Unsere Marktwirtschaft funktioniert für einige wenige ganz hervorragend – und für viele wenig bis gar nicht. Klar, da geht es letztlich auch um eine Systemfrage: Ist das Problem die Marktwirtschaft? Ich finde, die soziale Marktwirtschaft, die wir in Deutschland haben, ist als Gesellschaftsvertrag ein hervorragendes Modell, denn sie sagt: Wir wollen, dass jeder Mensch in unserer Gesellschaft ein selbstbestimmtes Leben leben kann – und wir als Gesellschaft haben alles dafür zu tun, dass das wirklich für jeden zutrifft. Über ein exzellentes Bildungssystem, das alle mitnimmt, ihre Talente zum Vollsten fördert, das Menschen im Arbeitsmarkt eine Chance gibt, eine Berufung zu haben. Daher sehe ich das Problem nicht per se in der sozialen Marktwirtschaft, sondern in deren vielfachem Missbrauch. Heute gibt es viele, die eben nicht die Chance haben, einen guten Bildungsabschluss zu bekommen, zu viele Jugendliche, die ohne Abschluss abgehen. (…) Durch Globalisierung und technischen Wandel verliert der Nationalstaat an Bedeutung. Sie können nicht mehr sagen: Wir schotten uns jetzt mal ab und machen unser eigenes Ding, vor allem nicht wir Deutschen, die wir mit unserem Modell einer offenen Volkswirtschaft mit vielen Exporten mehr als die meisten anderen von der Globalisierung profitiert haben. (…) Der Föderalismus ist eine große Stärke – aber wir haben heute viel zu wenig Umverteilung von stark zu schwach. Der Finanzausgleich zugunsten ärmerer Kommunen ist mittlerweile zu gering, um zu verhindern, dass in Deutschland das Süd-Nord-Gefälle massiv zunimmt – es geht ja nicht mehr um Ost-West, sondern um Nord-Süd. Ich befürchte, diese Unterschiede und diese Wanderung von Nord nach Süd, auch vom Land in die Stadt, werden weiter zunehmen. Ich sehe im Augenblick keinerlei Anstrengungen der Politik, das zu stoppen.
Marcel Fratzscher, Niemand wird als Rassist geboren, Interview von Jakob Augstein mit Marcel Fratzscher, in: Freitag, Ausgabe Vierundvierzig aus Zweitausendundneinzehn