Schlagwort: Carolin Emcke

Nicht die Quantität der Flüchtlinge ist historisch, sondern die Qualität der Zuwendung.

Ein anderer Zustand des Begreifens ist der, der ohne Vergleich auskommt. (…) All die Menschen in diesen Tagen, auf dem Land oder in der Stadt, die geben und teilen, was sie haben: Kinderwagen oder Turnschuhe, ein Bett in der eigenen Wohnung oder einen Platz am Tisch zum Abendessen, all diese Menschen suchen keine Gemeinsamkeiten oder Differenzen. Sie begutachten nicht einzelne Eigenschaften derer, die da nach Europa, in die eigene Gegend oder Straße kommen, sie teilen die Menschen nicht ein oder auf in jene, die genau gleich oder fast genau gleich oder anders sind als sie selbst. Der bewegenden Hilfsbereitschaft, die in diesen Wochen zu erleben ist, liegt ein anderer Blick, eine andere Sorte des Begreifens zugrunde. Sie nehmen die Geflüchteten als das, was sie sind: Geflüchtete. Dieses tiefe Begreifen ist bedingungslos. Es sortiert nicht die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, es entzieht sich jener skalierenden Musterung, nach der “legitime” von “illegitimen”, “nützliche” von “schädlichen” Ankömmlingen geschieden und bei Bedarf dämonisiert und entwertet werden. Es versteht vielmehr Verletzbarkeit als condition humaine: ob es nun politische Verfolgung oder religiöse Vertreibung, sexuelle Misshandlung oder ökonomische Verelendung war, die Menschen zur Flucht gedrängt hat. Nicht die Quantität derer, die hierher fliehen, ist historisch zu nennen, sondern die Qualität der Zuwendung derer, die sie anerkennen. (…) Diese beeindruckende Bewegung aus zivilem Engagement ist keineswegs nur privat. Sondern sie ist in ihrer Selbstermächtigung auch politischer als manche Regierung, die ihre angebliche Ohnmacht in der Flüchtlingskrise nur vortäuscht.

Eine beeindruckende Kolumne von Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung. Macht. Nicht die Quantität der Flüchtlinge ist historisch, sondern die Qualität der Zuwendung. Unbedingt vollständig nachlesen!

Defizite

Im Schatten der Schuldenkrise haben sich die öffentlichen Diskurse so re-nationalisiert, dass die Idee der europäischen Solidarität zunehmend verkümmert zu bloßem Lobbyismus für nationale Gläubiger. Nur so erklärt sich der wachsende Gleichmut gegenüber den Marginalisierten anderswo, denen, die ihre Arbeit verloren haben, deren Wohnungen zwangsgeräumt wurden, die über keine Krankenversicherung mehr verfügen – als seien dies lediglich ökonomische Verwerfungen an der europäischen Peripherie und nicht soziale Risse im Zentrum des demokratischen Selbstverständnisses Europas. Vielleicht liegt hierin eine der Chancen der Griechenland-Krise: Dass sie sichtbar macht, wie die europäischen Versprechen auf Partizipation, auf Inklusion und auf demokratische Verfahren der Selbstbestimmung ausgehöhlt werden. Gebraucht werden womöglich nicht nur Mechanismen, die Griechenland aus seinem ökonomischen Dilemma lösen, sondern auch ein politischer New Deal, der die demokratischen Defizite Europas korrigiert.

Carolin Emcke, Defizit, in: Süddeutsche Zeitung vom zwanzigsten Juni Zweitausendundfünfzehn