Reinhold Billstein

Mein Freund Reinhold Billstein ist tot. Gestorben am vorvergangenen Montag in Hamburg, dort, wo er in den vergangenen Jahrzehnten lebte, in Rotherbaum. Schwer erkrankt, dement, so ganz anders als das Bild, das wir alle von ihm in uns tragen, die in der Schüler- und Jugendzeit in seinem Umfeld waren oder mit ihm in Sachen Weltrevolution zu schaffen hatten. 

Die Freundschaft mit Reinhold war ein Privileg. Er war der unbestrittene Anführer einer größeren Gruppe von Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums in Porz, die sich Aktion kritischer Schüler nannte. Später waren viele derer in der Kommunistischen Partei zu Hause, dem marxistischen Studentenbund oder in diesem Umfeld politisch und gesellschaftlich aktiv. 

Wir haben gemeinsam Schülerzeitungen geschrieben, die Bewegung gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze an unserer Schule und in unserer Heimatstadt organisiert, ein Kinder- und Jugendparlament mit einer einzigartigen Struktur auf die Beine gestellt. Ein Jugendparlament, das auch arbeitenden Jugendlichen und Auszubildenden die Teilnahme sicherte, nicht nur Schülern. 

Wir waren der Schrecken der Lehrerinnen und Lehrer, die auf aufsässige junge Menschen nicht vorbereitet waren. Die Fragen danach, wie der Faschismus in Deutschland möglich geworden war, danach, wie die Katholische Kirche derartige Macht und den unvorstellbaren Reichtum ansammeln konnte, danach, warum es Armut und soziales Elend in unserem Land gab und gibt und danach, warum nicht allen gleichermaßen Bildung und Vorsorge zuteil wird, waren für die Pädagogen wie auch das Bürgertum und die politische Elite in der Stadt zu viel, zu kompliziert, zu unangemessen, weil von uns gestellt. 

Die Einmischung sehr junger Menschen in die Verhältnisse, ihre laut und öffentlich in mehreren sehr gut besuchten Demonstrationen vorgebrachten politischen Vorstellungen haben das bürgerliche Gefüge der Stadt vorübergehend ordentlich strapaziert. Und als der Leiter der Schule, der den Schülern „seines“ Gymnasiums öffentlich und vernehmlich untersagt hatte, die Verhandlungen eines der ersten großen gerichtlichen Schülerzeitungsverfahren in Köln gegen uns vier verantwortliche Redakteure und unser Blatt, den „Splitter/Informant“ zu besuchen, im Gerichtssaal auf die vollständig versammelte Oberstufe traf, war es auch mit seiner Contenance vorbei. All das und vieles mehr war die Handschrift vor allem von Reinhold Billstein. Obwohl er doch zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr auf der Schule war. Er hatte Nachfolger, jüngere Schüler machten sich auf in seinen Spuren. Ebenso entschlossen, ebenso zielstrebig, ebenso ausdauernd. Das Ganze war mehr als das Strohfeuer, von einem einzelnen entfacht.

Und verrückt war es auch. Die Parole “Freundschaft mit der Sowjet-Union” in weißer Farbe nächtens an eine lange Fabrikmauer der Firma Ruppert in Port-Wahn zu malen, damit Herr Breschnew am nächsten Tag bei seiner Fahrt vom Flughafen in die Hauptstadt Bonn auch Erbauliches zu lesen bekommt, war natürlich verrückt. Aber Spaß hat es gemacht. Und die Postkarte mit dieser Begrüßung als Foto hat sich lange Zeit später noch gut verkaufen lassen. Die gleiche Fabrikmauer mußte auch noch für eine Losung zur Freilassung von Angela Davies herhalten. Tempi passati.

Nach der Schulzeit waren wir noch zusammen, nunmehr Studenten, und das Blickfeld hatte sich erweitert. Die Frage trat hinzu, was man denn arbeiten wolle, welche Stelle man anstrebe. Reinhold entschied sich für den Akademischen Austauschdienst und ging nach Hamburg. Der fröhlich-katholische Rheinländer im zurückhaltend-protestantischen Norden. Eine Erfolgsentscheidung. Mit bürgerlichem Beruf, mit Beziehung, Ehe und, in meinem Fall, Kind, ließ dann vergleichsweise schnell die Intensität der Jugendfreundschaft nach, wurde nur telefonisch aufrecht erhalten und schließlich kommunizierten sein Cousin, Heinrich Billstein, mein Arbeits- und Journalistenkollege, und ich mehr auch über Reinhold. Von Heinrich habe ich auch vom Tod von Reinhold Billstein erfahren.

Trotz allem, trotz der Entfernung, trotz der wenigen Gespräche in den langen letzten Jahren, trotz der Zeit und doch unterschiedlicher Leben: Reinhold blieb mir nahe, ist mir nahe. Sein Tod macht mich traurig. Sehr.

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