Sozial schwach 

Sozial schwach sind nicht die Millionen Menschen in Deutschland, die von diesem Bürgergeld leben, weil sie keine Arbeit haben und keine kriegen. Sozial schwach sind auch nicht jene, die jeden Euro dreimal umdrehen müssen, weil sie mit ihren Familien vom Mindestlohn leben. Sozial schwach sind vielmehr diejenigen, die von deren Leben in der “sozialen Hängematte” reden. Sozial schwach sind die Vermögenden und ihre Lobbyisten, die so tun, als würde das Land nicht überleben, wenn sie Vermögensteuern oder angemessene Erbschaftsteuern zahlen müssten. Sozial schwach ist eine Politik, die den Hilfebedürftigen nicht die Hilfe gibt, die sie brauchen, und die nicht alles tut, um Menschen aus der Armut herauszuholen. Sozial schwach ist also derjenige, der Leute, die arm dran sind, weil sie keine Ersparnisse und sehr wenig Geld haben, als sozial schwach bezeichnet.

Friedrich Merz ist sozial schwach. Und es ist bitter, dass unter seinem Partei- und Fraktionsvorsitz auch die Sozialpolitiker der CDU von dieser Schwäche erfasst werden. Soeben hat der Europarat die deutsche Politik dafür kritisiert, dass soziale Rechte in der Bundesrepublik nicht immer als rechtsverbindliche Verpflichtung betrachtet, sondern abhängig gemacht werden von den Ressourcen. Das Merz-Konzept ist ein Beweis für diese Kritik. Das ist ungut, das ist schädlich, das verträgt sich nicht mit dem Grundgesetz (…)

In seiner eindrucksvollen Grundsatzentscheidung vom 9. Februar 2010 formulierte das höchste Gericht ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums; es zwang die Politik, die Armutsgrenze in Deutschland neu festzusetzen und die Leistungen an Arbeitslose und, dies vor allem, an deren Kinder deutlich anzuheben. Es erklärte, dass zum menschenwürdigen Existenzminimum nicht nur die Sicherung der physischen Existenz gehört, sondern auch die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. In einem zweiten Grundsatzurteil im Jahr 2019 hat Karlsruhe Leistungsminderungen für Arbeitslose unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen – in Höhe von maximal dreißig Prozent. (…)

Einen völligen Wegfall der Leistungen, wie ihn die Merz-CDU jetzt bei sogenannten Totalverweigern fordert, hat das Bundesverfassungsgericht untersagt. In ihrem wirtschaftsliberalen Furor nimmt die Merz-Union dieses Verbot nicht zur Kenntnis. (…)

Eine feste, verlässliche Sozialpolitik betrachtet die sozialen Leistungen des Staates nicht als Almosen und nicht als Sozialgeschenk. (…)

Sie weiß: Armut ist eine Verletzung der Rechte der Menschen, die ihr ausgeliefert sind. Eine solche wissende Sozialpolitik befreit den Menschen nicht nur vom Status negativus, also vom Leben in Not, sondern ermöglicht ihm auch den Status positivus; sie versetzt ihn in die Lage, Bürger zu sein. Deswegen ist das Wort “Bürgergeld” ein gutes Wort, es ist dies ein Wort des Respekts. Es lässt Arbeitslose nicht in der Ecke der angeblich Unzulänglichen stehen, es grenzt sie nicht als angebliche Schmarotzer aus. Sozialstaat und Demokratie gehören zusammen, sie bilden eine Einheit.

Heribert Prantl, Agenda Zweitausendunddreißig, in: Süddeutsche Zeitung vom achtundzwanzigsten März Zweitausendvierundzwanzig

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