Monat: Dezember 2018

Auch eine Bilanz

Seit mehr als 700 Tagen ist Donald Trump nun Präsident der USA, und er bleibt, in vielerlei Hinsicht, ein Mann der Superlative. Die Zeitung „Washington Post“ hat zu Anlass seines 700. Amtstages am Donnerstag mal wieder Bilanz zu seiner – nun ja – Wahrheitsliebe gezogen. Das Ergebnis: 7546 Trump-Aussagen waren nach Zählung des Blattes bisher entweder irreführend oder schlicht falsch. Weder ist seine Steuersenkung die größte der Geschichte noch gab es Millionen illegaler Wählerstimmen. Und wenn Trump wie im Februar 2017 auf Twitter behauptet, „alle negativen Umfragen“ zu seiner Politik seien falsch, macht er sich ganz offenkundig die Welt, wie sie ihm gefällt. Besonders steil war Trumps Lügenkurve vor den Wahlen im November, den „Midterms“. Am 5. November erzählte er laut „Washington Post“ 139 Unwahrheiten, also eine alle zehn Minuten – Nachtschlaf noch nicht eingerechnet. Irre Zahlen.

Remscheider General-Anzeiger, News-Ticker aus dem Weißen Haus, aktualisiert am einunddreißigsten Dezember Zweitausendundachtzehn

Welch ein Jahr

Ihr Lieben,

welch ein Jahr: der verrückte Trump wird immer verrückter, die Briten taumeln besinnungslos dem Brexit entgegen, der Sonnenkönig Macron wirft angesichts der Gelbwesten immer mehr Schatten, Ungarn, Polen, Österreich und Italien suhlen sich im Nationalismus, die EU droht zu zerbröckeln, die GroKo wurde zur KleiKo und wurschtelt sich auf ihr hoffentlich baldiges Ende hin, die SPD ist im Sinkflug bei 15% und will partout nicht einsehen, dass das an der KleiKo und ihrer Politik liegt, AKK braucht jetzt Merkel als Bewährungshelferin, die AfD ist inzwischen eine lupenrein rechtsradikale Partei, die Schere zwischen arm und reich hat sich weiter geöffnet, die Angst vieler Menschen vor Globalisierung und Digitalisierung und vor der Macht von Google und Amazon wächst, der Klimawandel schreitet mit aktiver Unterstützung durch Energiekonzerne und Regierung voran, die Dieselautohersteller bescheißen die Bürger hemmungslos, die sogenannten Freihandelsverträge stärken die Macht der internationalen Konzerne, die deutschen Rüstungsexporte an Diktaturen gehen ungebremst weiter, Putin gibt den Kriegsherrn, Flüchtlinge ersaufen weiter im Mittelmeer, der Papst frönt der Homophobie, Kofi Annan , Dieter Thomas Heck und Paul Bocuse sind von uns gegangen, Helene Fischer singt sich atemlos die Millionen zusammen, Gottschalks Bude in Malibu ist abgebrannt, Boris Becker ist insolvent , Jogis Truppe hat die WM verkackt, Tony Modeste wurde vom FC zurück geholt, darf aber nicht spielen, Reiner Calmund wurde 70 und Karl Marx leider schon vor 200 Jahren geboren. Trotz alledem lautet die Devise: Heiter bleiben, das Schöne im Leben genießen, sich engagieren und Haltung zeigen. Kurzum: Arsch huh – Zäng ussenander ! Für Demokratie, Vielfalt und soziale Gerechtigkeit, gegen Rechtsradikalismus ,Nationalismus, Rassismus und Gewalt – bei uns und überall !

In diesem Sinne erholsame Tage und alles Gute für Zweitausendneunzehn

(Gnadenlos geklaut bei meinem Freund Reiner)

Schutz wie der Schatten in der Mittagshitze

Gib Rat, sprich Recht, mach deinen Schatten am Mittag wie die Nacht; verbirg die Verjagten, und verrate die Flüchtigen nicht!

In einer anderen Version die gleiche Textstelle, einmal Lutherbibel, einmal BibleServer:

Gib den Flüchtlingen ein Versteck in deinem Land, liefere sie nicht dem Feind aus. Biete ihnen Schutz wie ein Schatten in der Mittagshitze, in dem sie sich bergen können wie im Dunkel der Nacht!

Zeiten, in denen so manches Bibelzitat, hier Jesaja 16,3, den Eindruck macht, als sei es in diesen Tagen erst geschrieben worden.

„Die Freiheit des Wortes ist nur ganz zu haben oder gar nicht“

Die Überschreitung von Grenzen des Anstands gehört im Ducismo zum Programm. Hasssprache und Rüpelsprache vereinigen sich zum Erfolgsidiom: Dass ganz oben einer die Sau rauslässt, legitimiert das Gegrunze ganz unten. Unversehens verfällt man selbst in den Gossenjargon: Warum stopft solchen Gestalten eigentlich niemand das Maul? (…)

Wir leben nicht in einer Zeit sprachlicher Feinheiten. Die Zertwitterung der Gegenwart, die Trump eingeleitet hat und die seither die politische Klasse infiziert, erzeugt eine Welt aus rudimentärem Vokabular. Der US-Präsident macht keine grammatikalischen Umstände, er lügt bevorzugt ohne Relativsatz. Auch bei anderen Weltverschlechterern drängt sich die Frage auf, ob es nicht gut wäre, ihnen sprachlich Zügel anzulegen, um etwas mehr Wahrheit und Takt zu bewirken. (…)

Die Freiheit des Wortes ist nur ganz zu haben oder nicht. Mit ihrer Rettungskraft und ihrem Zerstörungspotenzial, mit ihrer Friedfertigkeit und ihrer demagogischen Gewalt. Wer dieses Freiheitsrecht für sich beansprucht, muss sich nach seiner Menschenpflicht fragen lassen: Hier erweist sich das ethische und gesellschaftliche Versagen der Neo- und Präfaschisten, die von der Freiheit des Wortes Gebrauch machen, um den anderen öffentlich zu diskreditieren. Durch die Missachtung ihrer Menschenpflichten und die Einschränkung jeglichen Respekts auf die eigene Klientel propagieren sie eine brutale Gesellschaft, die durch den Verzicht auf Zivilisiertheit siegreich sein soll. Das ist ihre Gefährlichkeit, darum muss ihre Politik mit den Instrumenten der freiheitlichen Demokratie bekämpft werden. Nicht von einigen, sondern von allen. Nicht irgendwann. Jetzt.

Gerd Heidenreich, Freies Wort. Hört man den Hassrednern zu, möchte man ihnen den Stecker ziehen. Aber das Recht, die eigene Meinung zu sagen, gilt für alle, in: Süddeutsche Zeitung vom vierundzwanzigsten Dezember Zweitausenundachtzehn

Zweitausendundachtzehn

Wie liest man allenthalben? Das Jahr neigt sich seinem Ende zu. In der Tat. In nur wenigen Tagen, in fünfen, um genau zu sein, schreiben wir das Jahr Zweitausendundneunzehn. Dann wird das alte Jahr ausgedient haben. Der eine oder andere Rückblick noch, hier und dort eine Würdigung, ein paar Listen von Menschen, die das Jahr nicht überlebt haben, das war’s dann. Dann gilt Neunzehn statt Achtzehn. Für mich auch. Natürlich. Neues Jahr, neues Glück. Meine persönliche Bilanz am Ende des zur Neige gehenden Jahres fällt eher beschattet aus, düster, negativ, zwiespältig. Nein, nicht Trump, Orban oder Merkel, nicht das Siechtum der SPD, nicht der Erste FC Köln in Liga Zwei, nicht die ganz kleine Koalition, nicht Herr Merz oder Frau Nahles, nicht der Brexit oder gelbe Westen oder Macron, nicht die vergeigte Fußballweltmeisterschaft, all das nicht. Nicht die Politik, groß oder klein, nicht der Sport, nicht Wermelskirchen, nicht das Fernsehen. Ich habe mich allzu oft auf Friedhöfen rumtreiben müssen im ablaufenden Jahr, leiblich und gedanklich. Mein kleiner Bruder ist gestorben, Bernd, knapp dreizehn Monate jünger als ich. Bernd, in der Familie und von Freunden Berni gerufen, wurde nur sechsundsechzig Jahre alt. Wir haben unsere Kindheit zusammen verbracht, wie zwei Brüder ihre Kindheit in diesen Zeiten verleben konnten. Oft einig, oft streitend, fast immer konkurrent. Das alles nicht selten körperlich ausgetragen. Als junge Erwachsene begannen wir, uns auseinanderzuleben. Die Interessen waren und wurden unterschiedlich, sehr unterschiedlich. Ihm war die Weltrevolution zu blöd, mir seine nachpubertären Saufkumpane nicht geheuer. Ich fand die Bundesliga nicht mehr prickelnd, er mißtraute meinen Freunden, die selbst im Schwimmbad einen Band von Marx oder Lenin lasen und unentwegt Unterstreichungen vornahmen, weil das doch was hermachte. Er fand meine Musik bekloppt, ich konnte seinem Geschmack nicht das Geringste abgewinnen. Kurzum, wir haben uns auseinandergelebt. Mehr noch: Später waren wir uns nicht mehr grün. Ich war ihm böse. Er mir. Das hat mit seinem Umgang mit seiner Frau und seinen Kindern zu tun. Viel später dann hat er zum zweiten Mal geheiratet und ist ins Ruhrgebiet gezogen. Lange Jahre, Jahrzehnte haben wir uns so gut wie nicht gesehen oder gesprochen. Ganz selten miteinander telefoniert. Kein Chat, kein Facebook, Funkstille. Und nun ist er vor wenigen Monaten gestorben, dort im Ruhrgebiet. Zur Beerdigung war ich nicht eingeladen. Nein, das Kapitel „Kleiner Bruder“ ist noch nicht abgeschlossen. Ich brauche die Beerdigung nicht, kein Grab, keinen Kranz und keine Karte, um mich mit dem kleinen Bruder in mir zu befassen. Trotz des Zwistes, der gravierend war, ist es mir offenbar noch nicht gelungen, meinen kleinen Bruder abzustreifen. Ich trauere um ihn. Ich denke an ihn. Er erinnert mich an die gemeinsame Kindheit, an die Eltern, an längst vergangene Zeiten von Jugend und Wildheit. Ich bin nun der Letzte aus dieser kleinen Familie. Weil Berni viel zu früh gestorben ist. Er hätte gewiß noch schöne Jahre verdient gehabt. Ich vermisse ihn. Anfang November ist dann meine Schwiegermutter im gesegneten Alter von achtundachtzig Jahren gestorben. Sie kränkelte ganz am Ende ihres Lebens ein wenig, blickte allerdings zufrieden zurück in die Zeit mit Ihrem Mann, auf ihr Berufsleben, ihre Familie, die Jugend und Kindheit. Sie habe ein schönes Leben gehabt, hat sie mir in ihren letzten Tagen deutlich gesagt. Von Sterben war eigentlich noch nicht die Rede. Bis vor einem Jahr hat sie uns noch regelmäßig in Wermelskirchen besucht, mit dem eigenen Auto aus Köln kommend. Ich hätte gerne noch ein wenig Zeit mit ihr zugebracht, ihr den Altenberger Dom gezeigt, den sie unbedingt noch einmal besuchen wollte. Wir hatten uns vorgenommen, noch ein Eis miteinander zu essen. Eine Zigarette wollte sie noch rauchen, draußen auf der Terrasse. Pläne. Und dann ist, kurz nach meiner Schwiegermutter, mein Onkel Max gestorben. Vierundachtzig Jahre alt. Einst ein Kerl wie ein Baum. Glasbläser. Ein Pimmock, wie die Kölner zu sagen pflegen, ein Fremder, zugereist aus dem Osten. Von meiner immer freundlichen Tante, die sich mit sechzehn in diesen jungen Kerl verliebt hatte, nach und nach in einen waschechten Rheinländer verwandelt. Einen, der mit zum Karnevalszug ging, erst in Westhoven, einem Stadtteil im Norden von Porz, dann am Bottermaat, der Porzer Karnevalshochburg. Heute alles zum Stadtgebiet Kölns gehörend. Ein Kölner von Gemüt, der seine Herkunft aus Danzig nie verleugnete, immer freundlich, immer zugewandt. Niemals laut. Niemals böse. Niemals falsch. Ein Muster, diese Ehe von Tante und Onkel, ein Paradebeispiel für das kleine Glück. Ich habe eine Grabrede für ihn gehalten, weil meine Tante mich darum gebeten hatte. Eine Erfahrung, die ich so bald nicht wieder machen möchte. Drei Todesfälle, wie es sachlich-bürokratisch heißt, zwei Beerdigungen, drei mal Kummer, drei mal Trauer, drei mal Ausnahme. Zudem war ich in der ersten Jahreshälfte zwei mal kurz hintereinander im hiesigen Krankenhaus, im Frühjahr und im Frühsommer, beide Male mit dem Notarzt dorthin verfrachtet. Kein gutes Jahr geht zu Ende. Ich setze auf das Jahr Zweitausendundneunzehn.

„Nicht den Rattenfängern auf den Leim gehen“

Ich finde, dass es innerhalb des politischen Diskurses darum gehen muss, die AfD und ihre Denkmuster zu entlarven. Sie muss politisch bloßgestellt werden mit Blick auf ihr Menschenbild, mit Blick auf ihr Gesellschaftsbild. Dort, wo das gelingt, denke ich, wird man als guter Demokrat wissen, wo man seine politische Heimat findet und dass die Alternativen bei uns in Deutschland woanders liegen, jedenfalls nicht dort.

Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki, „Nicht den Rattenfängern auf den Leim gehen“. Interview mit dem Deutschlandfunk am dreiundzwanzigsten Dezember Zweitausendundachtzehn

Der Präsident und die Heiligkeit der demokratischen Institutionen

Nun steht Donald Trump, diese unerschöpfliche Quelle dümmlicher Zwischenrufe, allein da, umgeben fast nur noch von Nickdackeln, die nicht zu widersprechen wagen. Der Präsident, der keinerlei Sinn für die Heiligkeit der demokratischen Institutionen besitzt, der sie täglich mithilfe schamloser Lügen beschädigt, der offizielle Untersuchungen in seinem Sinne zu beeinflussen sucht, der klare Befunde seiner Regierungsbehörden je nach Gutdünken zurechtbiegt, diesem Präsidenten traut man ohne dämmenden, hemmenden Rat zu, sich am Ende gegen die eigene Verfassung zu stellen.

Jacques Schuster, James Mattis‘ Rücktritt: Donald Trump zerstört das Amt des US-Präsidenten, in: Welt vom einundzwanzigsten Dezember Zweitausendachtzehn