Alle Artikel vonWolfgang Horn
Das liberale Gewissen der Nation
Rumgeopfere
Das „Rumgeopfere“ ist ein Trick aus den rechten Kulturkämpfen seit mehr als 40 Jahren, den in Deutschland auch die AfD benutzt und in den USA Donald Trump. (…) Leute, die eigentlich als tatkräftig, geerdet und durchsetzungsfähig rüberkommen wollen, wie Aiwanger, Höcke oder Trump, jammern die ganze Zeit rum, wie böse angeblich alle anderen zu ihnen sind. Im Fußballstadion zieht solch ein Verhalten nur Verachtung nach sich: Ein Spieler, der nur so tut, als sei er gefoult worden und sich übertrieben am Boden wälzt, kann davon ausgehen, fortan als Schauspieler ausgepfiffen zu werden. (…)
Politik lebt von der medialen Vermittlung, und damit von Bildern und Reden. Wie groß die rhetorische Kraft dieser Bilder ist, kann man beispielhaft an Aiwangers Antworten auf die 25 Fragen von Bayerns Ministerpräsident Söder sehen. Da wird in einer Vorbemerkung Entsetzen geäußert darüber, dass aus dem „geschützten Raum Schule“ Informationen weitergegeben würden.
Der „geschützte Raum Schule“ ist ein starkes Bild. Aiwanger macht sich damit aus zwei Gründen zum Opfer. Zum einen verwendet er einen Begriff, der in der medialen Debatte seit ein paar Jahren eingeführt ist durch vulnerable Gruppen, also Menschen, die tatsächlich Opfer sind, von Diskriminierung betroffen. Der „geschützte Raum“, englisch „safe space“, ist der Ort, an dem etwa trans Personen, People of Color oder andere Minderheiten unter sich sein können, das heißt: sicher vor kleineren oder größeren Angriffen aus der weißen Mehrheitsgesellschaft.
Schon das ist infam – Aiwanger klaut sich einen Begriff und damit den Opferstatus von Leuten, gegen die er als Stimme der vermeintlich normalen Bevölkerung sonst seine Bierzeltreden entwirft. (…)
Zum anderen bewirkt das Bild vom „geschützten Raum Schule“, der durch Weitergabe von Informationen verletzt worden sei, eine Täter-Opfer-Umkehr, die man erst auf den zweiten Blick erkennt. Denn die Affäre dreht sich ja nicht um die Info, in welcher Erdkunde-Klassenarbeit Aiwanger eine Vier geschrieben hat. Sondern um ein Flugblatt – also ein Medium, das selbst Öffentlichkeit sucht. Andere Menschen, möglichst viele, sollten den Text lesen und davon im besten Fall beeinflusst werden in ihrer Wahrnehmung des Geschichtswettbewerbs, über den das Flugblatt auf eine ekelhafte Weise Häme ausschüttet. Mit anderen Worten: Das kann man, innerhalb der Schulöffentlichkeit, eine Medienkampagne nennen.
Die Kampagne stand also eher am Anfang als am Ende dieser Affäre, in der Hubert Aiwanger eines niemals gewesen ist: Ein Opfer.
Matthias Dell, Täter-Opfer-Umkehr. Aiwanger macht den Trump, Kolumne im Deutschlandfunk
Liturgy:
Mohini Dey – Squared Marbles
Offensichtlich Unernst
Sich für Dinge zu entschuldigen, die getan zu haben man abstreitet, umgedacht zu haben, ohne zu erinnern, was man davor gedacht hat, bereuen und von Anfang an recht gehabt haben wollen- das ist so offensichtlich unernst, das will durchschaut werden UND damit durchkommen #Aiwanger
Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, auf Twitter
“Hingerotzt“
Wenn Politiker stürzen, dann seltener wegen Fehlverhaltens, ganz gleich, ob es zwei Monate oder 35 Jahre zurückliegt. Was sie ihr Amt kostet, ist häufig der Umgang mit Fehlern: Erst bestreiten sie, dann eiern sie rum, dann geben sie zu, was nicht mehr zu bestreiten ist, und immer nehmen sie in Kauf, dass neue Details bisherige Erklärungen obsolet machen. So geraten sie immer weiter in die Ecke. Würde in fünf Wochen nicht gewählt, wäre Hubert Aiwanger von Markus Söder wohl entlassen worden. Viel zu heftig die Vorwürfe, viel zu desaströs das Krisenmanagement. Auch seine 25 Antworten auf die Fragen des Ministerpräsidenten sind im Grunde eine Unverschämtheit: kursorisch, hingerotzt, Erinnerungslücken behauptend, wo es auch nach aiwangerischem Ermessen keine Erinnerungslücken geben kann: “Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich”, schreibt er. Wenn der Vorfall sein Leben verändert hat, warum erinnert er sich dann nicht daran?
Detlef Esslingen, Aiwanger-Entscheidung. Im Namen des Bierzelts, in Süddeutsche Zeitung vom vierten September Zweitausenddreiundzwanzig
The Hu – Hellfest 2023 – ARTE Concert
Als wahre Klangkrieger haben es die Mitglieder von The Hu geschafft, Fans auf der ganzen Welt mit ihrem kraftvollen, einzigartigen Sound zu begeistern, der seine mongolischen Wurzeln stolz zur Schau trägt. Ihre Auftritte sind ein geradezu transzendentales Erlebnis – mit einer Musik, die traditionelle Instrumente wie die Morin khuur geschickt mit E-Gitarren-Riffs und einer Rhythmik verschmilzt, aus der die rohe, ungebändigte Energie der Band hervorbricht.
Was The Hu jedoch wirklich auszeichnet, ist der meisterhafte Einsatz des Khöömii, des traditionellen mongolischen Obertongesangs, der es dem Sänger ermöglicht, mehrere harmonische Töne gleichzeitig zu erzeugen. Seit der Veröffentlichung ihres Debütalbums „The Gereg“ 2019 haben The Hu Millionen von Fans auf der ganzen Welt erobert. Dafür wurden sie von den Kritikern ebenso gefeiert wie für ihre Originalität und ihre Fähigkeit, die Grenzen des Genres zu überschreiten – und nicht nur das.
Die Gruppe, die während der weltweiten Corona-Pandemie umfangreiche Spenden sammelte, wurde von der mongolischen Nationalbank 2021 auf einer Münze verewigt und 2022 sogar zu „UNESCO-Künstlern für den Frieden“ ernannt. Ein weiterer Grund, die Ausnahmeband in Clisson gebührend zu feiern. Aufzeichnung vom 17. Juni 2023 beim Hellfest Open Air Festival, Clisson
Ängste
Über die Zeilen gestolpert: Jage die Ängste fort und die Angst vor den Ängsten. Und dann gesucht. Und gefunden. Mascha Kaléko. Jage die Ängste fort und die Angst vor den Ängsten rahmt das Gedicht Rezept ein. Die ersten beiden Zeilen und die beiden letzten: Jage die Ängste fort und die Angst vor den Ängsten.
Rezept
Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
Wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
Und der Anzug im Schrank.
Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
Wie wenig du brauchst.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.
Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muß, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
Sieh ihm still ins Gesicht.
Es ist vergänglich wie Glück.
Erwarte nichts.
Und hüte besorgt dein Geheimnis.
Auch der Bruder verrät,
Geht es um dich oder ihn.
Den eignen Schatten nimm
Zum Weggefährten.
Feg deine Stube wohl.
Und tausche den Gruß mit dem Nachbarn.
Flicke heiter den Zaun
Und auch die Glocke am Tor.
Die Wunde in dir halte wach
Unter dem Dach im Einstweilen.
Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
Im grossen Plan.
Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.
Mascha Kaléko