Monat: Juni 2024

Schäbig

Wie abgebrüht muß man sein, wie kalt und gefühllos, wenn man die Ukrainerinnen auffordert, mit ihren Kindern unser Land wieder zu verlassen, zurückzufahren in die kriegszerstörte Heimat, in die Ukraine, die Tag für Tag von russischen Bomben und Raketen beschossen wird, weil sie hier im friedlichen Deutschland Bürgergeld beziehen. Dobrindt, der Ober-Bayer im Deutschen Bundestag, hat sich mit dieser schäbigen Forderung hervorgetan. Wenn billigster Populismus das politische Handeln in dieser Weise bestimmt, dann steht das Christlich-Soziale nicht einmal mehr auf der Tagesordnung, dann ist es verloren. Hoffnungslos.

Ich fordere: Der Forderungsjournalismus muss sterben!

Alleine in dem politisch relativ ruhigen Zeitraum zwischen Mitte Dezember 2023 und Mitte Januar 2024 schaffte es Jens Spahn mit acht (!) verschiedenen Forderungen in die Schlagzeilen überregionaler, reichweitenstarker Medien: Jens Spahn fordert, die Finanzierung von Moscheen über eine deutsche Stiftung zu regeln; Jens Spahn fordert längere Arbeitszeiten für Arbeitnehmer; Jens Spahn fordert, das Bürgergeld abzuschaffen; Jens Spahn fordert, die Rente mit 63 abzuschaffen; Jens Spahn fordert, die Verfassung zu ändern, um noch drastischere Vollsanktionen gegen manche Bürgergeld-Empfänger durchzusetzen; Jens Spahn fordert, überirdische Stromleitungen zu ermöglichen; Jens Spahn fordert, Abschiebungen zu verstärken; Jens Spahn fordert, Fraktionszwang im Bundestag bei manchen Fragen abzuschaffen. Und das alles in weniger als einem Monat und trotz Weihnachten!

Arne Semsrott, Ich fordere: Der Forderungsjournalismus muss sterben!, in: Übermedien, zitiert nach Altpapier

Unterwältigend oder die emotionale Reichweite eines pubertierenden Faxgeräts

Wenn einem britischen Schriftsteller die Chance geboten wird, in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen die illustre Reihe der letzten britischen Premierminister zu kennzeichnen, dann ist das Unterfangen gelungen und lesenswert, bis hin zu Wortschöpfungen wie unterwältigend, wenn der Nämliche Edward Docx heißt:

Theresa May war den Aufgaben nicht gewachsen. 

Boris Johnson war ein unglückseliger Clown.

Und was Liz Truss war, kann man eigentlich nur als absonderliche Spezies von Anti-Premierminister beschreiben, für die selbst die Mittel der Satire nicht mehr hinreichen. Sie persönlich hat jeden britischen Immobilienkreditnehmer Hunderte, wenn nicht Tausende Pfund im Monat gekostet.

Sunaks einziger Vorzug besteht eigentlich darin, dass er keiner seiner Vorgänger ist. Allerdings ist er fade und schnell gereizt, ein verspießerter Möchtegern-Tech-Bro mit der emotionalen Reichweite eines pubertierenden Faxgeräts. Er hat die Neuwahlen während eines Wolkenbruchs angekündigt, komplett übergossen, und es sieht so aus, als würde er sie nun auch auf absolut erdrutschartige Weise verlieren.

Aber auch Keir Starmer, der demnach vermutlich der nächste Premierminister sein wird, ist zutiefst unterwältigend, wenn es darum geht, irgendeine Vision zu entwickeln. Starmer ist als Typ rechtsanwaltsartig, methodisch und sehr frei von Charisma. Er weigert sich einfach, den Brexit auch nur zu erwähnen, obwohl es der größte weiße Elefant in der Geschichte sowohl der Elefanten als auch der britischen Politik ist.

Edward Docx, Brexit-Reue in Großbritannien. Kopflose Aktion, sechs Buchstaben, in: Süddeutsche Zeitung vom siebten Juni Zweitausendundvierundzwanzig

“Gummistiefel-Politik statt Klimaschutz”

“Klimaschutz wird kleingeschrieben, Hochwasserschutz vernachlässigt. CDU und CSU wahlwerben sogar mitten in der Hochwasserkatastrophe für den Verbrennermotor, während Markus Söder durch die Fluten watet. Das kann man sich nicht ausdenken. Bundeskanzler Olaf Scholz steht im Regenoutfit im Hochwasser, während ein Expertenrat aufzeigt, dass Deutschland seine Klimaziele verfehlen wird. Ein Armutszeugnis für den selbsternannten Klimakanzler. Und genau das zeigt das Erbärmliche: Sie kommen erst, wenn etwas passiert. Wenn den Leuten das Wasser bis zum Hals steht. In Gummistiefeln von einer Katastrophe zur nächsten. Und in der Zwischenzeit passiert zu wenig.”

Sabine Henkel, Kommentar: Auftritte in Hochwassergebieten. Gummistiefel-Politik statt Klimaschutz, in: Tagesschau

Quasselstrippe

Was nimmt der Kommentator eines Fußballspiels im Fernsehen von der Wahrnehmung der Zuschauer und deren Urteilsfähigkeit an, wenn er in das Mikrophon spricht: Aber leider kein Tor? Es ist so furchtbar, wenn Kommentatoren texten, was wirklich auch der letzte Zuschauer mitbekommt.

Weidenhochzeit

Der einundfünfzigste Hochzeitstag wird laut Internet als Weidenhochzeit begangen. Der Volksmund, der immer was Nettes zu finden sich müht, ist ja nicht blöd und die Zweige der Weide sind bekanntermaßen biegsam und weich. Länger als ein halbes Jahrhundert verheiratet zu sein, erfordert gewiß eine Portion Flexibilität. Das kriege man hin, wenn man so biegsam und flexibel ist wie die Weide. Tja.

Man könne, heißt es weiter im Internettext, in einer so lange bestehenden Ehe nicht immer mit dem Kopf durch die Wand und beide Partner hätten vermutlich schon vor langer Zeit gelernt, Kompromisse einzugehen und dem anderen ein Stück entgegen zu kommen: biegsam und weich wie die Weide. Tja. Ich glaube, das mit dem Kopf und der Wand ist altersunabhängig. Einundfünfzig Ehejahre machen vielleicht klüger. Sie raten dann oft ab, wenn die Wand doch stärker zu sein scheint.

Die Weide stehe aber auch für Vitalität, lese ich. Sie wachse praktisch überall und treibe selbst aus einem Baumstumpf aus. Das lesen wir doch gerne, Vitalität. Wissend, daß nicht die Ehejahre, sondern das eigene Alter für den raschen Abbau des Vitalen verantwortlich ist. Sei’s drum. Ob Weidenhochzeit oder nicht: Ich habe Neunzehnhundertdreiundsiebzig bestimmt viele Fehler gemacht. Die Heirat war keiner.