Es liegt im Interesse der Feinde der offenen Gesellschaft, ihr Ende vorherzusagen. Aber nicht in unserem. Warum auch? Das Regime von Putin, jenes in Beijing oder in Teheran – sie hätten bei fairen Wahlen keine Chance. Die Bürgerinnen und Bürger dort würden aufatmen, wenn sie anders regiert würden. Niemand flieht dort hin, viele aber von dort. Menschen riskieren Ihr Leben, um gegen diese Systeme zu protestieren. Ihr Mut beschämt uns, die wir doch so oft zaudern und zögern, die Freiheit zu verteidigen. Putin turnt noch auf der Weltbühne herum, aber die Sanktionen beginnen zu wirken und sein Spielraum wird enger. Das einzige Feld, auf dem seine Leute nahezu ungehindert herumfuchteln können, ist die digitale Propaganda. Und der größte Markt dafür ist die Europäische Union, hier verdienen die Plattformen ihr Geld. Zeit, das zu regulieren. Europa verzwergt sich selbst. Es gilt auch für die mediale Darstellung der politischen Lage. Die Parteien der extremen Rechten und andere Kremlfreunde erfreuen sich großen Zuspruchs – stimmt. Aber mindestens 75% der Menschen lehnen diesen Wahnsinn ab. Warum immer noch und ohne Not ganze Fernsehsendungen um die Protagonisten eines russlandfreundlichen Kurses konzipiert werden, gehört zu den großen Rätseln der Gegenwart. Wenn man sich besieht, was Europa alles zu bieten hat, wie resilient, gebildet und engagiert die Zivilgesellschaft, also schlicht die Leute sind, darf man Vertrauen schöpfen. Ich glaube nicht an eine düstere Zukunft für Europa. Es wird Veränderungen geben, mehr Kooperation, womöglich werden einige ärmer und die Steuern höher. Wir werden es überleben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde bekanntlich ein Lastenausgleichsgesetz beschlossen, um den Wiederaufbau zu finanzieren und zugleich wurden zwölf Millionen Vertriebene aufgenommen. Diese Belastungen führten aber nicht zu einem neuen Krieg, sondern zu einer Ära internationaler Kooperation. Die multiplen Krisen werden neue Kräfte wecken, neue Personen auf den Plan rufen und heute noch unbekannte Entwicklungen fördern. Nur Nichtstun, das Verkriechen in der Illusion einer permanenten Gegenwart, ist gefährlich – die Passivität des Westens nach den Massakern des Regimes in Syrien am eigenen Volk haben die Gegner ermutigt und uns heute in diese brenzlige Lage manövriert.
Nils Minkmar, Newsletter Der Siebte Tag
Alle Artikel vonWolfgang Horn
„Ungeziefer ausrotten“
Die Faschisierung schreitet in wahnwitzigem Tempo voran. Willkommen im Reanactment der 30er Jahre.
Wenn er zurückkomme, werden „die Globalisten rausgeworfen“, sagte Donald Trump unlängst bei einer Rede. „Wir versprechen euch, die Kommunisten, die Marxisten, die Faschisten und die linksradikalen Schurken auszurotten, die wie Ungeziefer in unserem Land leben und bei Wahlen lügen, stehlen und betrügen“. Der Gegner, der gefährlichste Gegner, gegenüber dem alles an Gegenwehr erlaubt sei, das sei „der innere Gegner“, hämmerte der faktisch unangefochtene Anführer der amerikanischen Konservativen und Rechten. Ein „Echo von Hitler und Mussolini“ sei das, so die einhellige Kommentierung, auch der politischen Mitte.
Nicht ausgeschlossen, dass dieser Wahnsinnige nächstes Jahr wieder US-Präsident wird.
Begeisterte Selbstradikalisierung
In Argentinien haben sie jetzt den „Libertären“ Javier Milei mit erschütternden 56 Prozent der Wählerstimmen zum Präsidenten gewählt, einen ultraradikalen Schreihals, der nicht für einen schlanken Staat eintritt, sondern für die Zerstörung aller staatlichen Institutionen, der sich als „Anarchokapitalist“ versteht und die gelb-schwarze Fahne schwenkt. Gelb steht für Gold, also den Reichtum eines entfesselten Kapitalismus, Schwarz für die Anarchie. Er will das Gemeinwesen von allen Ministerien befreien, den Dollar als Landeswährung einführen, die Zentralbank abschaffen, er redet viel von Freiheit, will aber zugleich die Abtreibung verbieten, und den Papst nennt er einen „dreckigen Linken“. An seiner Seite hat der Exzentriker die Fans der ehemaligen Militärdiktatur, die sich wehmütig daran erinnern, dass man einstmals „dreckige Linke“ einfach aus fliegenden Flugzeugen werfen konnte.
Wenig später gewann der Rechtsextremist Geert Wilders die Wahlen in den Niederlanden.
In Österreich zieht Herbert Kickl derweil durch seine wohlorganisierte Festzelt-Tour, bei der man – es ist bestimmt nur als kleiner, provokanter Scherz gemeint – seine Messer zum Schleifen mitbringen kann. Der Kärntner Parteichef erklärte aufgewühlt, eine konkurrierende Politikerin werde er sich „herprügeln“, der burgenländische Spitzenmann liest die ausländisch klingenden Namen von Schulkindern im Landtag vor, Kickl verspricht, es werde „Verletzungen und Verwundungen“ bei den Gegnern geben, und man lädt einen waschechten Faschisten wie Götz Kubitschek ins Parlament ein, vorher darf er noch auf Einladung der FP-Studenten vor der Universität provozieren, ein Anlass, bei dem ein Rechtsextremer einem anderen Rechtsextremen mit einer Flasche beinahe den Schädel eingeschlagen hat, was die Polizei nicht einmal als Grund sah, den Aufmarsch der Schlägertruppe aufzulösen. Die Identitären werden hofiert. Die FP-Jugend haben sie praktisch übernommen. Hans Rauscher konstatierte im „Standard“, was hier zu beobachten ist, sei eine Art von beschleunigter „Re-Nazifizierung“.
Was daran zunächst einmal auffällt ist die irrwitzige Selbstradikalisierung der Rechtsextremisten. Alle Hemmungen fallen. Die Parole hat der radikale, faschistische Flügel der deutschen AfD ausgegeben: die Strategie der „Mäßigung“ sei immer falsch, die Zeit des Kreidefressens sei vorbei. Wobei das zwei Erscheinungsformen annimmt: Radikale, die immer schon radikal waren, und sich kein Blatt vor dem Mund mehr nehmen. Und Rechte, die sich in einen Irrwitz hinein steigern und selbst immer radikaler werden. Die also heute selbst radikaler sind, als sie noch vor ein, zwei Jahren waren.
Das Gift der Verrohung
Übersehen sollte dabei auch nicht der Aufganselungs-Zusammenhang mit dem Publikum werden. Täglich wird mehr an Gift zugeführt. Die Anhängerschaft wird mit jeder Grenzübertretung selbst immer radikaler, und das wirkt auf die Anführer zurück. Es ist eine induzierte Selbstradikalisierung, die als Hochlizitierung funktioniert. Schritt für Schritt begibt man sich in ein Wahnsystem hinein. Die Entzivilisierung geht nicht von heute auf morgen, aber zugleich brechen die Dämme auch sehr schnell. Verrohte Sprache führt zu Verrohung und Gewaltbereitschaft. Das ist die Geschichte aller Massenmorde, Gemetzel und Genozide. Auch die Nazis haben 1933 nicht einfach hergehen können, und sagen, wir bringen jetzt alle Juden um. Aber 1938 hatten sie das Klima soweit. Und auch in Ruanda brauchte es Kampagnen der Zuspitzung, Radikalisierung und vor allem Entmenschlichung der Opfer, bis man zum Völkermord bereit war.
Die Libertären und die Faschisten
Die Geschichte lehrt, das geht relativ schnell, und besonders schnell geht es, wenn man den Gegner als Bedrohung, Ungeziefer, nicht so sehr als Schwächling, sondern eher als elementare Gefahr für das Eigene hinstellt, der einem selbst „überfluten“ würde, wenn man sich nicht mit allen Mitteln wehrt. Und wenn man hippe Medien hat, die die Botschaft verbreiten. Die Massengräber der Massakrierten sind voll von Leuten, die aus vermeintlicher Notwehr erschlagen wurden.
Das Dritte, was in dieser Woche besonders auffällt ist natürlich die Allianz des wahnwitzigen Flügels der Neoliberalen – also der autoritären Libertären – mit Rechtsextremen, Nazis und Faschisten. Intuitiv würde man ja annehmen dass der „Freiheits“-Pathos und der Individualismus der Libertären mit der Menschenschinderei und dem Antidemokratischen der Faschisten nicht gut zusammen geht. Da hat man sich aber immer schon getäuscht, weshalb manche auch wirklich überrascht waren, als Zentralfiguren der Neoliberalen wie Milton Friedman zu Bewunderern von Militärdiktatoren wie Augusto Pinochet wurden.
Aber diese Radikallibertären verstehen unter Freiheit vor allem Wirtschaftsfreiheit, danach individuelle Freiheitsrechte, also die Freiheit, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden – und deswegen sind sie oft explizit gegen die Demokratie und viele demokratische Freiheiten. „Die Besteuerung dessen, was ein Mensch durch Arbeit erworben hat, ist gleichbedeutend mit Zwangsarbeit. Das ist, als würde man eine Person dazu zwingen, n Stunden für den Nutzen eines anderen zu arbeiten“, schrieb der Sozialphilosoph Robert Nozick, sozusagen der Begründer des „Anarchokapitalismus“. Im Grunde ist sogar der absolute Minimalstaat ein Anschlag auf die Freiheit, von regulierenden Staat ganz abgesehen, der vielleicht sogar umverteilt und versucht, Chancenungerechtigkeiten auszugleichen.
Liberal getünchter Wahnwitz
Der Gedankengang, dem sie sich verschrieben haben, ist folgender: Freiheit gibt es nur ein einer freien Wirtschaft, in der der Stärkere sich durchsetzen kann und nicht an seiner Schaffenskraft gehindert wird, indem er andere durchfüttern muss. Demokratische Freiheiten – vor allem das allgemeine Wahlrecht und andere Maximen der Demokratie – haben aber die Folge, dass die große Masse mitreden darf, und die wird natürlich schöne Gemeindewohnungen fordern oder einen Sozialstaat, der für Sicherheit sorgt. Außerdem dürfen sich in freien Demokratien auch Sozialisten und Kommunisten engagieren, was dieses Übel noch verschärft. Deswegen verlangt die „Verteidigung der Freiheit“, dass man Demokratie möglichst einschränkt und vor allem die Sozialisten und Kommunisten mit allen Mitteln bekämpft, also dass man sie im Notfall auf Flugzeugtüren wirft. Einsperren oder aus dem Land werfen oder nur ihre Parteien verbieten ist zur Not auch ein Anfang. Der Ökonom Milton Friedman formulierte, dass eine freie Wirtschaft eine notwendige Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft sei, dass aber „eine demokratische Gesellschaft, wenn sie einmal gefestigt ist, die freie Wirtschaft zerstört“. Friedmans Aversion gegen die Demokratie war nicht sonderlich exzentrisch. Schon Friedrich August Hayek, der Säulenheilige schlechthin der Neoliberalen, hatte genaue Vorstellungen darüber entwickelt, wie eine politische Demokratie einzurichten sei, die nur mehr von ihrem Begriff her eine Demokratie sein sollte. Demokratie sei nur dann mit Marktwirtschaft zu verbinden, wenn staatliches Handeln an möglichst restriktive Regeln gebunden sei, dozierte er. Diese Regeln sollten verhindern, dass Politiker überhaupt in Versuchung kommen könnten, in die „Wirtschaftsfreiheit“ einzugreifen. Hayek schlug Parlamente vor, deren Mitglieder nur einmalig für 15 Jahre gewählt werden dürfen, und jeder Bürger sollte nur einmal in seinem Leben an einer Wahl teilnehmen dürfen, und zwar im Alter von 45 Jahren. Partei- und Interessensvertreter und auch Gewerkschaftsfunktionäre sollten vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen sein.
Dieser liberal getünchte Wahnwitz geht heute oft mit den faschistischen Ideologien Hand in Hand wie Stan Laurel mit Oliver Hardy. Trump und Milei, sie spielen sowieso auf beiden Klaviaturen, der eine mit mehr Nachdruck mit der einen, der andere mit der anderen Hand. Und wie weite Kreise diese Wahnsysteme ziehen, zeigt sich daran, dass es selbst bei unseren ganz zutraulichen NEOS Leute gibt, die Figuren wie Milei bewundern und es nicht schaffen, sich klar von einem autoritären Verschwörungstheoretiker und Extremisten zu distanzieren.
24.11.2023
Robert Misik, Newsletter Vernunft und Extase
Hubert Aiwanger
(…) Hubert Aiwanger. Der ist einerseits selbst kaum in der Lage, sich von antisemitischen Hetzschriften in seiner Vergangenheit zu distanzieren und will doch gleichzeitig den Antisemitismus nur als Folge einer “unkontrollierten Zuwanderung” kategorisiert wissen.
Justus Cider, Das Original kommt aus Deutschland. Von wegen Vergangenheitsbewältigung: Über die bequeme Rede vom „importierten Antisemitismus“ und deren rassistischen Gehalt, in: Emanzipation und Frieden
Konnakol
“Man bekämpft eine Ideologie nicht, indem man ihr zustimmt”
In Meinungsumfragen, der französische Soziologe Pierre Bourdieu erinnerte gern daran, stellt man Menschen Fragen, die sie sich selbst nicht stellen. Etwa was man wählen würde, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Nun ist heute zwar der siebte Tag, aber keine Wahl. Darum kümmern sich Bürgerinnen und Bürger klugerweise um andere Dinge, die Wahlperiode dauert noch an. So ähnlich läuft das mit den “Problemen des Landes”.
Man ist ja schon heilfroh, einigermaßen selbst klar zu kommen und versetzt sich nicht oft in die Lage der Bundesrepublik Deutschland oder eines anderen Staats, um auch noch dessen Probleme zu lösen. Wird man dennoch mal danach gefragt, dann sagt man eben spontan auf, was dazu so gesagt und geschrieben wird. Hätte man die Menschen im Paris des Jahres 1789 nach den größten Problemen gefragt, hätten die vielleicht von den Getreidespekulanten angefangen, die das Brot teurer machen und damit geheime Armeen bezahlen. Im Deutschen Reich des Jahres 1933 hätten viele gebildete und wohlhabende Menschen vor dem Einfluss der Juden gewarnt. Und im Großbritannien des Jahres 2015 führte die Panik vor Zuwanderung beispielsweise aus Polen zur Sieg des Brexit-Lagers – einem der größten Eigentore der modernen Geschichte. Keines der drei genannten Probleme war wirklich ernst oder bestand auch nur.
Der Antisemitismus, Sartre hat es am besten beschrieben, erfindet Probleme oder zieht welche heran, um dem Hass auf Juden freien Lauf zu lassen. Es kam also durchaus vor in der Geschichte, dass Gesellschaften bei dem Versuch, Probleme zu lösen, die sie nicht hatten, untergingen.
Das denke ich auch zum Thema Migration – angeblich Problem Nummer Eins. Von Gérald Darmanin zu Friedrich Merz- im gesamten bürgerlichen Lager und darüber hinaus, leider auch in vielen Medien, wird das so benannt. Die Logik ist bekannt: Man möchte das Thema nicht der extremen Rechten überlassen, sondern die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Das aber nutzt nur den rechten Parteien, die seit Jahrzehnten erzählen, dass Menschen, die nach Europa kommen, ein Problem seien.
Im Hintergrund schwingt immer die Verschwörungstheorie vom großen Bevölkerungsaustausch mit, den alle anderen außer den Rechten planen. Und in dieser Optik ist jeder neu nach Europa gezogene Mensch eine Bedrohung. Je weniger, desto besser – und leider hat sich das als Ziel oder gute Idee weit über das rechtsradikale Lager hinaus verbreitet.
Man bekämpft eine Ideologie nicht, indem man ihr zustimmt. Die schlechte Behandlung von Migranten mit dem Ziel ihrer Abschreckung ist kein Weg aus der politischen Zwickmühle.
Aber zur Wahrheit gehört auch, dass niemand damit zufrieden sein kann, wie die Zuwanderung nach Europa derzeit geregelt ist. Europa verrät seine Werte, wenn die Seenotrettung erschwert wird oder die Menschen in die Illegalität gedrängt oder gar kriminalisiert werden. Gründe für Flucht sind vielfältig. Und ehrlich gesagt braucht es nur wenige ungünstige Weichenstellungen der Geschichte – Sieg eines Verrückten in den USA und Stabilisierung russischer Aggressionspotentiale – und wir sind auch auf der Flucht.
Die genaue Deutung und präzise Benennung des Problems ist nötig: Ich finde den jetzigen Zustand der Zuwanderungsorganisation nach Europa auch höchst problematisch. Chaotisch, zufällig und oft genug unmenschlich. Damit meine ich die mangende europäische Koordinierung und das Europa nicht als außenpolitisches Subjekt agiert. Und auch im inneren muss eine wertschätzende Aufnahme organisiert werden. Man möchte wissen, wer da kommt und was nötig ist, damit die Zukunft gelingt. Hier darf man nicht sparen.
So geht es vielleicht auch anderen, die sich in solchen Umfragen äussern. Man spürt an allen Ecken und Enden – bei der Klimakrise, den Bedrohungen der offenen Gesellschaft und den Transformationen der Weltwirtschaft – dass ein Nationalstaat allein nicht mehr viel bewegen kann. Die EU ist aber noch weit davon entfernt, eine tragende politische Rolle im Konzert der multipolaren Welkt zu spielen. Immer noch erscheinen zu großen Gipfeln die Chefs der europäischen Nationen wie die Fürsten des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation: Zahlreich, pompös und ohnmächtig.
Eine vernünftige politische Integration scheitert genau an den Kräften, die von dieser Schwäche der EU profitieren. Der Mittelweg – bisschen Migranten abschrecken, bisschen nationale Symbolpolitik – führt nirgends hin. Für die Rechten läuft es wie geschmiert: Ihre Themen werden 24/7 besprochen, auf der Linken gibt es keine Alternativen und markige nationalstaatliche Politiker scheitern seit Jahrzehnten an der Lösung von Problemen, die nicht einmal genau beschrieben sind.
So rückt die EU immer weiter nach rechts. Ein Projekt wie der Euro, vorangetrieben von Theo Waigel, François Mitterrand und Helmut Kohl, hätte heute keine Chance mehr – das Klima ist viel zu vergiftet.
Merke: Jene, die das Problem Nummer Eins zu bekämpfen vorgeben, verschärfen es. Sie leben von Problemen,
Nils Minkmar, Das Problem mit Problemen, in: Newsletter Der siebte Tag
Kapitalismus in seiner digitalen Form
Er ist einer der mächtigsten Widersacher überhaupt: der Kapitalismus in seiner digitalen Form. Er verwandelt unsere Eigenschaften in Daten. Er macht unser Leben zur Ware. Er verkauft unsere Aufmerksamkeit und will uns manipulieren. Er schaltet unser Denken aus, macht uns zu affektgesteuerten Zombies, die nur noch schnell auf „weiter“ klicken. Er macht uns abhängig von Likes und Notifications und endlosem Scrollen, damit wir noch länger online sind, noch mehr Aufmerksamkeit erzeugen, noch mehr Daten preisgeben, noch mehr Werbung sehen, noch mehr Gewinn erzeugen. Er befeuert Polarisierung, weil ihm nichts mehr Daten und mehr Aufmerksamkeit bringt, als Streit und rohe Emotionen.
Ingo Dachwitz, Bullshit-Busters: Der ewige Kampf gegen das Cookiemonster, in: Netzpolitik.org
Universalismus. Antwort aufs politische Voodoo
(…) Es wäre Zeit für eine linke, also das Klima wie die Freiheit schützende Politik. Nichts hat so viel Freude im Land ausgelöst, die Menschen so auf Beine und Räder gebracht wie das Neun-Euro-Ticket. Ich kann mich an keine Maßnahme erinnern, die keine Transferleistung ist und so umfassend und eindeutig denen zugutekam, die wenig Geld haben. Hielt leider nicht lange. Eine Regierung, die solche Maßnahmen mit politischer Phantasie verbindet, würde mehr Anklang finden als eine Ampel, die zerstritten scheint und hadert.
Weil die einzige Alternative rechts wohnt, schielen auch alle dahin. Immerzu. Frankreich und Deutschland sind sich derzeit einig, dass der beste Weg aus unseren multiplen Krisen darin besteht, Migranten das Leben schwer zu machen. Der französische Senat hat sogar die medizinische Versorgung für Migranten ohne gültigen Aufenthaltstitel abschaffen wollen – welches Problem soll das lösen? Sinn dieses politischen Voodoos ist es, irgendwie die Rechten zu beruhigen. Sie geben die Themen vor. Aber könnte ein anderer Weg nicht darin bestehen, linke Politik zu machen?
Die Vermögensungleichheit hat groteske Züge erreicht: Eine Handvoll alter Männer besitzen so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung?
Worin besteht ihre Leistung? Eine im Satz moderate, aber umfassend erhobene europäische Finanztransaktionssteuer würde weder Musk noch Pinault in den Hungertod treiben. (Seit 1923 und bis in Helmut Kohls Amtszeit wurde in Deutschland eine Vermögenssteuer erhoben, warum hat man damit aufgehört?)
Viele Probleme und alle Krisen sind international, ihre Lösung also auch. Die frühe idealistische Linke war die erste universalistische politische Bewegung – heute sind davon nur noch Fragmente übrig.
Viele Menschen können die ihnen zustehenden Rechte gar nicht verwirklichen, weil sie im falschen Land geboren wurden und der dort regierenden Clique nichts entgegensetzen können. Das Recht der Staaten steht aber in der Praxis immer noch über dem Recht der Menschen. Mehr Nationalismus ist darauf keine Antwort – sondern mehr Universalismus.
Eine neue Generation von PolitikerInnen wird eines Tages den WählerInnen dieses Angebot machen und damit erfolgreich sein.
Nils Minkmar, Ein anderer Weg, Newsletter “Der siebte Tag” vom zwölften November
On and off
In der französischen Provinz kann man ein anderes Zeitgefühl studieren, da regiert schon der saisonale Eigensinn. Es gibt zwei Jahreszeiten:Mit Touristen und ohne – on and off. Jetzt, in der herbstlichen Nachsaison zeigt die französische Provinz ihr menschliches Antlitz: Nachsicht waltet, viele Läden sind geschlossen und die Wälder voller Pilzsammler auch an Wochentagen. Im Sommer wurde das Geld verdient, nun regiert wieder die süße Anarchie. Die Wildschweine plündern die Mülltonnen und rennen durch die Straßen, die Abfallsäcke im Maul wie Trophäen. Strom bleibt stundenlang weg, kein Mensch weiß, weshalb. In manchem Bistro muss man vermuten, dass der Koch das Weite gesucht hat, aber da ist es dann schon zu spät.
Nils Minkmar, Der Siebte Tag. Eine Folge von Regentagen…
Anspruchsdenken
“Sehr klar in seinen Argumenten legt Christian Schüle dar, wie unerlässlich ein von Quotendenken, Überforderungsängsten und Denkfaulheit freies Kulturprogramm für den Erhalt der Demokratie ist. Und wer sollte ein solches zuvorderst anbieten, wenn nicht die beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Sender? Immer niederschwelliger werden zu wollen, führe zu einer Nivellierung von Kontexten, zu glatt polierten Oberflächen, auf denen nichts mehr haften bleibe. ‘Wer keinen Anspruch mehr anbietet, schafft keine Nachfrage nach Anspruch. Weshalb er selbst irgendwann keinen Anspruch mehr hat, Anspruch anzubieten.’”
Stefan Fischer, Gute Nacht BR, in: Süddeutsche Zeitung