Alle Artikel vonWolfgang Horn

Querulatorische Paranoia

Der Rechtsruck ist „kein Ruck mehr, sondern eine mittlerweile jahrzehntelange Verschiebung sämtlicher Grundprinzipien“, formulierte der Dramatiker Thomas Köck in seiner jüngst erschienenen „Chronik der laufenden Entgleisungen“. Es gibt keinen Rechtsruck, „es gibt einen Rechtserdrutsch, gesellschaftlich, der längst in vollem Gange ist“.

Dessen Boden wird genährt, lange schon, fürsorglich und hingebungsvoll. Durch jedes Wort der gezielten Bösartigkeit, was man salopp und leichtfertig die „rechten Provokationen“ nennt. Jede dieser Bösartigkeiten führte Tropfen für Tropfen mehr an Gefühlsrohheit hinzu. Man gewöhnte sich an sie. Noch die Empörung darüber besorgte ihr Geschäft, die Rohheit bleibt im Gespräch, kommt immer mehr ins Gespräch, die einen kritisierten sie, die anderen verteidigten sie, dann wirkt sie erst als eine mögliche Meinung, die man haben kann, dann nach und nach als eine unter den Gängigen. Empört man sich, spielt man ihnen schon in die Hände, und tut, was sie erhoffen, generiert Aufmerksamkeit. Bekämpft man sie „inhaltlich“, läuft man ihren „Inhalten“ hinterher. Was immer man tut, die Gefühlsrohheit leckt sich die Finger. Wenn sich alles um sie dreht, schraubt sie sich immer mehr in unsere Welt hinein.

(…) Die schlechten Manieren, die Gewaltsprache, die obszöne Redeweise, sie gelten als Ausweis der Unangepasstheit und der Aufrichtigkeit (Kickl sagt gern, man werde den Gegnern „einen Schlag aufs Hosentürl“ versetzen). Der Agitator muss sein Publikum im Bewusstsein stärken, hilfloses Objekt „einer permanenten Verschwörung“ zu sein.

(…) Tatsächlich hat sich eine Art „globaler Stil“ des Ethno-Nationalismus herausgebildet.

In jüngerer Zeit hat die französische Philosophin und Psychoanalytikern Cynthia Fleury von Milieus voller Bitterniss geschrieben. Sie spricht von einer „querulatorischen Paranoia“, einer „Vergiftung“, einer „Selbstvergiftung“ der Subjekte, die an realen, echten sozialen Problemen andockt, aber ins Maßlose eskaliert. Das „in das Ressentiment verliebte Subjekt“, erleidet einen „Verlust der Urteilsfähigkeit“. Fleury: „Eine Person, die diese Störung hat, gibt ihre Fehler nie zu, ist aggressiv und provoziert andere, hat unbeherrschte Wutausbrüche, ist pathologisch unaufrichtig, überempfindlich.“

(…) Der harte Kern dieser Wählerschaft wünscht sich genau das, was er bekommt.

Robert Misik, Aufbrausend, aggressiv, paranoid, in: Newsletter Vernunft und Extase

Eins Neununundsiebzig

„Bring Butter mit, wenn sie unter Eins Neununundsiebzig kostet.“ Laut schallte vor vielen Jahren, Jahrzehnten die Stimme der Gattin eines Kollegen durchs große Büro im Institut, in dem ich knapp zehn Jahre lang arbeiten durfte, so daß alle vom familiären Arbeitsauftrag erfuhren und der Präzision der entscheidenden Bedingung für den Arbeitseinsatz: Einsneununundsiebzig. Mark. D-Mark. Heute wären das Nullkommazweiundneunzig Euro. Für den immer noch handelsüblichen Zweihundertfünfzig-Gramm-Riegel. Seit ein paar Tagen, so ist zu lesen, hat Butter einen Rekordpreis erreicht: zwei Euro neununddreißig. Gut zweieinhalb mal so teuer wie in den glücklichen Tagen seinerzeit, als Ehemänner mit erfüllbaren Arbeitsaufträgen in die Welt der Supermärkte und Tante-Emma-Läden entlassen wurden.

Zwei Euro neununddreißig. „Das ist der höchste Preis, den es in Deutschland jemals gegeben hat“, sagte die Bereichsleiterin Milchwirtschaft der Agrarmarkt Informations-Gesellschaft (AMI) in Bonn, Kerstin Keunecke.

Butter kostet damit zehn Cent mehr als im Sommer Zweiundzwanzig, als der bisherige Höchstwert erreicht worden war. Marken wie Kerrygold, Meggle oder Weihenstephan liegen inzwischen bei dreuneununddreißig bis dreineunundvierzig Euro pro zweihundertfünfzig Gramm.

Bedingt durch Ukrainekrieg und Energiekrise war Butter bereits im Laufe des Jahres 2022 immer teurer geworden. Der Preis für ein Päckchen der Eigenmarken stieg auf das Allzeithoch von 2,29 Euro, im Sommer 2023 fiel er auf 1,39 Euro. Anschließend ging er erneut in die Höhe. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zahlten Verbraucher im August 2024 für Butter 41 Prozent mehr als 2020.

Westdeutschland: Eine Erfindung des Ostens

Ich habe mich lange nicht sonderlich für den Osten interessiert, mag sein. Aber warum macht man mich als Westdeutsche bis heute mitverantwortlich für die Verwerfungen der Wende? Ich habe mich in den letzten Jahren nicht nur einmal gefragt, ob irgendwer auch mal konzediert, dass die 1990er-Jahre eine radikale Transformationserfahrung für Millionen Deutsche in Ost und West waren. Auch im Westen gingen in dieser Zeit ganze Industrien den Bach runter. Oft wirkt es auf mich, als würden die Verwerfungen durch Wende und Globalisierung schlimmer als die Diktatur nachwirken und jetzt den Ostdeutschen die Lizenz erteilen, aus Rache AfD zu wählen. (…)

Was auch immer Thema ist: Die „Übernahme“ des Ostens durch den Westen hat zu zigzigzigfachen Brüchen in Erwerbsbiografien geführt. Das ist richtig, aber ganz nebenbei ist auch meine berufliche Biografie geprägt von Neoliberalisierung, Niedriglohnsektor, Generation Praktikum, Phasen der Zeitarbeit, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung erwerbstätiger Mütter. Von Bundespräsident Herzogs „Wir alle müssen den Gürtel enger schnallen“. Von all den Alternativ- und Perspektivlosigkeiten. Grob gesagt: Mein Jahrgang zum Beispiel, ob Ost oder West, hatte doch jetzt 35 Jahre nicht die gleichen, aber dieselben Chancen.

Noch so ein Gerücht. Das von den reichen Westdeutschen, die alle erben. Ich werde ein schwer sanierungsbedürftiges Haus in Randlage erben, für eine neue Heizung fehlt mir das Geld. Ich bin Statistin einer Statistik, die im Osten als himmelschreiende Ungerechtigkeit gilt.

Katharina Schmitz, Westdeutschland: Eine Erfindung des Ostens, in: Der Freitag Ausgabe Sechsunddreißig aus Zweitausenvierundzwanzig

Autopause

Mehr als zwei Jahre sind es her mittlerweile, daß ich mein kleines Auto alleine gelassen habe zu einem tristen Leben ohne Bewegung, ohne Motor in der Garageneinfahrt. So konnte es zwar alles beobachten, aber nicht wirklich seiner Bestimmung entsprechend sein. 

Heute habe ich dieses kleine Auto erstmals wieder bewegt. Ein zugegeben kleiner Ausflug, rund ums Viertel. Nur ein paar Minuten. Aber immerhin. Die Autopause ist einstweilen vorbei. Schön.

Verschlossene Türen

Pressefreiheit à la Wagenknecht & AfD

An diesem Wochenende will das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) Landesverbände in Bremen und in Niedersachsen gründen und hat für beide Parteitage die Presse weitgehend ausgeschlossen.

Komplett ausgeladen wurden Journalisten jüngst von einer Wahlparty der Thüringer AfD. Obwohl die Veranstaltung wegen des Rechtsrucks bei der Landtagswahl von besonderem öffentlichen Interesse war, ist zahlreichen Medienvertretern die Akkreditierung verweigert worden. Als Medienhäuser klagten und recht bekamen, sagte die AfD die geplante Wahlparty kurzerhand ab. Pressefreiheit, wie man sie sich in feuchten Träumen in Deutschlands Osten deliriert.

Politische Kultur

Zu lesen, daß die Entscheidung von Taylor Swift, sich für Kamala Harris auszusprechen, zum entscheidenden Moment im us-amerikanischen Wahlkampf werden könne, bleibt befremdlich, auch wenn es sich um den derzeitigen Weltstar des Pop handelt, und wirft ein Licht auf den Zustand der politischen Kultur dort. On verra.

Brautpaar der Stunde

Wolf Biermann zu echten Braunen und falschen Roten

»Wagenknecht und Höcke sind das politische Brautpaar der Stunde. Da wächst in der Ex-DDR zusammen, was zusammengehört: die Erben des Hitlerschen Nationalsozialismus und des Stalinschen Nationalkommunismus.

[…] Die blaue AfD und die falschen Roten von Wagenknecht stehen beide aufseiten von Putin in diesem blutigen Ukrainekrieg. Echte Braune und falsche Rote verachten die Regenbogenfarben der Demokratie. 

[…] Sahra Wagenknecht ist der anachronistische Kopf einer Personenkult-Partei. Das ist die typische Bauweise totalitärer Parteiapparate. 

[…] Es wird nie eine fruchtbare Liaison geben zwischen irgendeiner Diktatur und einer Demokratie. Sie können von mir aus kulinarisch Senf mit Marmelade mischen. Aber nicht Scheiße mit Brot.«

https://www.zeit.de/kultur/2024–08/wolf-biermann-ostdeutschland-sahra-Wagenknecht-afd-Interview

Lebens-Erwartung

VON WOLFGANG HORN

Bedrückend und, offen gesprochen, entlastend auch, auf der Intensivstation eines deutschen Krankenhauses einen Internetbeitrag von diesen vielen über die Bomabardierung eines ukrainischen Krankenhauses lesen zu können, von den Folgen für die Patienten und Ärzte, die Pfleger, die Angehörigen und Kinder, ob als Patient oder Teil der Familie. Weicher können die Knie nicht werden, wenn man sich eingesteht, womöglich über eine höhere Lebenserwartung zu verfügen als ukrainische Kinder, denen noch der ganze Kosmos offen stehen sollte. Zu erfahren, wieder neu, daß nur ein paar hundert Kilometer westwärts vor den Fronten im von Rußland angezettelten Krieg in der Ukraine die Grunderfahrung im Krankenhaus menschlicher Umgang ist, Zuwendung. Hilfe und Heil ist der ganze Trost, den die Gesellschaft dem Einzeln zu geben vermag. Nein, keine Resolution, kein Demonstrationsvorschlag, eher eine Eingebung, eine Bitte. Denkt nach. Fühlt mit.

Bedrohungen

Diese kleine Fundsache aus threats, der neuesten (im Sinne von letzten) Errungenschaft aus dem Hause Mark Zuckerberg, läßt deutlich werden, was man unter Cerebralphimose verstehen könnte.

Meine Krankenkasse droht ernsthaft damit, meine VIERJÄHRIGE Tochter nicht weiter zu versichern, wenn ich nicht schleunigst schriftlich erkläre, ob sie Schülerin/Studentin ist, einen Wehr- oder Freiwilligendienst leistet oder Einkommen erzielt hat? Auf einem Formular, auf dem ihr Geburtsdatum AUFGEDRUCKT ist? Das Kind ist 49 MONATE alt!!

Digitalisierung scheitert dort, wo in Verwaltungen und Behörden Computer und gedruckte Schaltungen klüger sind, motivierter, beweglicher, resilienter. Als Mitarbeiter oder Fragebogengestalter.