Monat: April 2019

Jedes Dorf hat seine Notre-Dame

Die Kathedrale ist ein besonderer Ort (…) der Spiritualität, ein Glaubens- und ein Lebensraum; sie ist ein Ort, der die Geschichte bewahrt, sie ist ein Ort, an dem sich die geistige und die geistliche Substanz eines Landes verdichtet und fortwirkt.  So ein Ort ist mehr als ein Erbe, es ist ein Ort der Kraft. Wenn so ein Ort verbrennt, verbrennt mehr als ein Haus. Es verbrennt Heimat, es verkohlt die geistige Behaustheit der Menschen. Ein Mensch, der sein Gotteshaus liebt und die Stimme dieses Gebäudes zu sich sprechen lässt, wird nicht anders können als auch Respekt und Ehrfurcht vor dem Gotteshaus des Anderen (zu) haben, und er wird nicht auf die Idee kommen, das Seine zu zerstören. Wenn das Verbrechen in dieses Haus einbricht und auf heiligem Boden mordet, ist das ein mörderischer Frevel. Notre-Dame steht nicht nur in Paris. Jedes Dorf hat seine Notre-Dame. Die Gotteshäuser sind Häuser auch für die Menschen, die an einen Gott nicht glauben wollen oder können. Sie sind das, was es ohne sie nicht gäbe. Es gäbe keine Räume der großen Stille, der Meditation, des Innehaltens. Es gäbe keinen Raum, in dem Wörter wie Barmherzigkeit, Seligkeit, Nächstenliebe und Gnade ihren Platz haben. Es gäbe keinen Raum, in dem eine Verbindung da ist zu uralten Texten und Liedern – zu Liedern, die die Menschen schon vor Jahrhunderten gesungen, und zu Gebeten, die die Menschen schon vor Jahrtausenden gebetet haben. So ein Haus ist ein Haus, das Zeit und Ewigkeit verbindet. Das macht den Terror an diesem Ort so abgründig. Ein Gotteshaus, ob Kirche, Moschee, Tempel oder Synagoge ist ein Ort zur Heiligung des Lebens, ein Ort zur Rettung des Menschen. Wenn also in einem Gotteshaus gemordet wird, ist das ein Anschlag auf das Urvertrauen, dass es überhaupt einen Ort auf der Welt geben könnte, an dem es sicher und geschützt ist.

Auszug aus: Heribert Prantl, Prantls Blick – die politische Wochenvorschau, Newsletter vom zweiundzwanzigsten April Zeitausendundneunzehn