Tag: 17. Oktober 2023

Israel: Falsche Wahrheiten und richtige Falschheiten

Nach dem grausamen Massaker der Hamas fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden. Denn so vieles ist falsch und richtig zugleich.

Die Welt steht in Flammen, und alles ist falsch und richtig zugleich, alles voller falscher Wahrheiten und wahrer Falschheiten. Das grauenhafte Massaker der Hamas an mehr als 1400 Menschen, in der übergroßen Mehrheit Zivilisten, in der übergroßen Mehrzahl jüdische Israelis, ist ein auch nach Maßstäben von Kriegsverbrechen maßloses Verbrechen. Es ist unvergleichlich in seinem Ausmaß, unvergleichlich in Grausamkeit und Gnadenlosigkeit und unvergleichlich im Terror, den es verbreitet und bewirkt, also in der Angst und Panik, in die es eine ganze Gesellschaft versetzt. Eine ganze Nation ist in Panik, in Schock und im Zustand allgegenwärtiger Bedrohungsgefühle.

Richtig ist, dass es keinen Staat der Welt gibt, der nach einem solchen Geschehen auf eine massive militärische Antwort verzichten könnte. Massiv falsch, eine solche monströse Tat erklärend mit Unrecht, Leid, Unterdrückung und Herabsetzung zu „kontextualisieren“ (ganz zu schweigen von rechtfertigen), also durch das, was den Palästinensern in 75 Jahren Nahostkonflikt angetan wurde. Ebenso falsch ist zugleich, die Geschichte von Besatzung, Unrecht, Terror, die Spirale von Gewalt und den Übergang von Gegnerschaft in Hass, die zertretenen Pflanzen von Hoffnung, nicht zu erwähnen.

Geschehnisse wiederum, die alle Beteiligten mit Geschichte und Geschichten ausstatten, die jeweils andere Seite als die eigentlich Schuldigen anzusehen. Die Gräuel der Hamas machen die Kritik an Besatzung, Abschnürung und Siedlerradikalismus nicht falsch, genauso wie, umgekehrt, letztere die Gräuel der Hamas um nichts weniger widerwärtig machen. Wer hier aufzurechnen beginnt, hat schon verloren. Wer auch nur glaubt, damit auch nur ein wenig dieses Massaker rechtfertigen zu können, hat seinen moralischen Kompass verloren. Und umgekehrt. Alles ist wahr und falsch zugleich.

Der Jargon des Antikolonialismus

Der Massenmord macht Benjamin Netanjahu, der böse Geist der israelischen Innenpolitik seit 20 Jahren und Kraft der Zerstörung, nicht zu einem engelsgleichen Unschuldslamm, als welches er sich gerne durch Meinungsmanipulation hinstellt. Abstrus sind seine Versuche, jede Kritik an der rechtsradikalen Politik seiner Regierungen als „antisemitisch“ zu framen, aber nicht weniger abstrus, nein, noch abstruser, sind alle Versuche, mit Rhetoriken von „Antiimperialismus“ oder „Anti- oder Postkolonialismus“ die Blutorgien der Hamas irgendwie als nachvollziehbare Widerstandshandlungen geschundener, kolonisierter Seelen hinzubiegen. Letzteres zeigt nebenbei wie problematisch die Schemata, der ganze Jargon und die Phrasen postkolonialer Theorie offenbar sind, wenn heutzutage sowohl Putin mit diesen Begrifflichkeiten operieren kann (der diese Rhetoriken klaut, um sich als Widerstandskämpfer gegen westliche Dominanz zu kostümieren), und auch islamistische Meuchelmörder diesen Jargon missbrauchen können. Falsch ist es, den Antisemitismus zu leugnen, den Hass, der Juden entgegenschlägt, ihn kleinzureden, ihn zu ignorieren, und genauso falsch ist, den Antisemitismusvorwurf zum billigen sprachpolizeilichen PR-Instrument zu verwandeln, mit dem jeder und jede moralisch erledigt wird, der die Dinge anders beurteilt als die rechtsradikalen israelischen Regierungsfunktionäre.

Dauernd ist man versucht „Ja“ und „Nein“ zugleich zu schreien.

Es ist auch noch nicht einmal der Vorhalt muslimischer Stimmen falsch, dass wir im Westen palästinensische Opfer israelischer Politik oder generell arabische Opfer westlicher Politik (von Irak bis Afghanistan bis Syrien) mit einem Achselzucken abtun, dass sie es kaum als Meldung in die Nachrichten schaffen, im Unterschied zu „unseren“ Opfern islamistischen Terrors. Der Vorwurf der Doppelstandards und der Heuchelei ist zumindest verständlich und nachvollziehbar, aber umgekehrt ist es der falscheste, unpassendste Augenblick, diesen Vorhalt vorzubringen, angesichts dieses grauenhaften Massenmordes. Wenn man gegen den Tod unschuldiger palästinensischer Opfer demonstrieren will, wären andere Gelegenheiten womöglich angebrachter. Jubelfeiern für die Ermordung von 1400 junger Israelis, von Buben, von Mädchen, von Alten, von Greisen, von Kindern und Jugendlichen, von Vätern und Müttern, sind vermutlich nicht die passendste Gelegenheit.

Wenn sich das Richtige falsch anhört

Bei so vielem, das vorgebracht wird, ist das bisschen Richtige, die Prise Wahrheit, viel zu oft erdrückt vom Falschen, vom Böswilligen, vielleicht auch da und dort nur vom Dummen. Wahrheiten fallen sich gegenseitig ins Wort: Gewiss ist es richtig, dass den Opfern der Hamas-Anschläge Gesicht gegeben wird, dass die Ermordeten und Geschändeten keine bloße anonyme Zahl in der Opferstatistik bleiben, und genauso richtig ist, wenn muslimische Menschen meinen, dass uns die Opfer westlicher militärischer Aktionen nie kümmern, wir das Leid in Gaza desinteressiert ignoriert haben. Wenn zerfetzte afghanische Kinder bei uns „Collateral Damage“ heißen, hat man einen schweren Stand, hier Doppelstandards zu dementieren. Falsch fühlt sich an, die Richtigkeit oder Falschheit solcher Aufrechnungen überhaupt zu diskutieren, ebenso falsch aber auch, sie einfach ignorant von sich zu weisen.

Wahr ist, seit Jahrzehnten schon und seit Jahrzehnten von der israelischen Friedensbewegung betont, dass Besatzung und koloniale Gewalt sowohl die Besatzer wie auch die Besetzten verroht, falsch ist zugleich, das auch nur irgendwie als Legitimation zu benützen, oder gar in ein moralisches Freispiel von der Art zu verwandeln, dass der von den Umständen Verrohte gleichsam immer freigesprochen ist, als wäre er als Opfer von Umständen befreit von jedem Urteil.

Den islamistischen Fanatismus der Hamas, deren radikal-konservative Reinheitsgebote, den Manichäismus von Freund und Feind, und deren Kriegsverbrechen irgendwie als vergleichbar mit nationalen Befreiungsbewegungen vergangener Zeiten hinzustellen, ist, neben allem weiteren, übrigens auch eine Beleidigung für die allermeisten Befreiungsbewegungen. Nichts auch nur annähernd Ähnliches hat irgendeine antikoloniale Bewegung mit legitimen Befreiungszielen jemals getan.

Falsch ist die konfrontative Kriegs-Anfeuerungsrhetorik, dass Israel jede Unterstützung ohne Wenn und Aber und ohne jeden Vorbehalt verdiene, aber falsch ist zugleich, Israel diese Unterstützung zu versagen. Ich ertappe mich bei der Lektüre und beim Nachrichtenschauen, die meisten Worte und Sätze hohl und falsch zu empfinden, als würde die Sprache fehlen für das Richtige.

Als wäre die Sprache krank geworden und die Worte fehlen, um das alles akkurat zu beschreiben.

Die Naivitätsfalle

Israel hat das Recht, massiv zu reagieren, und eine Zerschlagung der Hamas ist nach dieser Tat ein mehr als legitimes Kriegsziel. Die Frage ist nur, ob es irgendwie praktisch-realistisch erreichbar sein könnte. Israel hat höchstwahrscheinlich noch nicht einmal eine echte Alternative dazu, es zu versuchen. Eine Gegenreaktion auf ein Kriegsverbrechen entbindet zugleich nicht von der Pflicht, keine Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung zu begehen. Zugleich soll mir jemand sagen, wie ein militärischer Einsatz gegen eine Terrormiliz ablaufen soll, die sich in dicht bewohntem Gebiet inmitten der Zivilbevölkerung verschanzt, ohne dass massive Kriegsverbrechen einfach eine logische Folge sein werden. Eine Binsenweisheit, dass nur eine politische Lösung, angeschoben von Humanisten und Friedensfreunden in den verschiedensten Nationen (und vielleicht unterstützt durch praktische Vernunft von Realpolitikern) eine Lösung bringen kann. Aber es bleibt eine schale Binsenwahrheit, deren abgeschmackter Sound einem auch nicht verborgen bleiben kann, weil wir wissen, wie aussichtslos das ist nach jahrzehntelangen Geschehnissen der gegenseitigen Gewalt. Selbst das Richtige fühlt sich als hohle Phrase an. Weil Hoffnung naiv klingt, flüchtet man entweder in die Sprache des Krieges oder in die stille Deprimiertheit.

Es kommt nicht oft vor, dass ich beim Tod eines Staatsmannes weine. Das letzte Mal tat ich das, als ich mit offenem Mund vor dem TV-Gerät saß und die Nachrichten und Bilder von der Ermordung Yitzhak Rabins sah. Das war 1995. Beinahe dreißig Jahre ist das her. Wer jünger ist als ich, der ich auch langsam ins Zeitzeugenalter komme, hat nicht einmal mehr eine Erinnerung daran, dass es einmal eine Hoffnung gab, die zerstört werden konnte.  

Robert Misik, Misiks Ruhestörung, in: Zack Zack