Der abgemagerte Schatten von Selbstverwirklichung

Ohne öffentliche Ordnung in Recht und Staat wäre kein Individuum mehr als ein paar Tage überlebensfähig. Wenn Chaos auf den Straßen herrscht, müssen sich die Einzelnen in den Schutz Stärkerer, in der Regel von Clans und Familienverbänden, flüchten. Nur in befriedeten, gewaltarmen, täglich kleinteilig kooperierenden Gesellschaften kann Individualismus zu einer Massenerscheinung werden. Die wichtigste jüngere Voraussetzung schließlich sind die kollektiven Sicherungssysteme, also der Sozialstaat. Ohne Kranken- und Rentenkassen, ohne Arbeitslosengeld wären die Einzelnen ihren Familien so gnadenlos ausgeliefert wie im neunzehnten Jahrhundert noch jene unverheirateten Frauen und “alten Jungfern”, die als “Tanten” am Rande alter Weihnachts- und Hochzeitsfotografien figurieren. Auch sie konnten sich erst durch Berufsfreiheit und Sozialstaat befreien.

Warum an diese Trivialitäten erinnern? Weil die Pandemie unbarmherzig das geistige Debakel des gegenwärtigen Liberalismus offenlegt: “Freiheit” ist hier auf die Schrumpfform des “Ich will” oder “Ich will nicht” reduziert, es ist der abgemagerte Schatten von “Selbstverwirklichung”. Vor ein paar Tagen twitterte ein junger Liberaler, er habe eigentlich vorgehabt, sich ein drittes Mal impfen zu lassen, doch seit so viel Druck aufgebaut werde, müsse er sich das noch einmal überlegen.

Kindischer Trotz als “Freiheit” – so tief sind Teile selbst des politischen Liberalismus in Deutschland gesunken. In Ostdeutschland wird solcher Trotz von den absichtsvoll verlängerten Erfahrungen mit einer vom autoritären Kollektiv auferlegten Solidarität in der DDR befeuert. Es ist ein Freiheitsbegriff, der nur in Abwehr besteht und nichts Positives mehr will. Der Ausgleich zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, der in Kooperation besteht, ist ihm fremd.

Der Weg der Pandemiebekämpfung muss zwischen dem falschen Einmütigkeitsversprechen, das gesellschaftliche Konflikte verleugnet, und einem ebenso falschen Radikalindividualismus gefunden werden. Das ist die anspruchsvolle Aufgabe des politischen Liberalismus.

Es ist vor allem Aufgabe und Funktion der FDP, diesen Weg zu finden. Sonst kann die Pandemie mit steigenden Sterbeziffern zu ihrem Endspiel werden.

Gustav Seibt, Pandemie und Politikversagen. Das Endspiel des Liberalismus, in: Süddeutsche Zeitung

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