Maulhelden

Es reicht ein einziges Wort. Es braucht keine Sätze, keine Erklärungen, keinen Kontext mehr. “Verbot”: Das Wort allein funktioniert als unbedingter Reiz. Wie bei Pawlows Experiment dem konditionierten Hund schon der Speichel fließt vor Appetit, wenn er nur den Klang der Glocke hört, mit der er baldiges Essen verbindet. So schäumt es im öffentlichen Raum schon vor Aggression, wenn nur das Wort “Verbot” ertönt, mit dem das konditionierte Milieu nurmehr “Unterdrückung” zu verbinden gelernt hat. Der Begriff allein ist zum Stimulus kollektiver Wut geworden. “Verbot”, das löst blanken Reflex aus. Da wird aufgejault und herumkrawallt, als drohe die totale Entrechtung. Ohne Differenzierung, ohne auch nur den Restbestand an sachlicher Neugierde, was da verboten werden soll, ohne auch nur den Hauch von Interesse an Argumenten und Gründen. (…) “Verbot“, das wird reflexhaft verkoppelt mit ”Diktatur”. (…) Es ist abstrus, mit welch autoerotischer Empörung sich da echauffiert wird über die Vorstellung, dass es so etwas geben könnte wie eine Regel, an die sich alle halten müssen. Als sei jede individuelle Einschränkung, jedes Gesetz der ultimative Angriff auf die demokratische Gesellschaft oder der Beginn des Totalitarismus. (…) Vielleicht braucht es eine Re-Formulierung des demokratischen Vokabulars. Vielleicht braucht es auch nur eine Beschreibung, wie die soziale Wirklichkeit aussähe, wenn es keine gesetzlichen Vorgaben gäbe. Gesetze und Verbote in einem Rechtsstaat verhindern nicht subjektive Freiheitsrechte, wie da permanent suggeriert wird, sondern sie setzen den Rahmen, innerhalb dessen die Autonomie des Einzelnen überhaupt erst ausgeübt und gelebt werden kann. Eine Freiheit ohne die Grenze der Freiheit und Würde anderer ist keine. Es ist ein eigentümlich narzisstisches Verständnis von Freiheit, wenn jede Regel, die Rücksichtnahme auf andere, jedes Gesetz, das mit Blick auf das Gemeinwohl mir individuell etwas abverlangt, jede Norm, die zum Schutz von Personen oder Institutionen oder der Natur erlassen wird, kategorisch abgelehnt und als mutmaßliche Repression umgedeutet wird. Jede Achtung vor anderen, jede Selbstbeschränkung, jedes Einhegen von eigenen Ansprüchen wird da schon mit infantilem Geplärre als Zumutung behauptet. (…) Natürlich können und müssen auch Gesetze befragt und kritisiert werden. Natürlich ist nicht jeder staatliche Eingriff legitim oder angemessen. Natürlich braucht es auch demokratischen Widerspruch und Abwehrrechte gegen Übergriffe des Staates in subjektive Handlungsrechte. Natürlich braucht es parlamentarischen oder zivilgesellschaftlichen Einspruch und Protest, wenn Verordnungen und Gesetze willkürlich und übergriffig bürgerliche Freiheiten aushöhlen. Aber was da im Moment aufgeführt wird, benutzt nur den Begriff der Freiheit als rhetorische Requisite, um sich damit großmaulig im behüteten Kleingarten einer demokratischen Gesellschaft als mutig, als unerschrocken, als dissident zu inszenieren – und verkennt damit, welchen Mut, welche Unerschrockenheit, welche Dissidenz es in echten autokratischen Regimen braucht. Es lässt sich politisch nichts gestalten, wenn man nicht untersagt, was schädlich ist. Demokratisches Regierungshandeln braucht auch gesetzliche Instrumente, mit denen sich gesellschaftlicher Fortschritt, mit denen sich ökonomischer Wohlstand, mit denen sich Gesundheitsvorsorge, und, ja, mit denen sich ein nachhaltiger Klimaschutz entwickeln lassen. Es lässt sich nichts politisch gestalten, es lässt sich das gute Leben nicht schützen, wenn nicht auch das, was schädlich, was korrupt, was ungerecht, was gewaltförmig ist, untersagt werden kann.(…) Wenn wir als demokratische Gesellschaft überleben wollen, wenn wir unsere Freiheit und unsere Lebensgrundlagen erhalten wollen, dann brauchen wir Regeln, die zugleich einschränken und ermöglichen, wir brauchen Gesetze, die uns lernen und wachsen lassen. Dazu gehört auch, die Mechaniken der absichtsvollen Entstellung von unverzichtbaren Begriffen der Demokratie als das zu entlarven, was sie sind: populistische Demagogie und autoritäre Regression.

Carolin Emcke, Rechtsstaat: Die Maulhelden in: Süddeutsche Zeitung

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.