“Man bekämpft eine Ideologie nicht, indem man ihr zustimmt”

In Meinungsumfragen, der französische Soziologe Pierre Bourdieu erinnerte gern daran, stellt man Menschen Fragen, die sie sich selbst nicht stellen. Etwa was man wählen würde, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Nun ist heute zwar der siebte Tag, aber keine Wahl. Darum kümmern sich Bürgerinnen und Bürger klugerweise um andere Dinge, die Wahlperiode dauert noch an. So ähnlich läuft das mit den “Problemen des Landes”. 

Man ist ja schon heilfroh, einigermaßen selbst klar zu kommen und versetzt sich nicht oft in die Lage der Bundesrepublik Deutschland oder eines anderen Staats, um auch noch dessen Probleme zu lösen. Wird man dennoch mal danach gefragt, dann sagt man eben spontan auf, was dazu so gesagt und geschrieben wird. Hätte man die Menschen im Paris des Jahres 1789 nach den größten Problemen gefragt, hätten die vielleicht von den Getreidespekulanten angefangen, die das Brot teurer machen und damit geheime Armeen bezahlen. Im Deutschen Reich des Jahres 1933 hätten viele gebildete und wohlhabende Menschen vor dem Einfluss der Juden gewarnt. Und im Großbritannien des Jahres 2015 führte die Panik vor Zuwanderung beispielsweise aus Polen zur Sieg des Brexit-Lagers – einem der größten Eigentore der modernen Geschichte. Keines der drei genannten Probleme war wirklich ernst oder bestand auch nur. 

Der Antisemitismus, Sartre hat es am besten beschrieben, erfindet Probleme oder zieht welche heran, um dem Hass auf Juden freien Lauf zu lassen. Es kam also durchaus vor in der Geschichte, dass Gesellschaften bei dem Versuch, Probleme zu lösen, die sie nicht hatten, untergingen.

Das denke ich auch zum Thema Migration – angeblich Problem Nummer Eins. Von Gérald Darmanin zu Friedrich Merz- im gesamten bürgerlichen Lager und darüber hinaus, leider auch in vielen Medien, wird das so benannt. Die Logik ist bekannt: Man möchte das Thema nicht der extremen Rechten überlassen, sondern die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Das aber nutzt nur den rechten Parteien, die seit Jahrzehnten erzählen, dass Menschen, die nach Europa kommen, ein Problem seien. 

Im Hintergrund schwingt immer die Verschwörungstheorie vom großen Bevölkerungsaustausch mit, den alle anderen außer den Rechten planen. Und in dieser Optik ist jeder neu nach Europa gezogene Mensch eine Bedrohung. Je weniger, desto besser – und leider hat sich das als Ziel oder gute Idee weit über das rechtsradikale Lager hinaus verbreitet.

Man bekämpft eine Ideologie nicht, indem man ihr zustimmt. Die schlechte Behandlung von Migranten mit dem Ziel ihrer Abschreckung ist kein Weg aus der politischen Zwickmühle.

Aber zur Wahrheit gehört auch, dass niemand damit zufrieden sein kann, wie die Zuwanderung nach Europa derzeit geregelt ist. Europa verrät seine Werte, wenn die Seenotrettung erschwert wird oder die Menschen in die Illegalität gedrängt oder gar kriminalisiert werden. Gründe für Flucht sind vielfältig. Und ehrlich gesagt braucht es nur wenige ungünstige Weichenstellungen der Geschichte – Sieg eines Verrückten in den USA und Stabilisierung russischer Aggressionspotentiale – und wir sind auch auf der Flucht.

Die genaue Deutung und präzise Benennung des Problems ist nötig: Ich finde den jetzigen Zustand der Zuwanderungsorganisation nach Europa auch höchst problematisch. Chaotisch, zufällig und oft genug unmenschlich. Damit meine ich die mangende europäische Koordinierung und das Europa nicht als außenpolitisches Subjekt agiert. Und auch im inneren muss eine wertschätzende Aufnahme organisiert werden. Man möchte wissen, wer da kommt und was nötig ist, damit die Zukunft gelingt. Hier darf man nicht sparen.

So geht es vielleicht auch anderen, die sich in solchen Umfragen äussern. Man spürt an allen Ecken und Enden – bei der Klimakrise, den Bedrohungen der offenen Gesellschaft und den Transformationen der Weltwirtschaft – dass ein Nationalstaat allein nicht mehr viel bewegen kann. Die EU ist aber noch weit davon entfernt, eine tragende politische Rolle im Konzert der multipolaren Welkt zu spielen. Immer noch erscheinen zu großen Gipfeln die Chefs der europäischen Nationen wie die Fürsten des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation: Zahlreich, pompös und ohnmächtig.

Eine vernünftige politische Integration scheitert genau an den Kräften, die von dieser Schwäche der EU profitieren. Der Mittelweg – bisschen Migranten abschrecken, bisschen nationale Symbolpolitik – führt nirgends hin. Für die Rechten läuft es wie geschmiert: Ihre Themen werden 24/7 besprochen, auf der Linken gibt es keine Alternativen und markige nationalstaatliche Politiker scheitern seit Jahrzehnten an der Lösung von Problemen, die nicht einmal genau beschrieben sind. 

So rückt die EU immer weiter nach rechts. Ein Projekt wie der Euro, vorangetrieben von Theo Waigel, François Mitterrand und Helmut Kohl, hätte heute keine Chance mehr – das Klima ist viel zu vergiftet.

Merke: Jene, die das Problem Nummer Eins zu bekämpfen vorgeben, verschärfen es. Sie leben von Problemen,

Nils Minkmar, Das Problem mit Problemen, in: Newsletter Der siebte Tag

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