„Das Jammern wird gefährlich“

Deutschlands größtes Problem ist heute seine Depression. Die Stimmung ist dabei deutlich schlechter als die Lage. Der Pessimismus droht Politik und Wirtschaft zu lähmen und die Krise herbeizuführen, die man verhindern will. (…) 

Was jedoch grundsätzlich fehlt, ist Verantwortungsbewusstsein – zu viele in Deutschland weigern sich, Verantwortung zu übernehmen, und suchen stattdessen die Schuld bei anderen. Wir brauchen einen Kennedy-Moment: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst. Nur so kann Deutschland aus dem Teufelskreis von Pessimismus und Paralyse ausbrechen.

Die Menschen sind zutiefst unzufrieden mit Politik und Gesellschaft, und die Zukunftsängste sind größer denn je. (…) Zugleich zeigt der Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung einen Widerspruch: In den letzten 20 Jahren war die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrem eigenen Leben nie so hoch wie heute, während die Zufriedenheit mit Gesellschaft und Politik gleichzeitig nie so niedrig war. Zu keiner Zeit waren mehr Menschen in Arbeit, die realen Löhne steigen erheblich. Viele Unternehmen machen hohe Gewinne und suchen eher zusätzliche Arbeitskräfte, statt um ihre Existenz zu fürchten oder Arbeitsplätze abzubauen. Dennoch ist die Stimmung in den Unternehmen schlecht, und mit Blick auf die Zukunft wächst der Pessimismus. (…)

Unternehmen und Lobbyverbände schieben die Verantwortung für bessere Rahmenbedingungen fast ausschließlich der Politik zu. Diese soll Bürokratie und Regulierung abbauen, Steuern senken, Infrastruktur verbessern, günstigere Energie bereitstellen und mehr Subventionen gewähren. Doch ein Großteil der Verantwortung für die schwierige Lage der Industrie liegt bei den Unternehmen selbst. Insbesondere die Automobilbranche leidet unter dem Dieselskandal, dem versäumten Umstieg auf E-Mobilität und der starken Abhängigkeit von China mehr als unter den vermeintlich zu hohen Energiekosten oder übermäßiger Regulierung.

Auch in der Politik wird Verantwortung gerne auf andere abgeschoben. Die Ampelparteien geben sich gegenseitig die Schuld für fehlende Reformen und den ständigen Streit innerhalb der Koalition, anstatt Verantwortung für die Regierung zu übernehmen. Die Union kritisiert die Bundesregierung für fast jedes Problem im Land, obwohl sie nach 16 Jahren unter einer CDU-Kanzlerin für viele Probleme verantwortlich ist und auch heute im Bundesrat und im Bundestag maßgeblich an Entscheidungen beteiligt ist. (…) 

Es sind vor allem die verletzlichen Gruppen, die als Sündenbock herhalten müssen. Wer Bürgergeld empfängt, sei faul und könne eigentlich arbeiten, erhalte zu viel Geld. Die Regelsätze sollten gekürzt werden. Viele Deutsche halten Migration für das größte Problem der Gesellschaft, glauben, dass durch die Kosten der Migration zu wenig Geld für ihre eigenen Bedürfnisse bleibt. Diese Behauptungen sind unsinnig und falsch.

Marcel Fratzscher, Fratzschers Verteilungsfragen, in: Die Wirtschaftskolumne von ZEIT ONLINE

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