Tag: 20. Februar 2024

“Schöne und schmerzliche Stunden”

Die närrische Zeit ist vorbei und am Aschermittwoch reflektiere ich die Intensität der letzten Tage. Am Freitag war ich in Wasungen zur Festveranstaltung „500 Jahre Wasunger Karneval“. Eine stolze Zahl, ein rundes Jubiläum und ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Karnevalstraditionen in Thüringen viel älter sind als das, was man üblicherweise in Westdeutschland zu bieten hat. (…)

Andererseits war der Rosenmontag auch geprägt durch Menschen, die offenkundig in der Masse der Karnevalisten auch mit Hass und Frust unterwegs waren. An einem Ort zeigte mir ein junger Familienvater, der mit Frau und Baby als Zaungast dort stand mit eindeutigen Gesten, wie sehr er mich offensichtlich höchstpersönlich verachtet. An einer anderen Karnevalsveranstaltung versuchten die sog. „Montagsdemonstranten“, die wie üblich weder angemeldet waren noch einen Verantwortlichen aufzuweisen hatten, die Festveranstaltung für ihre Anliegen zu instrumentalisieren und meine angekündigte Anwesenheit zu benutzen, um mir ihren Missmut oder auch mittlerweile ihre Verachtung gegen jedwede Form von Politik zu übermitteln.

Der intellektuelle Tiefpunkt war eine Gruppe von sechs oder sieben jungen Männern, die offensichtlich sehr gezielt am Rande des närrischen Lindwurms warteten, bis sie meiner ansichtig wurden, um mir ihren gereimten Hass entgegen zu schleudern. Mehrfach skandierten sie sehr laut und deutlich an mich adressiert:

„Schau schau – du dumme Sau!
Wir vergewaltigen jetzt deine Frau –
und wenn du keine Frau hast – bist du ne dumme Sau –
und dann hau‘n wir dir halt nur deine dumme Fresse blau!“

Während drum herum ganz viele Familien mit Kindern standen, die offensichtlich nicht genau registriert haben, was diese Gruppe von jungen Kerlen von sich gab, schaute ich mir diese Gesichter an und dachte: „Ja, bislang seid ihr mir auf dem was heute X heißt in den sogenannten sozialen Medien anonym begegnet, heute tragt ihr euren Hass mit offenem Gesicht zur Schau.“ Was früher als Twitter eine fröhliche Zwitschergemeinschaft begann, ist heute ein vor Hass triefendes Medium ohne wirksames Community Management oder aktiven Schutz vor Hass und Hetze. Ich habe die Befürchtung, dass aus diesen Worten auch Taten werden können. Alle Demokraten sollten mutig dagegenstehen.

Das war schon bei der wunderbaren Demonstration in Greiz zu spüren, als ich mit rund 800 Menschen gemeinsam für ein friedliches und buntes Greiz demonstriert habe. Dass dort auf der sogenannten Gegendemo ein Nazi davon faselte, dass wir alles nur bezahlte Demonstranten seien und wir alle nach Buchenwald ins KZ gehörten, der sich nicht scheute, es mit Gesicht in die Kamera zu sagen, macht deutlich, wie aus der Anonymität heraus Worte sich immer mehr auch zu Taten materialisieren. Die Schritte werden immer kürzer und das Überbieten in Hass und Hetze immer massiver.

Gemessen allerdings an den zehntausenden Demonstranten, die zurzeit in Thüringen ihr Gesicht zeigen gegen braunen Ungeist und die Klarheit, mit der ich die ganzen Karnevalveranstaltungen erlebt habe, die sich deutlich gegen einen solchen Ungeist ausgesprochen und positioniert haben und die wunderbaren Erfahrungen, die ich persönlich sammeln konnte, als Menschen mich einfach in den Arm genommen haben und mir Kraft zugesprochen haben, das war dann wieder das Gefühl, in einem Land zu leben, in dem wir einerseits die Krisen bewältigen müssen, aber andererseits genügend Kraft und Solidarität vorhanden ist, um dieses Land nicht vor die sprichwörtlichen Hunde gehen zu lassen. (…)
Karneval muss man mögen, um sich auf ihn einlassen zu können. (…)

Bodo Ramelow, thüringischer Ministerpräsident, auf seinem Blog, Eintrag unter Tagebuch am fünfzehnten Februar

Die Epidemie der Einsamkeit

Der Zuspruch, den seltsame Bewegungen wie die Gilets Jaunes, die Tea-Party, die Coronaleugner und sonstige sektenartige Clubs erfahren, ist nicht allein durch russische Korruption zu erklären. Irgendwie wirken die westlichen Demokratien schwach auf der Brust. Die Idee der offenen Gesellschaft wird angegriffen und kaum jemand verteidigt sie. Ich denke da oft, wenn ich nach Ursachen frage, in Richtung der eklatanten Vermögensdifferenzen, aber es gibt auch andere Ansätze. Die Epidemie der Einsamkeit, oder der nur noch digital vermittelten Kommunikation, trägt auch dazu bei, dass die Öffentlichkeit so seltsam fieberträumend wirkt und jeglicher Idealismus so müde. Und auch hierfür trägt der digitale Kapitalismus der sozialen Netzwerke eine Verantwortung. Eines Tages mag uns der Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Digitalisierung so evident erscheinen wie heute der zwischen Röntgenstrahlen und Krebsgefahr. In der Frühzeit dieser Technik aber warben moderne Schuhgeschäfte mit Apparaten, die die Passform von Schuhen per Röntgenaufnahme abbilden können.

Nils Minkmar, Newsletter DER SIEBTE TAG: Im Bonusmonat.
Der Fall Grumbach/Epidemie der Einsamkeit/Serie Stonehouse/Slater tröstet