Monat: Dezember 2015

Nicht wir

Nicht wir sind es, die größte Herausforderungen zu meistern haben, sondern diejenigen, die zu uns kommen. Nicht wir haben ein Problem, weil wir in der Turnhalle kein Zirkeltraining machen können, sondern die, die in der Halle leben müssen. Nicht wir haben irgendeinen Grund zu jammern, sondern alle, die ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde verloren haben.

Frank Stauss, Es ist Zeit, in: frank-stauss.de

 

Wenn du geboren bist am Kiessaum der See

Wenn du geboren bist am Kiessaum der See,
stehst du auf steinigem Grund,
wo immer du gehst,
das Gras bahnt sich seinen Weg
zwischen den Steinen.

Geh du ans Ende der Welt,
Ruhm zu erlangen,
kehr heim
und spiel mit einer zerschellten Muschel.

Geh, Alter,
den Weg der Welt in Gänze,
und am Strand der Ewigkeit
findest du einen vergilbten Halm
hinter einem Stein aus Basalt, geschliffen vom Meer.

 

Jón úr Vör, Wenn du geboren bist am Kiessaum der See, aus dem Zyklus: Þorpið / Das Dorf, Queich-Verlag, zitiert nach dem literarischen Blog: Wortspiele von Wolfgang Schiffer

Acht Fragen

Einen Brief zu schreiben, heutzutage, so sagt man, sei bereits eine Kunst. Das Schriftliche werde kaum mehr geübt. Die digitale Kurznachricht, SMS und WhatsApp, und das Telefon dominierten die private Kommunikation. Womöglich ein Urteil, das kurz greift, zu kurz, ein Vorurteil also eher. Einen offenen Brief zu schreiben, ist dagegen ganz gewiß eine Kunst. Ein Kunst, der sich vor allem Politiker verschreiben. Ein offener Brief, früher Sendschreiben geheißen, ist ein Brief, der sich weniger an den im Schriftstück (welch schönes Wort) genannten Empfänger wendet, sondern eher an die Öffentlichkeit oder eine bestimmte Teilöffentlichkeit, wird der offene Brief doch als Flugschrift (wiederum ein schön altertümelndes Wort), als Flugblatt verbreitet oder in der Presse oder anderen Medien publiziert, heutzutage meist in den sogenannten sozialen Medien im Internet. Ein offener Brief ist also mehr der Form nach ein Brief, der Absicht nach handelt es sich um einen öffentlichen Text, ein Schreiben, das an viele, an alle gerichtet ist. Einer der berühmtesten offenen Briefe stammt laut Wikipedia von Émile Zola und thematisierte Achtzehnhundertachtundneunzig unter dem wuchtigen Titel J’accuse, (Ich klage an) die Dreyfus-Affäre. Der erste Teil der eben erwähnten politischen Kunst besteht also darin, in der Form des Briefes an einen einzelnen Empfänger viele andere Menschen nicht nur ebenfalls, sondern hauptsächlich zu informieren, anzusprechen, zu befragen, zu befassen. Der nächste Teil der politischen Kunst besteht darin, Auffassungen, Positionen, Standpunkte, Gewißheiten in die Frageform zu kleiden. Wer Fragen stellt, verkündet keine Wahrheiten und urteilt nicht. Vermeintlich. Hier bei uns in Wermelskirchen gibt es nur selten solche offenen Briefe zu lesen. Und wenn, dann heißt der Verfasser meist Henning Rehse. Und er hat es schon wieder getan. Heute. Henning Rehse hat einen Brief an den Bürgermeister geschrieben. Und diesen Brief flugs in Facebook der ganzen Stadt zu lesen aufgegeben. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Sagt der nie zu unterschätzende Volksmund. Acht Fragen sind es, die Rehse vom Bürgermeister beantwortet haben möchte. Da diese acht Fragen aber öffentlich gestellt werden, geht es Rehse kaum um eine profunde Antwort des Verwaltungschefs. Rehse möchte, wie zumeist, Stimmung machen, Qualm erzeugen, Aufmerksamkeit erheischen. Der Fraktionsvorsitzende der WNK braucht die Antworten nicht. Nicht wirklich. Worum geht es? Die Grünen haben vor geraumer Zeit den Antrag gestellt zu untersuchen, ob ein altes Haus, ein für Wermelskirchen typisches Handwerkerhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, als denkmalwürdig eingestuft werden könne, da es Zeugnis gebe von der Stadtgeschichte und der gute allgemeine Zustand keineswegs einen Abbruch rechtfertige, sondern eher eine fachgerechte Sanierung. Unterstützt wurde das Vorhaben vom Bergischen Geschichtsverein, der seinerzeit maßgeblich am Erhalt der Bürgerhäuser in Wermelskirchen beteiligt war. Henning Rehse aber, mit seiner WNK unablässig auf der Suche nach Flächen, auf denen noch ein weiterer Parkplatz errichtet werden kann, Henning Rehse also ist so sehr in Beton und Asphalt verliebt, daß, nachdem er die Akten im Rathaus angesehen und dabei festgestellt hatte, daß die Verwaltung getan hat, was eine Verwaltung tun muß, und er gegebenenfalls seinen Plan nicht mehr verwirklichen kann, auf der in Rede stehenden Liegenschaft Parkplätze zu schaffen, Wut und Zorn in ihm hochkamen und er mal wieder zu Feder griff. Das Ende vom Lied kann man in Facebook lesen. Acht Fragen an den Bürgermeister, geboren in Wut. Acht Fragen zum Thema, warum die Verwaltung nach dem Antrag der Fraktion Die Grünen beim für Denkmalschutz zuständigen Landschaftsverband Rheinland einen Ortstermin auszumachen versuchte. In den acht Fragen wird die Mitarbeiterin der Verwaltung nicht beim Namen genannt. Nein. Rehse nennt nur die Initialen. Da kennt er nichts. Datenschutz muß schon sein. Und Rehse behauptet auch nicht, daß durch die Voranfrage beim Landschaftsverband der Stadt ein finanzieller Schaden entstanden sei, da es ja bereits einen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung zum Verkauf der betreffenden Liegenschaft gegeben habe. Nein. Henning Rehse fragt nur. Er fragt den Bürgermeister, ob der Mitarbeiterin bekannt sei, daß ein Schaden eingetreten und der Verkauf jetzt nicht mehr möglich sei. Nein, kein Urteil über die ja nur mit Initialen genannten Mitarbeiterin. Nur eine klitzekleine Frage. Nein. Acht klitzekleine Fragen. Mit denen Henning Rehse in den windstillen Zeiten kurz vor dem Fest der Liebe Stunk machen möchte. “Intensive Kontakte zwischen den Grünen und der städtischen Mitarbeiterin” will Henning Rehse nach seinem detektivischen Aktenstudium im Rathaus festgestellt haben. Das geht ja gar nicht. Daß eine Verwaltungsmitarbeiterin intensiv mit der Fraktion der Grünen kommuniziert. Wenn jemand mit der Verwaltung kommuniziert, dann kann das nur Henning Rehse sein. Wahlweise vielleicht noch ein unbedeutender Adlatus aus den Reihen der WNK. Aber doch nicht die Grünen, die doch unablässig am Untergang des Abendlandes werkeln. Wer in einem offenen Brief dem Bürgermeister mitteilt, daß eine Verwaltungsmitarbeiterin Kontakte zu einer Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung unterhält, der hat die Grenze zur Denunziation bereits überschritten. Nein, mit Henning Rehse wird das nichts mehr. Wie hier schon häufiger geschrieben: Henning Rehse hat seinen Kompass verloren. Mit Schaum vorm Mund schreibt man besser keine Briefe. Und wer einen Sachverhalt aufklären will, schreibt schon mal gar nicht an alle, sondern nur an den Chef der Verwaltung. Stilfragen sind nicht Rehses Problem.

Feinde der Vernunft

Die Gefahr für die Demokratie besteht nicht in Menschen, die vor Krieg, Not und Terror fliehen, sondern in Menschen, die aus Angst Politik machen. Die Gefahr besteht in Sätzen, die jene Vernunftvereinbarung aufkündigen, auf die diese Gesellschaft gründet. (…) Es ist das Wesen der Vernunft, dass sie sich selbst erkennt, in ihren Wahrheiten, in ihren Werten, die dann auch keiner Begründung mehr bedürfen. Die Vernunft schafft sich ihre Ordnung selbst. Die Gleichheit ist so ein vernünftiger Wert, auf der Gleichheit baut alles auf, aus ihr erwächst die Toleranz. Und jeder Politiker, jeder Forumspöbler, der das Schicksal der Flüchtlinge diskutiert, ohne diese grundsätzlich Gleichheit zu akzeptieren, kündigt damit das Versprechen der Vernunft auf, auf dem die Demokratie beruht. Das bedeutet aber, dass man bei jemandem wie Björn Höcke gar nicht mehr lange diskutieren muss, ob er rechtspopulistisch ist oder nicht – er ist ein völkischer Hassprediger, ein Feind der Demokratie, ein Feind der Verfassung, weil er Menschen in rassistische Kategorien unterteilt. Wer wie Höcke vom “lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyp” spricht, der Kinder wie Karnickel in die Welt setze – der hat in keiner Talkshow etwas verloren, weil er von sich aus die Grundvereinbarung des demokratischen Diskurses aufgekündigt hat. Und der muss dann auch nicht, wie es Vernunftfeinden eigen ist, darüber jammern, dass sie irgendwie nicht sagen dürfen, was sie wollen – sie dürfen es, aber nur dort, wo bestimmte Regeln der Logik und des Respektes eingehalten werden. (…) Sie ( die Rechtspopulisten in Europa, W.H.) verbindet eine grundsätzlichere Ablehnung von wesentlichen Elementen all dessen, was im 18. Jahrhundert zur Gestalt des Abendlandes wurde, das diese Politiker doch angeblich bewahren wollen. Sie sind nicht nur gegen Flüchtlinge, sie sind gegen die Freiheit der Meinung und der Kunst (siehe Polen, wo Theateraufführungen verboten werden, weil sie zu pornografisch sind), sie sind im Grunde auch gegen den Kapitalismus (siehe Front National, der ein sehr national und sehr sozialistisches Wirtschaftsprogramm propagiert), sie sind anti-emanzipatorisch und für eine Art Ständegesellschaft, organisiert nach den archaischen Wahnprinzipien von Volk und Rasse. (…) Und weil sich die Aggressionen der Vernunftfeinde vor allem in der Flüchtlingsfrage zeigen, muss man dort besonders deutlich sein: Es gibt hier keine zwei Extreme, von denen die einen für die totale Zuwanderung sind, so die Verzerrung, und von denen die anderen gegen die Zuwanderung sind. Es ist anders: Es gibt auf der einen Seite die, die für die Vernunft sind, und auf der anderen Seite die, die dagegen sind. Und wer für die Vernunft ist, der ist eben auch dafür, Flüchtlinge aufzunehmen. Er kann gar nicht anders, es ist die Konsequenz all dessen, wofür die Herrschaft der Vernunft seit der Aufklärung steht: Gleichheit, Freiheit, Menschenrechte. Es sind die “unalienable Rights”, von denen Jefferson spricht, “Life, Liberty and the Pursuit of Happiness”, sie sind nicht an eine Nation gebunden, wie es die Deutschland-Egoisten wollen, sie sind universell gültig. (…) Es ist Zeit, dass man sich entscheidet, auf welcher Seite man steht. Auf der Seite der Vernunft oder ihrer Feinde. Die Demokratie ist eine Regierungsform geboren aus der Vernunft; wenn die Vernunft endet, endet auch die Demokratie.

 

Georg Diez, Vernunftfeinde, in: Spiegel Online vom dreizehnten Dezember Zweitausendundfünfzehn

 

 

“Wir machen das”

Ich läse gerne den Text eines hochrangigen und verantwortlichen Politikers oder hörte gerne die Rede eines Angehörigen der politischen oder ökonomischen Eliten dieses Landes, in dem oder der das Eingeständnis vernehmlich formuliert wird, daß die zentralen Einrichtungen des Staates, die Regierungen, die Verwaltungen und Ministerien, die Behörden, Parteien, Zeitungen und Rundfunkanstalten allesamt versagt haben. Ich läse oder hörte gerne, daß man sich und das Land, daß man die Bürger trotz deutlichst vernehmbarer Hinweise nicht zureichend auf die große Anzahl von Menschen vorbereitet hat, die vor Krieg und Not, vor Unterdrückung und Elend aus ihrer Heimat flohen und fliehen und Schutz und Hilfe, Zuwendung und Betreuung in unserem Land suchen und erwarten. Ich läse oder hörte gerne, daß man mit Ränke und Ignoranz, aus Gründen ideologischer Scheuklapprigkeit oder mit gezielter Verdrängung politischer Fakten Zeit vertan hat, die man unbedingt hätte nutzen müssen, um das Land, seine Bürger und die Verwaltungen in den Städten und Gemeinden auf die Probleme mit den neuen Nachbarn  vorzubereiten. Ich läse oder hörte gerne, daß stattdessen ideologische Keilereien veranstaltet worden sind, die einer großen Anzahl von Mitbürgern Angst machen vor den Fremden, den neuen Mitbürgern in unserem Land. Ich läse oder hörte gerne, daß man mit den ritualisierten Polithampeleien rechtspopulistischen Angstmachern Vorschub geleistet hat und aus Angst vor der Angst der Bürger nicht die Wahrheit verkündete, sondern die Geschundenen zu Verursachern der vermeintlichen Krise stempelte. Ich läse oder hörte gerne, daß, wenn schon von Krise die Rede ist, die Krise deutlich als Krise infolge des Versagens großer Teile unseres Staates, der Regierungen und Verwaltungen, aber auch der Medien und der Kommunikatoren beschrieben wird. Ich läse oder hörte gerne, daß wir es nicht mit einer Flüchtlings- oder Asylkrise zu tun haben, sondern mit einer Krise des Staates, der Parteien und der Machtzentren. Ich läse oder hörte gerne, daß lediglich der unerhörte Einsatz, die nicht enden wollende Hilfsbereitschaft, der Anstand der ungezählten ehrenamtlichen Helfer, die Menschlichkeit der Zivilgesellschaft das Versagen der Eliten und zentraler Einrichtungen unseres Landes aufzuwiegen, teilweise jedenfalls auszugleichen imstande waren und sind. Ich läse oder hörte gerne, daß es jetzt nicht um die Verschlechterung der Lage einzelner Gruppen der Flüchtigen gehen kann, daß nicht erneut an den Gesetzen und Regeln unseres Landes gezerrt und gezogen und manipuliert werden darf, sondern hier und in den Heimatländern Hilfe geleistet und Frieden gestiftet werden muß. Jenseits aller sattsam bekannten Parteigrenzen oder ideologischer Lagerzugehörigkeiten. Ja, ich läse oder hörte das alles gerne. Aber so schreibt oder sagt das zur Zeit leider niemand. Jürgen Rüttgers war Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, Bundesminister für Bildung und Wissenschaft und CDU-Vorsitzender im Land. Heute ist er Anwalt und Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Und Autor eines Gastkommentars, der heute unter dem Titel: “Wir machen das” in der Süddeutschen Zeitung zu lesen ist.

Wer die öffentliche Debatte der letzten Wochen in Deutschland verfolgt, wundert sich über die sich selbst steigernde Aufgeregtheit, den immer lauteren Alarmismus, die wachsende Angst. In welchem Land leben wir eigentlich, frage ich mich. Da hört man aus Politikermund, die Flüchtlingswelle sei “die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg”. Gab es nicht vor 25 Jahren die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes, die wir bei allen Problemen doch gut gemeistert haben? Da liest man in den Kommentaren: “Nichts wird so bleiben, wie es war.” Aber gehört das nicht zum menschlichen Leben, dass unsere Welt sich jeden Tag ändert? Sogar die Nation soll sich ändern, weil Deutschland “jünger, männlicher und islamischer” wird. Solche Behauptungen sind wohlfeil, schon gar, wenn man uns nicht verrät, was sich denn ändert und wie. Seit dem Zweiten Weltkrieg, also in den vergangenen 70 Jahren, sind mehr als 30 Millionen Menschen aus dem Ausland zu uns nach Deutschland gekommen: Flüchtlinge, Zuwanderer, Bürgerkriegsflüchtlinge, Asylbewerber, Bootsflüchtlinge, europäische Nachbarn. Wir haben sie bei uns aufgenommen, ohne dass sich unser Leben total verändert hat. Obwohl wir über Erfahrungen mit Zuwanderung verfügen, haben wir es nicht geschafft, eine ruhige, ernste Debatte zu führen. In vielen Kommentaren gibt es noch viel Ideologie. Die einen wollen eine multikulturelle Gesellschaft. Allerdings sagen sie nicht, was das in der Lebenswirklichkeit bedeutet. Die anderen haben Angst vor Zuwanderung, vor allem, weil sie sich weigern, die Zuwanderer als das zu sehen, was sie sind, nämlich Menschen, die Hilfe brauchen. Natürlich sind die Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen, die bei uns ein neues Leben beginnen wollen, eine große Herausforderung. Nicht alle werden bleiben können. Viele werden wir integrieren müssen, um gesellschaftliche Dauerkonflikte zu vermeiden. Auch da haben wir Erfahrung. Viel zu spät erkannten wir, dass die Gastarbeiter, die wir selbst ins Land gerufen hatten, nicht wieder nach Hause gehen. Zu lange haben wir geglaubt, wir könnten uns mit ein paar Rückkehrer-Programmen dieser Aufgabe entledigen. Erst Anfang des neuen Jahrtausends gab es erste systematische Integrationsprogramme. Bis dahin haben wir lieber über “Multikulti”, “Leitkultur” und “doppelte Staatsangehörigkeit” gestritten. Erst 2005 wurde der erste Integrationsminister in Deutschland ernannt . Wir wissen also genau, was zu tun ist. Dass das an ein Staatsversagen grenzende Chaos bei der Bearbeitung der Asylanträge schnellstens abgearbeitet werden muss, ist selbstverständlich. Als ob wir nicht schon längst wüssten, dass die Asylverfahren zu lange dauern und deshalb integrationsschädlich sind. Die Kinder der Flüchtlingsfamilien haben ein Recht auf Bildung. Auch viele Erwachsene brauchen eine Ausbildung, um hier arbeiten zu können. Bildung und Sprache sind der Königsweg zur Integration. Nur mit Bildung und Ausbildung haben die Flüchtlinge Chancen auf einen Arbeitsplatz. Nur wer Arbeit hat, fällt dem Sozialstaat nicht zur Last. Auf Platz eins steht: Integration. So wie in diesen Tagen viele Menschen überall in Deutschland den Flüchtlingen helfen, müssen jetzt alle gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen ihre Prioritäten neu festsetzen. Viel zu viele Behörden, Schulen, Pfarreien, Verbände, Unternehmen machen weiter wie bisher. Für sie soll der Staat alles richten. Ihre eigene Verantwortung nehmen sie nicht ausreichend wahr. Es ist auch falsch, den Familiennachzug generell zu verschieben. Wer bleiben darf, muss auch mit seiner Familie zusammenleben können. Wer aber keine Anstrengungen unternimmt, sich zu integrieren, muss auch sein Bleiberecht verlieren. Es reicht nicht zu sagen: Wir schaffen das. Das Motto muss lauten: Wir machen das, und zwar gemeinsam.

Verwüstung

Die Verwüstung der deutschen Sprache grassiert nicht nur im Alltag, sondern auch in jeder Zeitung, in der „Zeit“, der „Süddeutschen“, leider auch in Ihrer. Dass man nicht mehr „selbst“ und „selber“ auseinanderhalten kann oder dass „sicher“ geschrieben wird, wo „sicherlich“ gemeint ist, oder „scheinbar“ statt „anscheinend“. Oder es heißt: „Die syrischen Flüchtlinge flüchten nicht umsonst.“ Ja, umsonst ganz bestimmt nicht, denn sie müssen mindestens das Benzin für ihre klapprigen Autos bezahlen. Oder: „Augstein hat umsonst Reitunterricht genommen.“ Nein, so geizig war er nicht, er hat seinen Reitlehrer bestimmt bezahlt. Er hat aber vergebens Unterricht genommen, weil er es nicht gelernt hat. Wenn es aber schnurzpiepe ist, wie man sich ausdrückt, dann hebt das auch das Denken auf, dann stimmen zum Teil auch die Fakten nicht mehr, dann sind die nämlich auch wurst.

Fritz J. Raddatz, Kritiker und Feuilletonist, gestorben durch begleiteten Suizid im Februar Zweitausendundfünfzehn, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Jahre Zweitausendundzwölf über Kunst als Dekor, die Verwüstung der Sprache und Stil als Korsett für Unsichere.