Mit Stolz scheitern

In einer Zeit, in der Selbstliebe, Selbstakzeptanz und die permanente Glückssuche auf keiner Liste mit Vorsätzen fürs neue Jahr fehlen dürfen, wo die stetige Selbstoptimierung Pflicht ist und die sozialen Medien voll von faltenfreiem Frohsinn sind, gerät es zunehmend in Vergessenheit, dass das Leben in weiten Teilen anstrengend, frustrierend und ausgesprochen langweilig ist. Wir würden alle eine Menge Geld, Zeit und Nerven sparen, wenn wir uns klarmachten, dass Probleme, Minderwertigkeitsgefühle, Verschleiß und Katastrophen zum Leben gehören wie Stoffwechsel und Ohrenschmalz. Statt stolz zu scheitern und uns als unperfekte Menschlein mit Schwächen, Ängsten und manchmal sehr schlechter Laune zu akzeptieren, wird der Bauch eingezogen, werden die Mundwinkel zu einem unechten Lächeln gekrümmt, auf den Lippen stets ein heiterer Superlativ. “Danke, bestens!” oder “Es könnte nicht besser laufen.” Die Pose des geglückten Lebens. Die Fassade der makellosen Existenz. Die Diktatur des Glücks. Sie ist mir zuwider. (…)

Ich habe eingesehen, dass Glück ein breitbeiniger Begriff für Angeber ist, eine verwöhnte Anspruchshaltung, die in der Regel direkt ins hausgemachte Unglück führt. (…)

Da, wo ich jetzt stehe, in der Mitte meines Lebens, wird einem zum Glück vieles ziemlich egal. Mir ist kaum noch etwas peinlich. Ich gefalle lieber mir als anderen. Ich glaube nicht mehr alles, was ich denke. Ich entschuldige mich und übernehme Verantwortung. Ich mache mich nicht mehr kleiner, als ich bin, damit andere sich größer fühlen können, als sie sind. (…)

Grau werdend bin ich und vielfarbig verblühend, gezeichnet, mehrmals gefaltet, lebenserfahren und meist ein wenig müde. Mit Schlupflidern und Zahnkronen, Besenreisern und Hängehintern, voller Narben und voller Demut. Mit vielen Antworten und noch mehr Fragen. Ich liebe den Moment. Mein Leben ist gut. Nicht, weil es schön ist. Sondern weil es bunt, dunkel und hell, reich und erbärmlich, beängstigend, befremdlich, einzigartig, quälend und großartig ist. Ich sehe in den Spiegel, ich erkenne mich und denke: “Die Alte da, die gefällt mir.”

Ildikó von Kürthy, Die Pose des geglückten Lebens, in: Süddeutsche Zeitung vom neunundzwanzigsten Dezember Zweitausenddreiundzwanzig

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