(…) Ein beliebter, aber angesichts der moralischen Heuchelei doch etwas abgefeimter Vorwurf gegenüber der Partei (Die Grünen, W.Horn) lautet immer wieder, das ganze ökologische Gewissen und Verhalten müsse man sich schon leisten können – und liefe doch eigentlich nur auf das Distinktionsbedürfnis einer sich besonders hochstehend dünkenden Truppe hinaus. Dann kommt auch gleich die sprichwörtliche hart arbeitende Krankenschwester ins Spiel, die etwa auf ihr Auto angewiesen sei. Geht es um ihre Entlohnung und Arbeitsbedingungen, sieht die Nummer aber gleich wieder anders aus. Aber auch in den großpolitischen und geoökonomischen Energiefragen argumentiert der fossile Fanclub gerne beinhart für den betonierten Status quo – inklusive Öl- und Atomkonzern-Milliardeneinnahmenbestandsgarantie. Bloß keine Zumutungen – sprich: keine Veränderungen, keine Kraftanstrengungen, kein Wille zum Wandel. Die Zufriedenen wollen, dass bitte alles so bleibt, wie es vorgeblich war. Wenn die Grünen, selbstverständlich mal besser und mal schlechter, wir sprechen immer noch von Parteien, auf die neuen Verhältnisse, Umstände und Notwendigkeiten –Klimawandel, Gleichberechtigung oder untauglich gewordene diplomatische Gepflogenheiten – immerhin reagieren wollen und nicht bloß den Stillstand zu verwalten trachten, wird die Technologieoffenheit utopisch genannt, wird bei Geschlechterthemen der bürgerliche Anstand vergessen und verliert sich in Vulgarität. Und es wird, was Auftrag der Legislative ist, die Gesetzgebung reichlich geistlos als unstatthafte Gängelung, Verbotskultur und Dirigismus abgetan. Einst galt ihr Quengelei noch als liederlich, und es zeichnete die bürgerliche Klasse vielmehr der Mut zur Introspektion aus, die Fähigkeit, Festgefahrenheit und tote Traditionen zu überwinden, sich neu zu erfinden. Das war das Fortschrittsversprechen, für die eigene und folgende Generationen. Auf ein Neues.
Lutz Lichtenberger, Rumstresser. Postskriptum, in: Hauptstadtbrief vom vierten Dritten
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HELEN IBE: Lean on me
Das hohe Lied auf den Treppenlift
Gut, einen Geburtstag auszulesen und damit das Alter des Users zu bestimmen, ist weiß Gott keine Großtat künstlicher Intelligenz. Aber wo immer ich mich in den letzten Jahren in den Weiten des Netzes herumgetrieben habe, war ein Ergebnis doch immer auch das Gleiche: Ich habe die Altersgrenze für Treppenlifte überschritten. Offenbar. Neben medizinischen Hilfsmittelchen für funktionierende Erektion und Blasentätigkeit taucht seither auch der Treppenlift auf der Liste der Offerten des künstlich Intelligenten auf. Immer mal wieder. Mitunter in die Frage verpackt, ob ich denn wüßte, zu welchem Eurokurs ich ein solches Verkehrsmittel erwerben könnte? Und? Ich hab’s natürlich abgetan. Im Kopf zu einer eher wegwerfenden Handbewegung gegriffen und mich nicht weiter drum gekümmert. In den letzten Monaten aber haben Lunge, Beine und Muskeln immer wieder und immer mehr geschwächelt, wenn es um die Treppe in den ersten Stock unseres Hauses geht und ging. Bis ich es gegen Ende des Jahres gar nicht mehr ins Erdgeschoß geschafft habe. Dann aber haben wir einen Treppenlift angeschafft. Dessen Segnungen genieße ich nun mit gehöriger Verspätung, habe ich die ersten beiden Monate des Jahres doch aushäusig zugebracht, im Hospital. Nun fahre ich mehrfach am Tag stark entschleunigt von unten nach oben und zurück. Das dauert. Ein Treppenlift ist kein Rennwagen, nichts, an dem man schrauben, nichts, dem man ein paar PSchen zusätzlich verpassen könnte. Aber das Oben hat seinen immanenten Schrecken verloren. Ich begebe mich nun auch für einen einzigen Kaffee wieder nach unten. Soviel Zeit muß sein. Lift-Zeit ist eben auch Kontemplations-Zeit.
Neujahr Zuhause
Vorvorgestern, am Tag, an dem ich ursprünglich hätte aus dem Krankenhaus entlassen werden sollen, hat sich Barbara bei einem Sturz von der Kellertreppe fünf Mal (!) Wadenbein, Fuß und Sprunggelenk gebrochen. Das bedeutet, von heute an etwa vier bis sechs Wochen stark eingeschränkte Mobilität, kein Sport, kein Yoga, kein Einkaufen, kein Wandern im Busch rund um Wermelskirchen. Wie in Hoch-Zeiten der Corona-Pandemie. Und seit gestern bin ich nun auch wieder zuhause. Im eigenen Bett schlafen. Den eigenen Kaffee aus der eigenen Maschine schlürfen. Alles vertrauter als die Krankenhausumgebung der letzten Wochen. Wir fangen noch einmal neu an, das Jahr Zweitausendunddreiundzwanzig und ich. Demnach wäre gestern Neujahr gewesen, da ich neunundvierzig Tage anderswo gelebt habe, in Krankenhäusern und Intensivstationen. Ich bin bereit, mich mit dem aktuellen Jahr zu versöhnen.
Soll man Rassisten umerziehen?
Robert Misik, Soll man Rassisten umerziehen? Ja, was denn sonst!, in: Newsletter Vernunft und Extase, erschienen am dreizehnten Februar Zweitausenddreiundzwanzig
Westentaschen-Mussolinis wie Kickl können nicht beantworten, was eigentlich am Ende, nach Polarisierung, nach der Wut- und Hassbewirtschaftung, nach dem von ihnen so leidenschaftlich betriebenen Zerstörungswerk stehen soll. Nicht einmal sie selbst können auch nur im Entferntesten eine Idee der Verwandlung in Verbesserungsenergie angeben. Das ist letztendlich auch ihr größter Schwachpunkt. Denn auch ihre verbiestertesten Anhänger wissen das. Sie wissen das insgeheim: Dass am Ende des Zerstörungsfurors nicht Verbesserung, sondern Verschlechterung steht. Sie machen nicht nur die Gesellschaft schlechter, sie machen die Menschen schlechter. Eine der großen Fehlannahmen ist ja, dass der rechte Radikalismus nur das Potential an Menschenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft aufnehme, umgarne, sichtbar mache. Dass er nur spiegle, was ohnehin da ist. Das ist natürlich nicht gänzlich falsch, insofern er an Vorhandenes appelliert, aber auch nicht gänzlich richtig, denn er ist auch eine Umerziehung. Eine Umerziehung zur Grausamkeit, eine Einübung in die Schlechtigkeit. Diese Pointe sollte man nicht übersehen, gerade, weil ja eine Propagandafloskeln der Rechtsextremen lautet, die linken, liberalen und sonstigen „Gutmenschen“ würden die Menschen umerziehen wollen, zu Antirassisten, zu Migrantenfreunden, zu Feministen, zu Homosexuellen-Tolerierern oder was auch immer. Dabei verschweigen die Rechtsextremisten gerne, dass sie die Menschen auch umerziehen wollen, sie durch das tägliche Gift der Verrohung in grausamere Menschen verwandeln wollen, ihnen jede Empathie abgewöhnen wollen, usw. (…) Ich denke, Rorty trifft hier einen Punkt, den wir gerne übersehen. Die rechten Extremisten wollen die Menschen umerziehen, zur Grausamkeit erziehen. Leute wie Kickl wollen Menschen, die möglicherweise den intuitiven Impuls verspüren würden, leidgeprüften Menschen zu helfen, mit ihnen Mitleid zu empfinden, dazu bringen, dass sich diese die Empathie und das Mitleid abgewöhnen und in einem Flüchtlingskind mit zerrissener Kleidung nicht das hilfsbedürftige Geschöpf zu sehen, sondern den gefährlichen Eindringling, der abgewehrt werden muss. Die Rechten wollen die Menschen umerziehen, aber auch die Linken wollen die Menschen umerziehen. Sie wollen Rassisten umerziehen, damit sie keine Rassisten mehr sind, und Menschen mit grausamen Intuitionen zu Menschen mit Empathie. Was eigentlich sollte man mit Rassisten denn auch sonst tun?
Robert Misik, Soll man Rassisten umerziehen?, in: Newsletter Vernunft und Extase, erschienen heute, am dreizehnten Februar Zweitausendunddreiundzwanzig
Silvestervariante
Mit annähernd Zweiundsiebzig sollte man so ziemliche alle Varianten des Silvesterfestes durch haben. Die der jugendlichen Clique mit Böller und nicht viel, aber genug Alkohol, des Party-Paares mit Freunden mit viel Alkohol und weniger Böllern, die Fêten mit Kindern und ohne Kinder, die gesetzt-geruhsamen Jahresübergänge mit leckersten Zutaten, aber doch auch weniger Alkohol, die Silvesterabende zu Hause, ohne Böller und nur Sekt zum Anstoß aus Neue Jahr. Ich versuche mich heute an einer für mich noch unerprobten Variante. Mit einem fremden Mann in einem Zimmer des hiesigen Krankenhauses, so ganz ohne jedes Familienmitglied, ins neue Jahr zu rutschen. Vermutlich sogar ohne Alkohol, allenfalls dem zum Einreiben. Mal sehen. Ich werde berichten. Jedes Fest ist es wert, angemessen gefeiert zu werden. Ich wünsche Euch allen jedenfalls einen gesunden Übergang ins Neue Jahr. Wir trinken dann ein bißchen später drauf.
Rauhnächte
Die Rauhnächte, das sind die zwölf heiligen Nächte zwischen Weihnachten bzw. Wintersonnenwende und dem Dreikönigstag und gelten seit jeher als heilige Zeit. Als Zeit der Geister, der Wölfe und Dämonen. Die Zeit „Zwischen den Jahren“, auch eine schöne Beschreibung für die Spanne, gilt als mythenumwoben. Vermutlich stammen viele der Bräuche, die sich um sie ranken, noch aus vorchristlicher Zeit. Meine Freundin Gabriele Ertl schrieb heute auf Facebook:
Eine Raunacht. Der Duft von Kräutern: Wacholder, Beifuss, Salbei, Thymian, und ein bischen Weihrauch erfüllt das Haus. Vom Dachboden bis in den Keller werden alle Räume bis in die Ecken mit den Kräutern geräuchert, und durch die offene Haustür verschwinden traditionell die bösen Geister vor dem Duft, den gesammelten Gedanken und Wünschen. Kerzen brennen und geben warmes Licht. Friedlich ist es.
Seinen Ursprung hat der Brauch vermutlich in der Zeitrechnung nach einem Mondjahr. Ein Jahr aus zwölf Mondmonaten umfasst nur dreihundertvierundfünfzig Tage. Um mit dem Sonnenjahr und seinen dreihundertfünfundsechzig Tagen in Übereinstimmung zu bleiben, werden die auf die mehr als 365 Tage des Sonnenjahres fehlenden elf Tage – beziehungsweise zwölf Nächte – als „tote Tage“, als Tage „außerhalb der Zeit“, außerhalb der Mondmonatsrechnung, eingeschoben. In solchen Zeiten, so der Mythos, wird verbreitet angenommen, dass Gesetze der Natur außer Kraft geraten und die Grenzen zu anderen Welten aufgehoben werden. Es gibt noch weitere Tage im Jahr, an denen, wie es bei Überzeugten heißt, „die Grenze zur feinstofflichen Welt dünner ist und die ähnlich gut geeignet sind wie die Rauhnächte, um Wünsche zu formulieren, zu orakeln. Etwa Beltane / Walpurgisnacht / Samhain / Halloween / Allerheiligen / Allerseelen / Thomasnacht / Nikolausnacht.
GLASSES FROM OUTERSPACE
VON WOLFGANG HORN
Der zweite Weihnachtsfeiertag hatte so seine Tücken. Die provisorische Lesebrille, die meinen relativ frisch gelaserten Augen die Arbeit mit Computer, Tablett, iPhone und Apple-Watch möglich machte, gab nach wenigen Tagen schon die Zusammenarbeit auf. Das heißt: eigentlich nur das rechte Glas. Heute, gleichsam am dritten Weihnachtsfeiertag, nahte aber bereits Rettung: Gudrun Kirst. Sie ist die Inhaberin des Optikergeschäfts Sehenswert an der Kölner Str. 29, eingesessenen Dellmännern als „Madel“ gewiß ein Begriff. Frau Kirst nahte mit einem groß dimensionierten Koffer mit unzähligen verschiedenen Brillengläsern aller nur denkbaren Stärken und Einstellungen. Flugs schuf sie eine sechs Meter lange Schneise, stellte Ihre Meßtafeln mit Texten und Zahlen auf, ganz, wie man es im Optikergeschäft auch macht. Ein Gestell auf die Nase und das mitunter mühselige Verfahren beginnt.

Der Nichtseher beschreibt dem Sehenden, was er erkennen kann und was nicht, wo die Blindheit beginnt. Try and error, Versuch und Irrtum. Ist es so ein bißchen schärfer? So vielleicht? Können Sie die untere Reihe auch lesen? Und ganz links, was für ein Buchstabe ist das? Dann aber hat man es geschafft, das Team Optikerin und brillenloser Kunde, sind zu einem Ergebnis des Gemeinsem Ratschlages gekommen. Eine Lese- und Computerbrille, die den ganzen unmittelbaren Körperbereich zu erkennen möglich macht. PC, iPhone, Uhr, Buch und Zeitung, Brief. Toll. Und am allerbesten: Das Untersuchungsgestell ist der Hammer. Die Partybrille. Glasses from Outerspace. Elton John wäre neidisch. Leider weigert sich Frau Kirst, dieses formschöne Teil in ihr Programm aufzunehmen. Das war heute das allererste Mal in meinem nun bald zweiundsiebzigjährigen Leben, daß eine Brillenanpassung bei mir zu Hause stattgefunden hat. Den Arztbesuch kennt man, immer noch, gottlob. Händler liefern bis ins Haus. Gottlob. Fußpflegerinnen und Friseurinnen arbeiten ebenfalls ambulant. Aber der Hausbesuch der Optikerin ist für mich die absolute Premiere. Das sollte Schule machen in einer immer älter und womöglich immer immobiler werdenden Gesellschaft.
(Zuerst erschienen im Forum Wermelskirchen)
Die Nobelpreisvariante
Wenn sich gekrönte Häupter der ganzen Welt, Staatenlenker, Industrielle, Bürokraten, Scheichs, Minister, Kanzler, Professoren, Forscher, Potentaten von der einstigen Mutter des Punk, Patti Smith, das Lied singen lassen müssen, das ein einundzwanzigjähriger „Protestsänger“, Bob Dylan, 1962 womöglich als Allegorie auf den Atomstaub nach den vielen oberirdischen Testexplosionen geschrieben hatte, ist das für mich immer wieder ein großartiges Erlebnis. Die Welt ändert sich. Zu langsam, zugestanden. Aber wer hätte 1962 auch nur einen Dime gegeben auf das Ereignis, das ich mir immer wieder anschauen kann. Meine Lebenspanne reicht von der scheuklapprigen Nachkriegszeit in eine Zeit und eine Gesellschaft, in der die Eliten jenen zuhören müssen, sie ehren dürfen, ihre Werke anerkennen, die sich um die eine Welt des Friedens mühen, der sozialen Gerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und der Schonung der Natur, des gemeinschaftlichen Kampfes für demokratische Verhältnisse und Einrichtungen, für eine Kultur des Streits mit dem Ziel der gemeinschaftlichen Überzeugung. A hard rain. Selbst der saure Regen oder der Klimawandel sind spürbar. Aber es treten eben auch das von Wölfen gehütete Kind auf, die Jungfrau mit dem brennenden Körper, die zehntausend Redner mit gebrochenen Zungen, die hundert Trommler mit brennenden Händen, die Männer mit blutenden Hämmern, die zwölf Berge und sieben Wälder, die Leiter im Wasser, die menschenleere Straße voller Diamanten, die alles verschlingende Flutwelle, das Mädchen, das einen Regenbogen schenkt. Die Apokalypse. Gottes Zorn. Der Dichter endet in der Gosse. Der Clown weint. Ein Mensch hungert. „Where souls are forgotten“.
Und Patti Smith, Freundin von Dylan, ist ebenso ergriffen, wie es Teile des Publikums sind, nervös, aufgeregt. Es nutzt alle Erfahrung nichts, wenn zum in der ganzen Welt geachteten und gleichsam gesiegelten Kulturgut hinzugefügt wird, was einst der Verhöhnung diente, der Beleidigung, der verächtlichen Ausgrenzung. Oben und unten haben ausgedient. Hoch und Alltag. Kultur ist Kultur ist Kultur.