Angst

Dummheit kennt keine Angst. Verantwortungslosigkeit auch nicht. Angst aber ist ein Verhaltensregulativ. Sie bewirkt, sich zu orientieren, immer wieder, sich umzusehen, zu vergewissern, alle Umstände zu gewichten, zu bewerten. Angst macht vorsichtig, sicherer, behutsam. Aus Angst kann eine der Gefahr angemessen durchdachte Handlungsstrategie entstehen. Dummheit ist schnell und kennt keine Grenzen. Verantwortungslosigkeit wischt Vorsicht und Behutsamkeit mit einer unwirschen Geste beiseite. Ich habe Angst. In meinem Leben habe ich nur als Kind, als elfjähriger Junge während der sogenannten Kuba-Krise Neunzehnhundertzweiundsechzig eine ähnliche Angst vor einem Krieg empfunden. Als Kind waren mir politische Umstände gewiß nur sehr verkürzt zugänglich, so daß die Angst amorph blieb, urständig, nicht greifbar. Nurmehr sechzig Jahre danach habe ich wieder eine derartige Angst. Angst vor einem Krieg. Angst davor, daß mein Leben, das meiner Lieben, das aller Menschen, das mehr als siebzig Jahre inmitten von Europa frei von Krieg, mit immer geringerer Abschottung der Nationalstaaten voneinander, in immer einiger werdenden Staaten und Ländern zugewandt und arglos verbracht werden konnte, daß diese Leben sich nunmehr schlagartig vor andere, furchtbare, gewaltsame Umstände gestellt sehen. Die einzigartige Errungenschaft, ein Europa in Frieden, lebt nach dem Überfall Rußlands auf die Ukraine nicht mehr. Russische Kriegsverbrechen lassen alle strategischen Überlegungen zur Überwindung von Blockdenken und der Entwicklung kooperativer Strukturen auch mit den Staaten in der Nachfolge der Sowjetunion obsolet erscheinen. Die demokratischen Staaten Europas und der Welt müssen nun, ohne selbst Kriegspartei gegen Rußland zu werden, die Ukraine unterstützen, finanziell, mit humanitären Hilfsangeboten und der Aufnahme von Flüchtlingen, militärisch, mit Ausbildung und der Lieferung von Waffen, auch „schweren“ Waffen, wie Panzer beispielsweise. Rußland unter Putin ist ein riesiges, ökonomisch schwaches, sozial teils verwahrlostes, in weiten Teilen des Landes von den Standards von Kultur und Bildung abgekoppeltes, imperial-nationalistisch zugerichtetes Land, das systematisch aller bürgerlicher Freiheiten und Rechte, wie der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Kunst- und Medienfeiheit, der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung entkleidet wurde. Rußland ist eine Diktatur, die mit Polizeistaatsmethoden brutalst durchgesetzt und abgesichert wird, über eine gleichgeschaltete Gesellschaft, der sämtliche demokratische Artikulationsmöglichkeiten genommen worden sind. Parlamente oder andere gesellschaftliche Institutionen sind bedeutungslos für den relativ kleinen Kreis der putingetreuen Nomenklatura aus Geheimdienst, Militär und Milliardären. Mit der Berufung auf einstige nationale Größe etwa während des Stalinismus, verbunden mit gleichsam rassistischen Unterwerfungsansprüchen an ehemalige Sowjetstaaten, vor allem die Ukraine und Belarus, mit den Kriegen in Georgien, der Krim und dem Donbas sowie nunmehr der Ukraine, hat der Haufen um Putin das Land von einer Autokratie in eine faschistische Diktatur verwandelt. Diese Entwicklung eines von Deutschland und den Deutschen in zwei Weltkriegen angegriffenen Landes und seiner Menschen, die brutalste Verbrechen erdulden mußten, in eine Kriegsmaschinerie in der und gegen die Ukraine, die gleichfalls größte Opfer unter dem deutschen Faschismus erleiden mußte, die nunmehr ein Kriegsverbrechen nach dem nächsten gegen die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen in der Ukraine verübt, Wohnhäuser, Straßen, Schulen Hospitäler, Kindergärten, Wasserwerke zerbombt, eine Soldateska, die Menschen foltert, vergewaltigt und abschlachtet wie Vieh, die verächtlich-inhumane Sprache des Präsidenten, der in Mariupol unter dem Stahlwerk eingeschlossenene Menschen als lästige „Fliegen“ bezeichnet, die den Belagerungsring nicht durchbrechen dürfen, diese Entwicklung macht mir Angst. Die brutale Aggression gegen die Ukraine ist der Versuch, die Orientierung eines Landes in der Nachfolge der Sowjetunion an den Demokratien im Westen, an den politischen Institutionen, am Parlamentarismus, an der wirtschaftlichen Verfassung und den sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen nachdrücklich zu zerbrechen und die Ukraine zum Vasallenstaat von Putins Rußland zu degradieren. In diesem Krieg kann es eigentlich nur um ein Ziel gehen. Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren. Ihre territoriale Einheit muß gewahrt bleiben. Rußland muß mit all seinen Kräften das Land verlassen. Die Westmächte müssen zu Garantiemächten für die Ukraine werden. Appeasement, das lehrte die Geschichte bereits Neunzehnhundertachtunddreißig in München, verhindert keinen Krieg, sondern ermuntert Aggressoren eher zur Fortsetzung ihres Tuns. Kurzum: Es darf keinen Kriegserfolg für Rußland, seinen Präsidenten und seine Armee geben. Keinen. Einem derartigen Bemühen, einen Nachbarstaat mittels eines Krieges zu unterjochen, muß jetzt ein für allemal entgegengetreten werden. Es darf kein Muster geben, beispielsweise für andere große und wirtschaftlich starke Länder, China beispielsweise, ähnliche Unternehmungen zu starten, weil es in der Ukraine ja erfolgreich war. Das verhindern wir nur, indem wir jetzt Rußland entschieden entgegentreten, gemeinsam. Mit ökonomischer Macht, mit Diplomatie, Gesprächen, mit Waffen, allen Waffen, mit Ächtung. Rußland kann erst wieder in den Kreis zivilisierter Staaten zurückkehren, wenn der Krieg in der Ukraine zugunsten der Ukraine beendet worden ist. Andere Kriegsergebnisse sind nicht zu akzeptieren. Eben weil es um die Abwehr der Gefahr eines Dritten Weltkrieges geht, der mit dem Einsatz nuklearer Waffen das Ende der Menschheit bedeuten könnte. Rußland darf in seiner Kriegslüsternheit nicht bestätigt werden. Nach diesem Krieg geht es vor allem darum, Abrüstungsbemühungen zu forcieren und eine internationale Ordnung zu entwickeln und zu stabilisieren , die die Gefahr eines Krieges besser zu bannen ist als gegenwärtig. Ich habe Angst davor, daß sich der Krieg ausweitet, festsetzt. Ich habe Angst davor, daß die Barbarei zunimmt. Ich habe Angst davor, daß Unbedachtheit den Krieg verstärken könnte. Ich habe Angst davor, daß das Entsetzen des Krieges die Friedfertigkeit zugrunde richtet. Ich bin froh, daß immer und immer wieder auch innegehalten wird und nachgedacht. In der Regierung, im Parlament, auch in den Medien. Nicht immer ist die schnelle Antwort auch die bessere. Indes vermisse ich eine angemessene und genauere Kommunikation der Entscheidungsträger mit den Menschen im Land. Das könnte die Angst einhegen. Vielleicht.

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