Blockierte Straßen, besetzte Flughäfen, besprühte Wahrzeichen: Der zivile Ungehorsam erlebt ein spektakuläres Comeback. Während der Staat mit teils drastischer Härte reagiert, ringen die Rechtswissenschaften um Antworten. Lässt sich ziviler Ungehorsam in Zeiten der Klimakrise rechtfertigen? Oder handelt es sich um nichts weiter als gewöhnliche Straftaten, wenn nicht gar das Wirken einer kriminellen Vereinigung? Der Verfassungsblog hat die Debatte von Anfang an begleitet und versammelt erstmals ausgewählte Beiträge in Buchform. Das Buch ist seit heute hier zu haben, digital, open access und in Print. Falls wir nicht bereits damit Ihr Interesse geweckt haben, dann hoffentlich spätestens nach Lektüre der Einleitung, deren gekürzte und leicht veränderte Version wir diese Woche als Editorial verschicken |
Ein Unbehagen hat sich breit gemacht. Was ist, wenn unsere regulären politischen Institutionen nicht darauf ausgelegt sind, die Klimakrise schnell genug zu bekämpfen? Was ist, wenn unsere Verfahren zu träge, unsere Zeithorizonte zu kurz und unsere Repräsentationsmechanismen zu beschränkt sind, um der Zerstörung des Planeten rechtzeitig Einhalt zu gebieten? Ganz gleich, wie man auf diese Fragen antwortet, an einer Einsicht führt kein Weg mehr vorbei: Die Klimakrise ist auch eine Krise der politischen Institutionen. Lange eingeübte Verfahren und Routinen des liberalen Verfassungsstaates scheinen bei der Bewältigung der Klimakrise unter Druck zu geraten. Bis heute hat es kein nennenswerter staatlicher Emittent geschafft, sich in dem Umfang und der Schnelligkeit zu dekarbonisieren, die für die Einhaltung der Pariser Klimaziele notwendig ist. Die Folgen verschleppter Treibhausgasreduktionen hat das Bundesverfassungsgericht 2021 in bemerkenswerter Klarheit auf den Punkt gebracht: Freiheitseinbußen in nahezu allen Lebensbereichen – nicht nur, aber insbesondere für junge und kommende Generationen.
Für die Akzeptanz politischer Systeme stellt dieser Befund ein Problem dar. Wo Parlamente und Regierungen es nicht schaffen, junge Generationen und vulnerable Gruppen davon zu überzeugen, dass ihre Interessen ausreichend berücksichtigt sind, drohen beiden empfindliche Legitimitätsverluste. Insbesondere der Verweis, sich doch an die regulären Mechanismen politischer Willensbildung zu halten, verliert in solchen Situationen an Überzeugungskraft, sind es doch gerade jene Mechanismen, die für die strukturelle Verfestigung von Ungleichgewichten, wenn nicht gar für die weitere Eskalation der Klimakrise verantwortlich gezeichnet werden.
Zur Wiederkehr des Ungehorsams
Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass die Bundesrepublik mit dem Aufkommen der Klimabewegung auch ein Comeback des zivilen Ungehorsams erlebt. Junge Menschen blockieren Straßen, hängen von Brücken und besetzen Landebahnen.
Viele sehen hierin eine demokratische Grenzüberschreitung, wenn nicht gar das Wirken einer kriminellen Vereinigung. Denn zählen dürfe in der parlamentarischen Demokratie allein das gesprochene Wort und der positiv gesetzte Mehrheitswille. Wer dies in Frage stellt, stelle potenziell jeder Interessengruppe das diskursive Instrumentarium bereit, um sich aus dem demokratischen Konsens zu verabschieden.
Andere sehen hierin hingegen ein Beispiel gelebter Demokratie von unten. Der häufig etwas unmotivierte Verweis auf das Mehrheitsprinzip verkenne, dass auch Mehrheiten Grenzen auferlegt sind. Hierzu gehöre etwa, dass jede Entscheidung reversibel, also im Wege des Wahlaktes korrigierbar sein sollte. In Zeiten der Klimakrise stehe genau dieses demokratische Kernprinzip jedoch auf dem Spiel.
Doch folgt aus diesem Befund auch eine Rechtfertigung dafür, zivil Ungehorsam zu üben? Oder sind Menschen, die aus Verzweiflung über die Klimakrise das Recht brechen nicht doch ganz gewöhnliche Kriminelle?
Zwischen den Disziplinen
Selbst in der Geschichte moderner Demokratien stoßen wir auf Situationen, in denen eine solche Gleichsetzung bereits intuitiv nicht zu überzeugen vermag. Der liberale US-amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin schaute bei einem 1983 in Deutschland gehaltenen Vortrag etwa auf die jüngere Geschichte der Vereinigten Staaten zurück und bemerkte, dass ein Großteil der US-Amerikaner rückblickend froh über den zivilen Ungehorsam gegen den Vietnamkrieg sei. Auch den zivilen Ungehorsam der schwarzen Bürgerrechtsbewegung oder von Frauen zur Erstreitung gleicher Rechte wird aus heutiger Perspektive nahezu niemand mehr im Register gewöhnlicher Kriminalität verbuchen wollen.
In der politischen Theorie macht man sich deswegen schon seit längerem Gedanken darüber, wann ziviler Ungehorsam legitim sein könne. Liegt eine gravierende Verletzung grundlegender Gerechtigkeitsprinzipien vor, so etwa John Rawls, dann könne ziviler Ungehorsam gerechtfertigt sein, wenn andere institutionelle Wege, um die Ungerechtigkeit zu adressieren ausgeschöpft sind und die Stabilität des gesamten Systems im Auge behalten werde. Auch Jürgen Habermas argumentierte 1983, dass die Idee eines „nichtinstitutionalisierbaren Mißtrauens gegen sich selbst“ zum demokratischen Rechtsstaat gehöre. Denn auch im Rechtsstaat können sich legale Regelungen als illegitim erweisen; und zwar dann, wenn sie den moralischen Prinzipien des modernen Verfassungsstaates zuwiderlaufen. Solche Situationen können jedoch nicht die staatlichen Institutionen selbst erkennen. Es seien vielmehr die Schwachen und Marginalisierten, die „Müheseligen und Beladenen“ ohne privilegierte Möglichkeiten der Einflussnahme, welche Irrtümer und Ungerechtigkeiten zuerst erfahren. „Auch aus diesem Grund“, so Habermas, „ist der plebiszitäre Druck des zivilen Ungehorsams oft die letzte Möglichkeit, Irrtümer im Prozeß der Rechtsverwirklichung zu korrigieren oder Neuerungen in Gang zu setzen“.
So einleuchtend jene Beobachtungen sind, so wenig folgt aus ihnen jedoch zunächst für die Praxis und Wissenschaft des Rechts. „Es gibt keine habermaskonforme Auslegung des Grundgesetzes“, schreibt der Staatsrechtler Klaus Ferdinand Gärditz in diesem Band und verweist darauf, dass auch scharfe Konflikte nach den Spielregeln des Grundgesetzes auszutragen seien. Mit dieser Beobachtung steht Gärditz nicht alleine da. Bereits in den 1980er Jahren haben sich die deutschen Rechtswissenschaften intensiv mit dem zivilen Ungehorsam beschäftigt (bevor sie das Thema in einen fast vierzigjährigen Dornröschenschlaf schickten). Auch damals sah die Mehrheit im zivilen Ungehorsam einen Fremdkörper, der weder in das demokratietheoretische noch in das dogmatische Vokabular der Rechtwissenschaft integriert werden sollte. Da das Grundgesetz die Institutionen und Verfahren politischer Willensbildung abschließend regele, zählen allein der positiv gesetzte Mehrheitswille sowie diejenigen checks and balances, auf die wir uns demokratisch geeinigt haben. Für nur selektiven Rechtsgehorsam sei also kein Platz. Andere zeigten sich dagegen offener dafür, die Rechtswissenschaften für die Wertungen der politischen Theorie zu öffnen. Auch wenn der offene Rechtsbruch in der Tat nicht einfach legalisiert werden sollte, könne die demokratietheoretische und staatbürgerliche Dimension zivilen Ungehorsams aber jedenfalls mildernd auf Ebene der Strafzumessung berücksichtigt werden. Denn wer zivilen Ungehorsam übe, handele nicht aus reinem Egoismus oder ökonomischen Eigennutz, sondern handele symbolisch, aus moralischen Motiven, als kritische Demokratin.
Zurück im Scheinwerferlicht
In den heutigen Debatten zu Klimabewegung hallen beide dieser Positionen nach, die teils wiederholt, teils nuanciert und teils bahnbrechend weitergedacht werden. Das Gespenst des Ungehorsams, es ist zurück im Scheinwerferlicht der Rechtswissenschaften.
Und auch jenseits der Fachdiskurse ist das Interesse an juristischen Antworten auf zivilen Ungehorsam immens. Weit über juristische Kreise hinaus werden Ermittlungs- und Gerichtsverfahren, aber auch Texte und Äußerungen von Rechtswissenschaftler:innen verfolgt und kommentiert. Die Intensität und Breite der Debatte kann dabei nicht erstaunen. Zum einen ist das Instrument des zivilen Ungehorsams mit den gut koordinierten Aktionen der „Letzten Generation“ innerhalb von sehr kurzer Zeit (wieder) zu einem politischen Faktor in der Bundesrepublik geworden. Das sorgt für Verunsicherung, aber auch für berechtigte Nachfragen. Ob, wie und wessen ziviler Ungehorsam Einfluss auf politische Entscheidungen haben sollte, ist eine Frage, die sorgfältig diskutiert werden muss. Dass auch die breitere Öffentlichkeit diese Diskussion aufgreift, ist aus Perspektive der demokratischen Kultur ein gutes Zeichen. Zum anderen weitet der zivile Ungehorsam der „Letzten Generation“ die Koordinaten des Ungehorsams aus, indem nicht mehr vornehmlich der Staat oder Unternehmen, sondern Bürger:innen durch die Aktionen getroffen werden. Ein solches Spiel über Bande, in dem auf staatliches Handeln abgezielt, aber die Disruption öffentlichen Lebens das Mittel ist, ist als Aufmerksamkeitsstrategie erfolgreich, wirft zugleich aber völlig neue (politische wie rechtliche) Fragen der Rechtfertigung auf.
Zum Aufbau dieses Buchs
Dieses Buch ist aus einem Teil jener öffentlichen Debatten über die Legitimität und Legalität zivilen Ungehorsams in der Klimakrise hervorgegangen. Es versammelt Texte, die zwischen November 2022 und August 2023 auf dem Verfassungsblog erschienen sind und auf unterschiedliche Phasen und Aspekte der Debatte reagieren. Nahezu von Anbeginn der Proteste der „Letzten Generation“ hat der Verfassungsblog das Thema begleitet. Einmal mehr haben die Debatten der letzten Monate dabei gezeigt, wie wichtig eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ist; zahlreiche Texte wurden breit geteilt, intensiv diskutiert und fanden schnell Eingang in Literatur und Rechtsprechung.
Die Texte in diesem Buch sind nicht chronologisch, sondern entlang vier größerer Themen geordnet, die die Debatte zum zivilen Ungehorsam bei uns bestimmt haben. Im ersten Teil versammelt das Buch Texte, die sich auf grundsätzlicher Ebene mit dem Verhältnis von zivilem Ungehorsam, Legitimität und Legalität beschäftigen. Der zweite Teil stellt die Antworten der Strafverfolgungsbehörden in den Mittelpunkt und kreist insbesondere um die bundesweiten Hausdurchsuchungen und Ermittlungen gegen Mitglieder der „Letzten Generation“ wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Die Texte des dritten Teils untersuchen, wie sich die Proteste der Klimabewegung auf zwei Kerninstitute des Strafrechts auswirken: die Notwehr und den rechtfertigenden Notstand. Während es bei der Notwehr um die Frage geht, ob und innerhalb welcher Grenzen blockierte Autofahrer:innen gegen Sitzblockaden vorgehen dürfen, beschäftigen sich gleich drei Texte mit einem spektakulären Urteil des Amtsgerichts Flensburg, das einen Hausfriedensbruch aufgrund der eskalierenden Klimakrise als gerechtfertigt sah. Im vierten und letzten Teil bringen wir schließlich einige verwaltungsrechtliche und rechtsvergleichende Perspektiven zusammen. Neben polizei-, beamten-, versammlungs- und schulrechtlichen Fragen werfen zwei Texte einen Blick nach Australien bzw. in das Vereinigte Königreich und untersuchen, wie der Staat anderswo auf zivilen Ungehorsam in der Klimakrise reagiert. Denn das Gespenst des Ungehorsams, es hat sich längst globalisiert.
Vielen Dank an Keanu Dölle und Evin Dalkilic für die Unterstützung bei der Fertigstellung dieses Buchs sowie an Friedrich Zillessen für das Redigat der Blogfassungen von Tobias Gafus, Lena Herbers, Thorsten Koch, Katrin Höffler, Stefan König und Michael Kubiciel.
Maxim Bönnemann (Hrsg.), Verfassungsbook_Kleben-und-HaftenHerunterladen, in: Verfassungsblog
Das Buch „Kleben und Haften. Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise“, herausgegeben von Maxim Bönnemann, läßt sich als PDF-Datei hier herunterladen: https://verfassungsblog.de/books/