihre Sozialform ist die der nicht-kritisierbaren konstativen Rede, die auch bei Aktivisten unterschiedlicher Couleur vorkommt. Hier wird klar gesagt, was ohnehin klar ist. Zweifel sind weder vorgesehen, noch können sie den Sprecher im Hinblick auf seine Sprecherposition erreichen.

Solche Positionen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre andere Seite nicht einfach eine andere Seite mit einer anderen Sicherheit ist. Die Unterscheidung ist nicht die, ob es das Hamas-Massaker gegeben hat oder nicht, ob die geleugneten Sätze über die Pandemie stimmen, ob der Holocaust wirklich stattgefunden oder ob es den anthropogenen oder soziogenen Klimawandel überhaupt gibt. Das wären dann eben gegenteilige Sätze, die man mit ebensolcher Sicherheit behaupten könnte, um den Diskurs zu beenden, was ja durchaus vorkommt. Die andere Seite solcher Sätze ist nicht schlicht das Gegenteil, sondern ob sie Anschlussmöglichkeiten ausschließen oder öffnen. 

(…) Deshalb sind solche Leute – wir kennen es auch aus den Auseinandersetzung über die Pandemie, über den Holocaust, aus der Flüchtlingskrise, über den Klimawandel usw. – auch nicht aufklärbar. Wer je versucht hat, einen solchen Schwurbler – bleiben wir bei diesem eher untechnischen Begriff – darüber aufzuklären, dass das Asylrecht nicht dazu dient, Deutschland „umzuvolken“ oder dass der Klimawandel keine Erfindung der Grünen ist oder die Pandemie nicht eine Strategie der Hochfinanz, wird erlebt haben, dass dann selbst die Widerlegungsversuche und die Argumente zur Verfestigung der konstativen Positionen beitragen. Man könne dann an den Bemühungen der mainstream-Eliten sehen, wie sehr sie sich bemühen, der Lüge Vorschub zu leisten. (…)

Die andere Seite der Unterscheidung ist also nicht einfach der invertierte Satz. Die andere Seite der Unterscheidung ist, dass der invertierte Satz, also das Gegenteil des offenkundigen Unsinns, keineswegs alle Fragen beantwortet hat. Aus der Anerkennung des Hamas-Terrors in all seinen jegliche Zivilisiertheit verleugnenden Facetten ergibt sich gerade keine Sicherheit, sondern die offene Frage danach, was die angemessene Reaktion darauf ist. Die jetzigen Zerstörungen in Gaza sind keineswegs eine notwendige, also in serieller Kausalität unvermeidliche Folge des Terrorgeschehens, sondern eine kontingente Entwicklung. Man kann sogar die Strategie des israelischen Militärs kritisieren, ohne das Massaker zu leugnen – mein Gesprächspartner konnte es nicht. Und aus einer klaren Diagnose und Erkenntnis über das SARS-COV-2-Virus oder über die Wirksamkeit der Impfungen lässt sich keineswegs Eins-zu-Eins schließen, was die richtigen Maßnahmen sind oder gewesen wären, zumal sich die Schutzerwartungen der Impfung gegenüber während des Prozesses im Hinblick auf die Infektiosität der Geimpften verändert haben, die Impfung aber trotzdem Millionen Menschen das Leben und mancher Volkswirtschaft das Überleben gesichert haben. Und aus der Anerkenntnis des Klimawandels und des Zusammenhangs von CO2-Pollution und Erderwärmung ergibt sich nicht von selbst, welche Maßnahmen die richtigen sind und sein werden.

Erfahrungen werden dann zu Krisenerfahrungen, wenn man nicht eindeutig weiß, was zu tun ist, wenn routinisierte Muster fehlen, wenn die ohnehin unbekannte Zukunft noch unbekannter erscheint, wenn man nicht aushalten kann, dass Erwartungen auf eine zu offene Situation verweisen. Die Gegenreaktion besteht dann darin, zu klare Sätze, zu eindeutige Urteile, zu sicheres Wissen zu verwenden – und damit offene Anschlüsse zu vermeiden. (…)


Der größte Blödsinn, die dümmste Bosheit und die absurdesten Lügen eignen sich offenbar besonders als Schutzmechanismus, weil sie aufgrund ihrer fantasmatischen Irrationalität gar nicht in die Nähe irgendeiner Widerlegbarkeit kommen.


Das sei auch an die Adresse all jener gesagt, die geordnete Diskursverhältnisse einklagen, in denen man sich durch Anerkennung des anderen besser verständigen können soll. Was ich von meinem Gesprächspartner gelernt habe, ist dies: 


Es gibt Positionen, die kann man nicht einmal nicht anerkennen, weil sie die andere Seite diskutabler Positionen darstellen – im wahrsten Sinne des Wortes.


Was verheißt das für die Auseinandersetzung mit den Abgebogenen, deren Zahl wächst – auf ganz unterschiedlichen Seiten übrigens? Nichts Gutes jedenfalls.

Armin Nassehi, Montagsblock

Nichts kommt aus der Tiefe des Raumes

Nun rächt sich, dass wir so viel mit Bildschirmen machen, denn dort gibt es nur vorne und links oder rechts. In der digitalen Welt kommt nichts aus der Tiefe des Raums, zu der unser Rücken zeigt. Darum ist das Gespür für Rücksicht oft unterentwickelt. Unsere Kultur hat mit der Trennung zwischen privat und öffentlich argen Schindluder getrieben. In der Bahn wird verdrängt, dass es sich um einen öffentlichen Raum handelt. Überall ist nun Homeoffice oder eben die heimische Couch. Man schaut gemütlich die Lieblingsserien, chattet oder telefoniert mit den Lieben daheim. Der Großraumwagen ist aber bloß simulierte Privatsphäre. Die alten Regeln, wie man sich in der Öffentlichkeit so benimmt, sind verwittert. Damals verbrachte man Stunden zusammen in der Bahn, ohne Filme, Musik oder Telefon. Man musste sich unterhalten.

Nils Minkmar, Newsletter Der Siebte Tag, Die Tiefe des Raumes

In Grund und Boden schämen

Die rechte Gesinnung in Deutschland hat in der AfD wieder einen starken Arm in die Parlamente. Dort verschoben die Gaulands, die Chrupallas, die Weidels, vor allem aber Björn Höcke das vermeintlich Sagbare immer weiter in die braune Gedankenwelt. Es ist kein Wunder, dass sich davon immer mehr Menschen ermutigt fühlen und mittlerweile unter Klarnamen Kommentare veröffentlichen, für die sie sich eigentlich in Grund und Boden schämen müssten. Aber Schamgrenzen sinken, wenn der Eindruck entsteht, dass jemand mit einer noch so dümmlichen Meinung nicht mehr allein ist. Das hat die AfD mit destruktiver Beharrlichkeit geschafft.

Lothar Leuschen, Bürger gehen gegen Rechts auf die Straße. Der Widerstand beginnt, in: Wermelskirchener General-Anzeiger vom achtzehnten Januar Zweitausendvierundzwanzig

Gottes Gesetz

Was in der Bibel „Gesetz Gottes“ genannt wird, ist eine Sozialordnung, und die muss man, wenn man unterm Zwang zur Kürze steht, herunterbrechen auf ein paar Regeln, die so oder so ähnlich immer wieder auftauchen, und zwar schon im Alten Testament. Dann lässt sich das Regelwerk so zusammenfassen:

Gerechtigkeit soll herrschen. Es darf keinen Armen unter euch geben. Not muss beseitigt werden. Ein Leben in Wohlstand zu erstreben, ist nichts Böses. Milch und Honig sollen fließen, allerdings gerecht verteilt werden. Flüchtlingen muss geholfen werden. Mächtige dürfen, ja müssen kritisiert werden. Die Herrschaft von Menschen über Menschen soll aufhören. Vor Gott zählt jeder gleich viel. Der Ziegenhirt in seinen Lumpen ist vor Gott nicht kleiner als der Pharao in seiner Pracht. Und, ja, auch das lässt sich herauslesen aus dem patriarchalen Buch: Es geht nicht ohne die Frauen. Schließlich: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, auch deine Feinde. Heil kann die Welt aber nur durch den Glauben werden.

Dort, wo sich die Menschen an dieses Gesetz halten, braucht es keine Polizei und keine Armee mehr, denn dort herrscht Frieden unter den Menschen – so lautete Gottes Utopie.

Zusammengenommen beschreiben diese Regeln den Bauplan für eine Schule der Empathie. Wir kennen sie seit Jahrtausenden. Es ist eine Schule, auf die sich im Prinzip so gut wie alle einigen können müssten, Juden, Christen und Muslime genauso wie Hindus, Buddhisten und Atheisten. Nur wurde die Schule nie gebaut. Oder wenn, dann immer nur für kurze Zeit.

Christian Nürnberger, Keine frohe Botschaft dieses Jahr, veröffentlicht auf seiner Facebookseite

Im Weihnachtswahnsinn

In der Vormoderne war in den kurzen Tagen und langen Nächten wenig los, die Landwirtschaft ruhte weitgehend, Reisen waren unmöglich. Um die Zeit herumzukriegen, wurde geschnitzt, dekoriert, gekocht und gebacken und alles Mögliche produziert. Zeit in Tonnen, es war langweilig. Heute ist das bekanntlich ganz anders, aber man tut so, als sei es eine ruhige Saison und am Ende reicht die To-do-Liste rund um den Äquator. Der Verstand muss an diesen Tagen ausgeschaltet bleiben. An der Weihnachtsgeschichte ist alles aus diversen Mythen zusammentragen , leider passen die Teile nicht gut zusammen. Was haben Santa Claus und sein Rentier mit der Krippe von Bethlehem zu tun? Nicht nachdenken. Es gab keine Volkszählung und Jesus von Nazareth hieß so, weil er aus diesem Ort kam und nicht aus Bethlehem. Es gab da keinen Weihnachtsbaum und die bei seiner Geburt herumstehenden Personen waren eher seine Geschwister, Verwandte und andere Nachbarn, die ihre Zeitgenossen wohl nicht für heilige Könige gehalten hätten. War das Baby nun ein Jude, ein Palästinenser? Eine ewige Frage, die die Absurdität heutiger Konflikte verdeutlicht.

Nils Minkmar, Im Weihnachtswahnsinn, in: Der Siebte Tag

Beitragsfoto © Martin Kraft, CC BY-SA 3.0

Gegen Tabus: Kölnerin produziert Masturbationskissen für Frauen

Mit einem Sonderpreis beim Kölner Designpreis wurde kürzlich die Kölner Designerin Sanja Zündorf ausgezeichnet. Sie setze ein „starkes Zeichen gegen das Tabu der weiblichen Masturbation“, wie es in Zeitungen heißt. Sie habe, auf der Basis eigener Erfahrungen sowie einer Umfrage bei 500 Frauen, ein Masturbationskissen entworfen, im Rahmen ihrer Masterarbeit, nähe diese eigenhändig in verschiedenen Farben wie Grün, Orange oder Blau und vermarkte das Ganze auch in sozialen Medien wie Instagram unter dem Projektnamen „Entzück Dich selbst“.

Foto aus Instagram

Längere Zeit habe die 30-Jährige Gefühle wie Scham und Schuld bei der Masturbation verspürt. Im Rahmen ihres Design-Studiums habe sie sich vermehrt mit weiblicher Masturbation befasst und über ihre Umfrage erfahren, daß auffallend viele Frauen angaben, zur Masturbation auf Kissen zu reiten. Nach der ersten Vorstellung wurden ihre Kissen im Museum für Angewandte Kunst Köln (MAKK) ausgestellt. Nach dem praktischen Tauglichkeitsnachweis sozusagen die sofortige Adelung als Kunst- und Kulturobjekt. Derzeit führt sie Gespräche mit potenziellen Partner:innen für die Produktion ihrer Kissen, die sie bislang noch eigenhändig näht.

Ein Lehrstück, wie persönliche, intime Bedürfnisse und Vorlieben in ein Produkt gegossen, zum gesellschaftlich-kulturellen Tabubruch avancieren, im Kulturbetrieb geadelt werden und schließlich in ein Unternehmen fließen, das später womöglich Arbeitsplätze für Näherinnen, Buchhalter, Einkäufer, Lagerarbeiter, Werbefuzzies und Steuerberater schafft. Kölner Kapitalismus. Nett. Entzück dich selbst.


Beitragsfoto © IMAGO

Die Zivilgesellschaft in Europa – resilient, gebildet und engagiert

Es liegt im Interesse der Feinde der offenen Gesellschaft, ihr Ende vorherzusagen. Aber nicht in unserem. Warum auch? Das Regime von Putin, jenes in Beijing oder in Teheran – sie hätten bei fairen Wahlen keine Chance. Die Bürgerinnen und Bürger dort würden aufatmen, wenn sie anders regiert würden. Niemand flieht dort hin, viele aber von dort. Menschen riskieren Ihr Leben, um gegen diese Systeme zu protestieren. Ihr Mut beschämt uns, die wir doch so oft zaudern und zögern, die Freiheit zu verteidigen. Putin turnt noch auf der Weltbühne herum, aber die Sanktionen beginnen zu wirken und sein Spielraum wird enger. Das einzige Feld, auf dem seine Leute nahezu ungehindert herumfuchteln können, ist die digitale Propaganda. Und der größte Markt dafür ist die Europäische Union, hier verdienen die Plattformen ihr Geld. Zeit, das zu regulieren. Europa verzwergt sich selbst. Es gilt auch für die mediale Darstellung der politischen Lage. Die Parteien der extremen Rechten und andere Kremlfreunde erfreuen sich großen Zuspruchs – stimmt. Aber mindestens 75% der Menschen lehnen diesen Wahnsinn ab. Warum immer noch und ohne Not ganze Fernsehsendungen um die Protagonisten eines russlandfreundlichen Kurses konzipiert werden, gehört zu den großen Rätseln der Gegenwart. Wenn man sich besieht, was Europa alles zu bieten hat, wie resilient, gebildet und engagiert die Zivilgesellschaft, also schlicht die Leute sind, darf man Vertrauen schöpfen. Ich glaube nicht an eine düstere Zukunft für Europa. Es wird Veränderungen geben, mehr Kooperation, womöglich werden einige ärmer und die Steuern höher. Wir werden es überleben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde bekanntlich ein Lastenausgleichsgesetz beschlossen, um den Wiederaufbau zu finanzieren und zugleich wurden zwölf Millionen Vertriebene aufgenommen. Diese Belastungen führten aber nicht zu einem neuen Krieg, sondern zu einer Ära internationaler Kooperation. Die multiplen Krisen werden neue Kräfte wecken, neue Personen auf den Plan rufen und heute noch unbekannte Entwicklungen fördern. Nur Nichtstun, das Verkriechen in der Illusion einer permanenten Gegenwart, ist gefährlich – die Passivität des Westens nach den Massakern des Regimes in Syrien am eigenen Volk haben die Gegner ermutigt und uns heute in diese brenzlige Lage manövriert.

Nils Minkmar, Newsletter Der Siebte Tag

“Man bekämpft eine Ideologie nicht, indem man ihr zustimmt”

In Meinungsumfragen, der französische Soziologe Pierre Bourdieu erinnerte gern daran, stellt man Menschen Fragen, die sie sich selbst nicht stellen. Etwa was man wählen würde, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Nun ist heute zwar der siebte Tag, aber keine Wahl. Darum kümmern sich Bürgerinnen und Bürger klugerweise um andere Dinge, die Wahlperiode dauert noch an. So ähnlich läuft das mit den “Problemen des Landes”. 

Man ist ja schon heilfroh, einigermaßen selbst klar zu kommen und versetzt sich nicht oft in die Lage der Bundesrepublik Deutschland oder eines anderen Staats, um auch noch dessen Probleme zu lösen. Wird man dennoch mal danach gefragt, dann sagt man eben spontan auf, was dazu so gesagt und geschrieben wird. Hätte man die Menschen im Paris des Jahres 1789 nach den größten Problemen gefragt, hätten die vielleicht von den Getreidespekulanten angefangen, die das Brot teurer machen und damit geheime Armeen bezahlen. Im Deutschen Reich des Jahres 1933 hätten viele gebildete und wohlhabende Menschen vor dem Einfluss der Juden gewarnt. Und im Großbritannien des Jahres 2015 führte die Panik vor Zuwanderung beispielsweise aus Polen zur Sieg des Brexit-Lagers – einem der größten Eigentore der modernen Geschichte. Keines der drei genannten Probleme war wirklich ernst oder bestand auch nur. 

Der Antisemitismus, Sartre hat es am besten beschrieben, erfindet Probleme oder zieht welche heran, um dem Hass auf Juden freien Lauf zu lassen. Es kam also durchaus vor in der Geschichte, dass Gesellschaften bei dem Versuch, Probleme zu lösen, die sie nicht hatten, untergingen.

Das denke ich auch zum Thema Migration – angeblich Problem Nummer Eins. Von Gérald Darmanin zu Friedrich Merz- im gesamten bürgerlichen Lager und darüber hinaus, leider auch in vielen Medien, wird das so benannt. Die Logik ist bekannt: Man möchte das Thema nicht der extremen Rechten überlassen, sondern die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Das aber nutzt nur den rechten Parteien, die seit Jahrzehnten erzählen, dass Menschen, die nach Europa kommen, ein Problem seien. 

Im Hintergrund schwingt immer die Verschwörungstheorie vom großen Bevölkerungsaustausch mit, den alle anderen außer den Rechten planen. Und in dieser Optik ist jeder neu nach Europa gezogene Mensch eine Bedrohung. Je weniger, desto besser – und leider hat sich das als Ziel oder gute Idee weit über das rechtsradikale Lager hinaus verbreitet.

Man bekämpft eine Ideologie nicht, indem man ihr zustimmt. Die schlechte Behandlung von Migranten mit dem Ziel ihrer Abschreckung ist kein Weg aus der politischen Zwickmühle.

Aber zur Wahrheit gehört auch, dass niemand damit zufrieden sein kann, wie die Zuwanderung nach Europa derzeit geregelt ist. Europa verrät seine Werte, wenn die Seenotrettung erschwert wird oder die Menschen in die Illegalität gedrängt oder gar kriminalisiert werden. Gründe für Flucht sind vielfältig. Und ehrlich gesagt braucht es nur wenige ungünstige Weichenstellungen der Geschichte – Sieg eines Verrückten in den USA und Stabilisierung russischer Aggressionspotentiale – und wir sind auch auf der Flucht.

Die genaue Deutung und präzise Benennung des Problems ist nötig: Ich finde den jetzigen Zustand der Zuwanderungsorganisation nach Europa auch höchst problematisch. Chaotisch, zufällig und oft genug unmenschlich. Damit meine ich die mangende europäische Koordinierung und das Europa nicht als außenpolitisches Subjekt agiert. Und auch im inneren muss eine wertschätzende Aufnahme organisiert werden. Man möchte wissen, wer da kommt und was nötig ist, damit die Zukunft gelingt. Hier darf man nicht sparen.

So geht es vielleicht auch anderen, die sich in solchen Umfragen äussern. Man spürt an allen Ecken und Enden – bei der Klimakrise, den Bedrohungen der offenen Gesellschaft und den Transformationen der Weltwirtschaft – dass ein Nationalstaat allein nicht mehr viel bewegen kann. Die EU ist aber noch weit davon entfernt, eine tragende politische Rolle im Konzert der multipolaren Welkt zu spielen. Immer noch erscheinen zu großen Gipfeln die Chefs der europäischen Nationen wie die Fürsten des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation: Zahlreich, pompös und ohnmächtig.

Eine vernünftige politische Integration scheitert genau an den Kräften, die von dieser Schwäche der EU profitieren. Der Mittelweg – bisschen Migranten abschrecken, bisschen nationale Symbolpolitik – führt nirgends hin. Für die Rechten läuft es wie geschmiert: Ihre Themen werden 24/7 besprochen, auf der Linken gibt es keine Alternativen und markige nationalstaatliche Politiker scheitern seit Jahrzehnten an der Lösung von Problemen, die nicht einmal genau beschrieben sind. 

So rückt die EU immer weiter nach rechts. Ein Projekt wie der Euro, vorangetrieben von Theo Waigel, François Mitterrand und Helmut Kohl, hätte heute keine Chance mehr – das Klima ist viel zu vergiftet.

Merke: Jene, die das Problem Nummer Eins zu bekämpfen vorgeben, verschärfen es. Sie leben von Problemen,

Nils Minkmar, Das Problem mit Problemen, in: Newsletter Der siebte Tag