Hat es je einen Tag der Deutschen Einheit gegeben, dritter Oktober oder siebzehnter Juni, der in einer Krisengemengelage begangen werden mußte, wie wir sie heute vorfinden? Ein Krieg mitten in Europa, im zweitgrößten Flächenstaat des Kontinents angezettelt von der Atommacht Rußland. Eine Energiepreiskrise, zurückgehend auf den Krieg in der Ukraine und eine nachgerade abenteuerliche Bindung und Selbstfesselung an russische Energielieferungen über lange Jahre und unterschiedliche Parteikonstellationen hinweg. Eine Energieliefer- und produktionskrise, weil russisches Öl und Gas zur Waffe im Krieg gegen die Ukraine werden und konservative Kräfte im Land viele Jahre eine angemessene Nutzung erneuerbarer Energien hintertrieben haben. Eine Klimakrise, weil sich alle politischen Kräfte im Land gegen jeden Rat von Wissenschaftlern und Experten viel zu lange davor gedrückt haben, die erforderlichen politischen und ökonomischen Maßnahmen in die Wege zu leiten. Eine Preiskrise, weil zum ersten Mal seit etwa siebzig Jahren in Deutschland die Inflationsrate auf zehn Prozent gestiegen ist. Eine Krise der Volksgesundheit und des Gesundheitssystems, weil die Corona-Pandemie auch nach drei Jahren noch nicht wirklich zurückgedrängt und es fraglich ist, ob die nächste Welle, hervorgerufen durch die Omikron– oder eine neue Variante des Virus, halbwegs glimpflich verläuft. Das Gesundheitssystem ist derzeit nicht so ausgestattet, daß der dringend benötigte Bedarf an Pflegekräften gedeckt werden könnte. Das Bildungswesen im Land bedarf dringend der Erneuerung. Es fehlen Lehrkräfte, Sozialarbeiter, Bildungsmanager. Infrastruktur zerfällt. Brücken und Straßen, Schulbauten und andere öffentliche Einrichtungen sind oft in beklagenswertem Zustand. Die Modernisierung und Digitalisierung großer gesellschaftlicher Bereiche, des Gesundheitswesens, Bildung, Schule und Hochschule, Verkehr und Transport, öffentliche Verwaltung ist nicht einmal ansatzweise in Angriff genommen. Eine Demokratiekrise schließlich, in die der verantwortungslos-rechtspopulistische Versuch münden kann, wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Tatsachen, historische Gewissheiten und moralische-ethische Werte zu zerstören und eine hemmungslos-ungezügelte, beleidigend-haßerfüllte öffentliche „Kommunikation“ in sogenannten sozialen Netzwerken zu installieren und hernach auf die Straße zu bringen, die sich jeglicher Regelung entzieht, weder sprachliche noch Normen des Umgangs anerkennt, die Lüge und Denunziation hoffähig macht. Intendiert ist eine Spaltung der Gesellschaft in ein „Wir“ und in ein „Die“, die Belebung von Ressentiments, der verächtliche Umgang mit Minderheiten, ethnischen, religiösen, Menschen mit abweichender sexueller Orientierung, sozialen Minoritäten, Flüchtlingen und Asylbewerbern, Fremden. Politische, gesellschaftliche oder andere Eliten, beispielsweise Wissenschaftler, werden geschmäht. Und dennoch: Unser Land, unsere Gesellschaft hat jeden Grund, die Einheit zu feiern, die Freiheit von Diktatur und Unterdrückung. Trotz all der Krisen und weiterer krisenhafter Entwicklungen, beispielsweise der globalisierten Produktion und der Hunger- und Ernährungskrise in weiten Teilen der Welt, vor allem in Afrika, halten die Klammern der Gesellschaft noch. Am Tag der Deutschen Einheit wird immer wieder deutlich, daß Freiheit keine auf Dauer unterdrückbare Idee ist. Allen Krisen zum Trotz. Sie, die Freiheit bricht sich Bahn, wenn ihre Idee viele Menschen erfaßt. Dann zerbricht die Macht, zerbröseln die Strukturen, Regeln, Gesetze, Bestimmungen der Einschränkung. Wenn sich freie Menschen verbünden, in großer Zahl in der Idee von Freiheit und Demokratie, von Rechtsstaat und Vernunft, von Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Offenheit haben Autokraten, haben Despoten und Diktaturen keine Chance. Das lehrt der Tag der Deutschen Einheit. Mögen die Völker in der Ukraine und in Rußland, im Iran und den arabischen Ländern, überall dort, wo derzeit noch Unfreiheit und Despotie herrschen, alsbald ihren eigenen Tag der nationalen Einheit begehen können, den Tag der Befreiung.