Tote Traditionen

(…) Ein beliebter, aber angesichts der moralischen Heuchelei doch etwas abgefeimter Vorwurf gegenüber der Partei (Die Grünen, W.Horn) lautet immer wieder, das ganze ökologische Gewissen und Verhalten müsse man sich schon leisten können – und liefe doch eigentlich nur auf das Distinktionsbedürfnis einer sich besonders hochstehend dünkenden Truppe hinaus. Dann kommt auch gleich die sprichwörtliche hart arbeitende Krankenschwester ins Spiel, die etwa auf ihr Auto angewiesen sei. Geht es um ihre Entlohnung und Arbeitsbedingungen, sieht die Nummer aber gleich wieder anders aus. Aber auch in den großpolitischen und geoökonomischen Energiefragen argumentiert der fossile Fanclub gerne beinhart für den betonierten Status quo – inklusive Öl- und Atomkonzern-Milliardeneinnahmenbestandsgarantie. Bloß keine Zumutungen – sprich: keine Veränderungen, keine Kraftanstrengungen, kein Wille zum Wandel. Die Zufriedenen wollen, dass bitte alles so bleibt, wie es vorgeblich war. Wenn die Grünen, selbstverständlich mal besser und mal schlechter, wir sprechen immer noch von Parteien, auf die neuen Verhältnisse, Umstände und Notwendigkeiten –Klimawandel, Gleichberechtigung oder untauglich gewordene diplomatische Gepflogenheiten – immerhin reagieren wollen und nicht bloß den Stillstand zu verwalten trachten, wird die Technologieoffenheit utopisch genannt, wird bei Geschlechterthemen der bürgerliche Anstand vergessen und verliert sich in Vulgarität. Und es wird, was Auftrag der Legislative ist, die Gesetzgebung reichlich geistlos als unstatthafte Gängelung, Verbotskultur und Dirigismus abgetan. Einst galt ihr Quengelei noch als liederlich, und es zeichnete die bürgerliche Klasse vielmehr der Mut zur Introspektion aus, die Fähigkeit, Festgefahrenheit und tote Traditionen zu überwinden, sich neu zu erfinden. Das war das Fortschritts­versprechen, für die eigene und folgende Generationen. Auf ein Neues.

Lutz Lichtenberger, Rumstresser. Postskriptum, in: Hauptstadtbrief vom vierten Dritten

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