Monat: November 2014

Sinn-Los

In einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung schreibt heute Dr. Joseph Kuhn aus Dachau unter anderem:

In seiner Welt (der Welt des Hans-Werner Sinn, W.H.) gibt es nur eine Ökonomie, die Neoklassik, und die vertritt er mit dem Gestus eines vatikanischen Glaubenswächters. Die Effizienz der Märkte ist ihm oberstes Prinzip, selbst die aktuelle politische Debatte um die Rechte der Spartengewerkschaften ist für ihn eine Effizienzfrage. Im Leben geht es aber nicht nur um Effizienz, und zu Recht betrachtet unser Grundgesetz nicht die Markteffizienz, sondern die Menschenwürde als unantastbar. Erst danach kommt die Ökonomie.

Das goldene Kalb

Unter dieser Überschrift hat Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung von heute seine Meinung zum neusten Vorschlag der CDU im Umgang mit Freihandelsabkommensverhandlungen kundgetan:

Der Geschäftsführer der Unions-Fraktion im Bundestag hat die SPD allen Ernstes aufgefordert, ihre ohnehin nur sehr verhaltene Kritik an den geplanten Abkommen zwischen der EU und den USA (genannt TTIP) und der EU und Kanada (genannt Ceta) aufzugeben. Die Abkommen sollen, so stellt es sich die Union vor, kritikfrei gestellt werden. Massive Eingriffe in die Rechtsstaatlichkeit durch private Schiedsgerichte sollen, so wünscht sich das die Union, dankbar und mit “Euphorie” begrüßt werden. (…) Man kann nicht erst, wie geschehen, geheim verhandeln und die Öffentlichkeit damit vertrösten, dass man später noch über alles reden könne – und dann später sagen, dass jetzt alles wunderbar geregelt und Kritik nun wirklich nicht mehr am Platze, ja massiv schädlich sei. So kann man mit dem Souverän, dem Volk, und so kann man mit den Parlamenten nicht umgehen. Freihandelsabkommen dürfen nicht zu Entdemokratisierungs-Abkommen und nicht zu Entrechtstaatlichungs-Abkommen werden. Der Tanz ums goldene Kalb gehört ins Alte Testament, nicht in eine demokratische Gesellschaft.

Für Kenner

Es ist wahrlich begeisternd, wenn eine musikalische Aufführung, ein Konzert einen Journalisten begeistert. Und wenn der sich müht, seine Leser die Begeisterung spüren zu lassen, sie in den Taumel hineinzuziehen. Aber was mache ich mit dem Satz, der Dirigent nehme das Opus sachlich und nicht romantisch in den Griff? Und was mit der Formulierung, ein Lied stehe beispielhaft für großangelegte De- und Crescendi? Und wie decodiere ich den Satz, daß die Sängerin immer absolut kultiviert der kirchenmusikalischen Stimme Vorrang vor jeder Opernattitüde gebe, wenn ich kein ausgewiesener Musikwissenschaftler, wenn ich kein intimer Kenner und gebildeter Liebhaber ernster Musik bin? Was hat der Leiter der Aufführung getan, wenn der Kritiker schreibt, er habe ein Lied im freudigen Portato gestaltet? Und was hat es mit dem warmen flexiblen Ton des Solisten auf sich, der insbesondere im Diskant glänze? Fragen über Fragen. Fragen, die mich als Laien erweisen, als Unkundigen, als Ungebildeten, als vielleicht interessierten, aber keinesfalls ausreichend qualifizierten Lokalzeitungsleser. Der Qualitätsjournalismus schart die Mehrheit um sich, die Connaisseurs. Und ich scheine, mal wieder, einer winzigen Minderheit anzugehören, der Minderheit der musikwissenschaftlich und requiemtheoretisch schlecht gebildeten wermelskirchener Zeitungsleser, der Banausen. Denn die Lokalzeitung schreibt ja für die Mehrheit der Bürger, für den Mainstream, wie man heutzutage sagt, für die vielen Kenner, nicht die wenigen Ahnungslosen.

Putze

Kinders, wie die Zeit vergeht. Kaum habe ich einen Beitrag zum Weltputzfrauentag geschrieben, sind schon wieder fünf Jahre vergangen. Und: Der Gedenktag feiert heute seinen zehnten Geburtstag. Schaut doch mal rein in die Seite, auf der es um Karo Rutkowsky geht und ihren Geburtstag. Gesine Schulz ist an allem Schuld.

Der Applaus der Selbstgerechten

Helmut Stauss in Berlin ist Schauspieler, Regisseur, freier Autor und Karikaturist. Und als junger Mann hat er getrommelt. Was das Zeug hielt. In diversen Bands. Dort, wo ich gewohnt habe als Teenager, in Porz, heute Stadtteil von Köln. Im Fernsehen in Derrick, im Tatort oder in Der Alte zu sehen, im Film als Roland Freister, auf der Bühne der Freien Volksbühne in Berlin, des Hebbel-Theaters, sonstwo. Uns eint, neben der wilden Zeit der wilden Musik, daß wir beide jeweils Enkel eines “Volksfeindes” sind. Und Helmut Staus hat auf seiner Facebookseite den heutigen Tag zum Tag der Selbstgerechten erklärt. Mit seiner freundlichen Genehmigung hier sein Text, seine Philippika:

Zum Tag der deutschen Selbstgerechten.
Habe eben dem sprachgewaltigen Wolf Biermann gelauscht. Drachenbrut, elender Rest und Reaktionäre nannte er die Abgeordneten der Fraktion der Linken und sang dann das Lied mit dem poetischen Text „ Du sollst Dich nicht verhärten…“ Beides tat er im Deutschen Bundestag und auf Einladung des Bundespräsidenten. Ja, stimmt, da er hat recht: „Du sollst Dich nicht verhärten!“ Nun bin ich gebürtiger Kölner, also Westdeutscher und in einer von den Westmächten gefördert und sattgefütterten pluralistischer Demokratie aufgewachsen. Aber, ich bin auch Enkel eines „Volksfeindes“ und ich erinnere der Empörung die mein Großvater empfand, als am 17. August 1956 das KPD- Verbot erlassen wurde und deren Mitglieder in tausenden Gerichtsverhandlungen abgeurteilt wurden. Empört war er nicht weniger, viele alte Nazi-Kader in der bundesrepublikanischen Administration in höchsten Positionen wiederzufinden. Ich selbst hatte ja, noch in den 80iger Jahren das zweifelhafte Vergnügen, auf Einladung in seinen Dienstsitz im Berliner Reichstag, einem Bundespräsidenten mit Nazivergangenheit die Hand schütteln zu dürfen! Carl Carstens war seit 1934 Mitglied im Sturm 5/75 der SA. Von 1940 bis 1945, Mitglied der NSDAP. Hätte ich Beate Klarsfeld folgen sollen, oder ihn, mit viel mehr Recht, als Drachenbrut und elender Rest beschimpfen sollen? Hätte ich, wie Biermann heute, den Applaus der Selbstgerechten erwarten dürfen? Ich fürchte ich wäre, als Volksfeind, in Haft genommen worden und die Geheimdienste hätten einen “Vorgang” angelegt!.

Schämt Euch!

Unter dem Titel: Schämt Euch! hat Bastian Brinkmann in der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung abgerechnet. Mit abgebrühten Steuertricksern, gewöhnlich-unsozialen Kapitalisten,  blinder Politik, einer unappetitlichen Melange.

Joanne K. Rowling hat es einmal schön zusammengefasst. Die Autorin der Harry-Potter-Reihe war arbeitslos, bevor die Bestseller sie zur Multimillionärin machten. “Ich hätte die Bücher nicht schreiben können, wenn der Staat nicht meinen Lebensunterhalt finanziert hätte”, erzählte sie im amerikanischen Fernsehen. Dafür sei sie bis heute dankbar – und das sei der Grund, warum sie nicht in Monaco wohne. “Ich zahle jede Menge Steuern. Das schulde ich dem Staat.”

Vielleicht sollten die Chefs der Dax-Konzerne Joanne K. Rowling zu Vorträgen einladen. Sie könnten von der Autorin eine Menge lernen. Steuern sind nicht ein ärgerlicher Posten in der Gewinn-und-Verlust-Rechnung, der doch bitte möglichst klein ausfallen sollte. Steuern sind das Fundament unserer Gesellschaft. Jede Überweisung ans Finanzamt ist eine kleine Volksabstimmung, ob dem Steuerzahler diese Gesellschaft noch etwas wert ist. Wer sich hier drückt, sagt seinen Mitmenschen: Ich will euch nicht.

Hunderte Unternehmen sehen das leider genau so, darunter Dax-Konzerne und internationale Marken wie Ikea und Amazon. Das zeigen die Dokumente des Luxemburg-Leaks. Unter der Anleitung der Steuerexperten der Beraterfirma Pricewaterhouse-Coopers verschwinden Gewinne aus den europäischen Nachbarländern in Luxemburg – dort müssen sie nur gering versteuert werden. Manchmal sind die Profite sogar komplett steuerfrei. Ein Skandal, dem die Europäische Union und die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer entgegenarbeiten müssen. In ihrem Auftrag entwickelt gerade die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung einen Masterplan, der die Steuerflucht der Konzerne weltweit eindämmen soll. 2015 könnten sich die Staaten auf einem G-20-Gipfel auf entsprechende Maßnahmen einigen.

Das wäre ein großer und wichtiger Schritt, aber natürlich werden immer Schlupflöcher bleiben. Und seien sie noch so klein. Für aktiennotierte Konzerne bestehen immer Anreize, sich durch sie hindurchzuzwängen. Denn an den Finanzmärkten ist eine Sichtweise vorherrschend, in der nur kurzfristige Zahlenbewegungen zählen. “Wenn ich als Investor zwei identische Firmen anschaue, würde ich die auswählen, die eine niedrige Steuerrate hat”, sagt ein Analyst, der im Auftrag einer Bank Dax-Konzerne bewertet. Viele Aktionäre dürften das ähnlich sehen. Sie sind die Eigentümer – wenn der Konzern weniger Steuern zahlt, bekommen sie mehr Gewinne ausgeschüttet.

Im Mai versuchten Vermögensverwalter einen Putsch gegen dieses System. Der Domini Social Equity Fund und andere kritische Aktionäre ließen auf Googles Jahreshauptversammlung abstimmen, ob der Konzern sich dazu bekennen sollte, künftig mehr Steuern zu zahlen. Bisher gehört Google zu den erfolgreichsten Steuerflüchtlingen der Welt, was der “Außenminister” des Konzerns, Eric Schmidt, ausdrücklich lobt: “Ich bin stolz auf die Strukturen, die wir geschaffen haben. Das nennt man Kapitalismus.” Seine Parole nahmen sich die Google-Aktionäre zu Herzen. Sie lehnten den Antrag ab.

Auf den ersten Blick sehen Konzerne und ihre Eigentümer wie die Sieger aus. Aber tatsächlich schaden sie sich selbst. Wie Rowling bekommen auch Konzerne viel vom Staat. Er finanziert Grundlagenforschung, die Unternehmen in ihre Produkte stecken können. Er schickt die Feuerwehr, wenn es brennt, und die Polizei, wenn jemand in die Fabrik eingebrochen ist. Die Mitarbeiter können nur zur Arbeit kommen, weil sie über eine Straße fahren. Sie können nur lesen, weil ein Lehrer es ihnen beigebracht hat.

Das Hoffnungsvolle ist: Konzerne sind größer, als ihr Aktienkurs vermuten lässt, der die Arbeit von Zehntausenden Menschen auf eine Zahl reduziert: rauf oder runter. In großen Firmen arbeiten viele Menschen zusammen, die ganz andere Ziele haben, als das Finanzamt zu prellen. Sie wollen die Bewohner einer Stadt zuverlässig mit Strom versorgen oder wichtige Medikamente erforschen. Diese Menschen sehen die Welt mitunter ganz anders als die kalten Zahlentypen, die sich um die Steuerrechnung kümmern. Manchmal schaffen sie es, auch die Chefs zu überzeugen.

Der börsennotierte Energiekonzern SSE aus Großbritannien macht gut 30 Milliarden Pfund Umsatz und hat sich gerade öffentlich dazu bekannt, ein fairer Steuerzahler zu sein. Er ist überzeugt, dass es sich lohnt, das Gemeinwesen mitzufinanzieren. Nicht nur, weil es moralisch geboten ist. Sondern weil es sich für alle auszahlt, wenn der Staat genügend Geld hat. Für die Kunden, für die Gesellschaft und für den Konzern.

Bastian Brinkmann
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Bastian Brinkmann, Jahrgang 1988, Planer und Print-Online-Koordinator für die Wirtschaftsberichterstattung im News-Team. Geboren in NRW, aufgewachsen bei Berlin, mit Stationen in Dublin und Brüssel. Kölner Journalistenschule. Studium der VWL und der Politik in Köln und Korea. Autor des Buchs “Die geprellte Gesellschaft. Warum wir uns mit der Steuerflucht von Reichen und Konzernen nicht abfinden dürfen”. Legt auf bastianbrinkmann.de alle ehemaligen Arbeit- und Auftraggeber offen.