Alle Artikel vonWolfgang Horn

Kindeswohlgefährdung

Unter dem Titel Das Letzte bezeichnet Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung die „mickrigen Beträge für Kindergrundsicherung“ als Schande.

Verglichen mit dem Elend in Burundi, in Malawi oder in Sierra Leone seien die deutschen Armen komfortabel ausgestattet, woraus sich auch das „besonders Bittere für die Bedürftigen“ in Deutschland ergebe, daß sie nämlich die Anerkennung ihrer Bedürftigkeit verloren hätten.

Der Betrag der Ampelkoalition für Kindergrundsicherung verhöhne den Namen „Grundsicherung“, denn es werde gesichert, dass alles bleibt, wie es ist und arme Kinder den Rand der Gesellschaft bilden.

Jedes vierte bis fünfte Kind in Deutschland lebe in Armut, ausgeschlossen aus einer Welt, die sich nur den einigermaßen Situierten entfalte. Die Geldbeträge für die Kindergrundsicherung reichten nicht für gesunde Ernährung, nicht für Bildung, nicht für schulische Bildung, nicht für kulturelle Bildung, nicht für politische Bildung. „Sie reichen nicht dafür, soziale Ungleichheiten auch nur ansatzweise auszugleichen.“

Die FDP propagiere gar, eine weitere „Umverteilung“ dürfe es nicht geben, die Kindergrundsicherung sei die letzte sozialpolitische Reform für die nächsten Jahre. „Das ist das Letzte. Es ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich“, so Heribert Prantl. Verachtung des Sozialstaats führe zu Demokratieverachtung. „Wer die Sozialpolitik einfriert, der friert die Demokratie ein. Solchen Frost kann sich Deutschland nicht leisten. Mindestens ebenso nötig wie Wirtschaftswachstum ist Demokratiewachstum. Sozialpolitik ist die Basispolitik der Demokratie. Eine moderne Sozialpolitik sorgt dafür, dass der Mensch Bürger sein kann.“

Der moderne Sozialstaat investiert nach Prantl in Sozialpolitik: „Er investiert in die Bildung der Kinder neuer Unterschichten; er verwandelt die Schwächen der Generation Migration in Stärken; er fördert die sprachlichen Kompetenzen und den interkulturellen Reichtum dieser Generation. Solche Sozialpolitik wächst über ihre industriegesellschaftliche Herkunft hinaus. Sie sorgt für annähernd vergleichbare Lebenschancen.“

Dagegen triumphiere FDP-Finanzminister Christian Lindner, weil er mit seinem „Wachstumschancengesetz“ Steuererleichterungen für die Wirtschaft durchgesetzt und dafür die Kindergrundsicherung gestutzt habe. Er verkenne, dass die Kindergrundsicherung zu den Wirtschaftswachstumschancen gehört. Ein gutes Kindergrundsicherungsgesetz sei zugleich Wachstumschancengesetz und Demokratiestärkungsgesetz und müsse ein „Schicksalskorrekturgesetz“ sein, da es nichts Ungerechteres als das Schicksal gäbe.

Erst wenn die Gesellschaft diese Aufgabe ernst nimmt, werde sie, so Prantl, wirklich zur Gesellschaft. Es gebe ein Recht auf Hilfe, dem Schicksal der Armut, der Gewalt und der Diskriminierung zu entkommen. „Das ist Menschenrecht.“ Es müsse endlich im Grundgesetz festgeschrieben werden, das Kindeswohl bei allen staatlichen Maßnahmen vorrangig zu beachten, und dass Kinder das Recht auf Entwicklung und Förderung haben. „Dann könnte mit der Kindergrundsicherung nicht so gedankenlos umgegangen werden wie soeben. Kinder sind wichtiger als die schwarze Null.“ Danke Heribert Prantl.

Niedertracht

Max Steinbeis, Aiwanger und wir, in: Verfassungsblog

Heimat

Eine auf Heimat gründende, kollektive »Identität« ist im Wesentlichen Ressentiment, ist exklusiv, nicht inklusiv, sie sucht in erster Linie Abgrenzung und betreibt Ausgrenzung – und mündet, historisch gesehen, immer in Gewalt. Gerade in Europa sowie in Afrika und Teilen Asiens, wo in den vergangenen Jahrhunderten durch Kriege und willkürliche Grenzziehungen so viel Heimat geraubt und verloren und der Heimatbegriff durch wechselnde Ideologien missbraucht wurde, ist die Frage nach der je eigenen Verortung immer schon prekär.

Wo gehöre ich hin? Wo bin ich in dieser globalisierten, immer einförmiger werdenden Welt zu Hause? Nirgends? Nein, überall! Überall dort, wo ich mich wohlfühle, wo meine Rechte garantiert sind, wo ich in meinem »Sosein« akzeptiert werde, wo ich frei bin. Gerade letzteres ist entscheidend. Das wusste schon einer der frühen deutschen Demokraten, der Philosoph und Revolutionär Arnold Ruge: »Die Freiheit ist nicht national«, sie verträgt sich nicht mit landsmannschaftlicher, lokaler und regionaler Verhaftung, ebenso wenig mit patriotischem Getöse. Unter diesen – leider den üblichen – Bedingungen wird Heimat zum Kampfbegriff. Dabei kann sie sich erst jenseits solcher »Verhärtungen« wirklich entfalten.

Nur im Erleben von Vielfalt und Unterschiedlichkeit können meine »Heimatsinne« nach und nach wachsen und am Ende in Gesten, Landschaften und Lebensgeschichten, in Begegnungen und menschlichen Beziehungen ihr selbst gewähltes zuhause finden. An jedem Ort. (…) Sobald die Einhegung des Gemeinsamen zur Wagenburg wird – und wann und wo wäre das jemals nicht passiert? –, um sich von anderen Gruppen abzugrenzen und zu schützen, ist es zur »Feindstellung« und Kampfbereitschaft nicht mehr weit. Das Soziale schlägt in Asoziales um und wird konfrontativ – und am Ende zum Weg in die Sartre’sche Hölle: »Die Hölle, das sind die anderen.«

Jede und jeder wird – auch aus privaten Erfahrungen – bestätigen können, dass das einer die liebsten Irrwege von uns Menschen ist: Neues, Fremdes, Anderes ablehnen und bekämpfen! Dabei sollten wir – ebenfalls auch wieder aus privaten Erfahrungen – wissen, dass das Gegenteil richtig ist: Das Neue ist nicht der Feind des Alten, so wenig wie das Fremde der Feind des Eigenen ist. Aber die Spannung zwischen diesen beiden Polen prägt das gesellschaftliche Leben seit jeher. Historisch gesehen waren dabei immer jene Gesellschaften am erfolgreichsten, die auf Integration statt auf Ausgrenzung gesetzt haben, die also bereit waren, fremde Einflüsse und neue Impulse verändernd wirksam werden zu lassen. Genau darauf käme es jetzt an. Integration ist etwas anderes und ist mehr als Assimilation. Es geht nicht um die Anpassung an das je Gegebene, sozialer und humaner Fortschritt bestand und besteht immer in der Überwindung des Bestehenden, nicht in dessen Erhalt. Es geht darum, Mischungsverhältnisse zu finden, in denen das Eine durch das Andere erweitert, bereichert wird. Hierbei könnten wir uns durchaus die Kinder zum Vorbild nehmen, deren Weltaneignung genauso funktioniert. Solche Offenheit, wie sie den Kindern noch eigen ist, brauchen wir gegenwärtig mehr denn je. Denn wir sind derzeit mit Veränderungstendenzen konfrontiert, wie sie in der Menschheitsgeschichte ihresgleichen suchen. Irgendein Rückbezug auf einen romantisch verbrämten, traditionellen, rückwärtsgewandten Heimatbegriff wird uns dabei ganz sicher nicht helfen. Russland und die Ukraine zeigen gerade, wohin das führt.

Rüdiger Dammann, Heimat-Klänge, in: Ossietzky

LINDNER HAT RECHT!

Im Sommerinterview des ZDF hat Lindner soeben Bemerkenswertes gesagt: Teile des Koalitionsvertrages seien aus der Zeit gefallen. Stimmt! Ganz besonders gilt dies angesichts der gewaltigen politischen Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine und der Corona Epidemie. Mit nahezu religiösem Eifer wehrt sich die FDP dagegen, mit der Politik der Bundesregierung Gegenmaßnahmen zu realisieren. Das ist verstörend und nicht begreifbar.

Beispiel: Kindergrundsicherung und Senkung des Industriestrompreises. Gesellschaftliche Bruchlinien und wirtschaftliche Notwendigkeiten werden gegen jeden Sachverstand ignoriert. Lindner ist Vorsitzender einer Partei, die kein Ziel hat außer der Selbsterhaltung. Muss dieses Land wirklich noch eine weitgehend handlungsunfähige Regierung weitere 2 Jahre ertragen? Oder ist die beste aller schlechten Lösungen die Aufkündigung der Koalition mit der FDP? Unser Land nimmt Schaden, wenn die FDP weiter die Richtlinien der Politik bestimmen darf.

Hans-Chrsitian Hofmann, Lindner hat Recht!, Kolumne in Blog der Republik

„Die Kirche im Dorf lassen“

„Wenn man Weltmeister wird, ist man emotional. Und was er da gemacht hat, ist – sorry, mit Verlaub – absolut okay.“

Karl-Heinz Rummenigge über Luis Rubiales

Rummenigge will die Kirche im Dorf lassen. Toll. Eine Einrichtung, auch für Übergriffigkeit und sexuelle Gewalt berüchtigt. Leider. Rubiales’ unerwünschter Kuß ist übergriffig und Rummenigges Verständnis unterirdisch.

Maulhelden

Es reicht ein einziges Wort. Es braucht keine Sätze, keine Erklärungen, keinen Kontext mehr. “Verbot”: Das Wort allein funktioniert als unbedingter Reiz. Wie bei Pawlows Experiment dem konditionierten Hund schon der Speichel fließt vor Appetit, wenn er nur den Klang der Glocke hört, mit der er baldiges Essen verbindet. So schäumt es im öffentlichen Raum schon vor Aggression, wenn nur das Wort “Verbot” ertönt, mit dem das konditionierte Milieu nurmehr “Unterdrückung” zu verbinden gelernt hat. Der Begriff allein ist zum Stimulus kollektiver Wut geworden. “Verbot”, das löst blanken Reflex aus. Da wird aufgejault und herumkrawallt, als drohe die totale Entrechtung. Ohne Differenzierung, ohne auch nur den Restbestand an sachlicher Neugierde, was da verboten werden soll, ohne auch nur den Hauch von Interesse an Argumenten und Gründen. (…) “Verbot“, das wird reflexhaft verkoppelt mit ”Diktatur”. (…) Es ist abstrus, mit welch autoerotischer Empörung sich da echauffiert wird über die Vorstellung, dass es so etwas geben könnte wie eine Regel, an die sich alle halten müssen. Als sei jede individuelle Einschränkung, jedes Gesetz der ultimative Angriff auf die demokratische Gesellschaft oder der Beginn des Totalitarismus. (…) Vielleicht braucht es eine Re-Formulierung des demokratischen Vokabulars. Vielleicht braucht es auch nur eine Beschreibung, wie die soziale Wirklichkeit aussähe, wenn es keine gesetzlichen Vorgaben gäbe. Gesetze und Verbote in einem Rechtsstaat verhindern nicht subjektive Freiheitsrechte, wie da permanent suggeriert wird, sondern sie setzen den Rahmen, innerhalb dessen die Autonomie des Einzelnen überhaupt erst ausgeübt und gelebt werden kann. Eine Freiheit ohne die Grenze der Freiheit und Würde anderer ist keine. Es ist ein eigentümlich narzisstisches Verständnis von Freiheit, wenn jede Regel, die Rücksichtnahme auf andere, jedes Gesetz, das mit Blick auf das Gemeinwohl mir individuell etwas abverlangt, jede Norm, die zum Schutz von Personen oder Institutionen oder der Natur erlassen wird, kategorisch abgelehnt und als mutmaßliche Repression umgedeutet wird. Jede Achtung vor anderen, jede Selbstbeschränkung, jedes Einhegen von eigenen Ansprüchen wird da schon mit infantilem Geplärre als Zumutung behauptet. (…) Natürlich können und müssen auch Gesetze befragt und kritisiert werden. Natürlich ist nicht jeder staatliche Eingriff legitim oder angemessen. Natürlich braucht es auch demokratischen Widerspruch und Abwehrrechte gegen Übergriffe des Staates in subjektive Handlungsrechte. Natürlich braucht es parlamentarischen oder zivilgesellschaftlichen Einspruch und Protest, wenn Verordnungen und Gesetze willkürlich und übergriffig bürgerliche Freiheiten aushöhlen. Aber was da im Moment aufgeführt wird, benutzt nur den Begriff der Freiheit als rhetorische Requisite, um sich damit großmaulig im behüteten Kleingarten einer demokratischen Gesellschaft als mutig, als unerschrocken, als dissident zu inszenieren – und verkennt damit, welchen Mut, welche Unerschrockenheit, welche Dissidenz es in echten autokratischen Regimen braucht. Es lässt sich politisch nichts gestalten, wenn man nicht untersagt, was schädlich ist. Demokratisches Regierungshandeln braucht auch gesetzliche Instrumente, mit denen sich gesellschaftlicher Fortschritt, mit denen sich ökonomischer Wohlstand, mit denen sich Gesundheitsvorsorge, und, ja, mit denen sich ein nachhaltiger Klimaschutz entwickeln lassen. Es lässt sich nichts politisch gestalten, es lässt sich das gute Leben nicht schützen, wenn nicht auch das, was schädlich, was korrupt, was ungerecht, was gewaltförmig ist, untersagt werden kann.(…) Wenn wir als demokratische Gesellschaft überleben wollen, wenn wir unsere Freiheit und unsere Lebensgrundlagen erhalten wollen, dann brauchen wir Regeln, die zugleich einschränken und ermöglichen, wir brauchen Gesetze, die uns lernen und wachsen lassen. Dazu gehört auch, die Mechaniken der absichtsvollen Entstellung von unverzichtbaren Begriffen der Demokratie als das zu entlarven, was sie sind: populistische Demagogie und autoritäre Regression.

Carolin Emcke, Rechtsstaat: Die Maulhelden in: Süddeutsche Zeitung