Von der Betriebstemperatur der Demokratie

Ja, die Demokratie mag Fehler haben. Aber unter allen politischen Systemen ist sie dasjenige, das durch interne Kritik stärker werden kann, nicht schwächer. Nur, je komplizierter Demokratie wird, desto genauer muss die Kritik ausfallen. So wie sich heute kein Automotor mehr mit Werkzeug aus den 1960er Jahren reparieren lässt, so wenig Hebelkraft bietet die System-Sicherheit von einst gegen die Verunsicherung von heute.

Dabei ließe sich eines durchaus vom Gestern lernen: Die Demokratie braucht eine gewisse Betriebstemperatur, damit sie flüssig bleibt. Nicht jeder Zweifler verdient es, zum Ketzer stilisiert zu werden. Und nicht jeder Ketzer gehört verbrannt. Kann dieses Land zum Beispiel nicht ganz froh sein, dass Angela Merkel in Horst Seehofer einen zuverlässigen Widersacher hat, selbst wenn der Stil bisweilen nervt? Wer jede Meinungsverschiedenheit zur Störung des politischen Friedens aufmotzt, muss sich nicht wundern, wenn die Wähler gegen genau diesen Frieden rebellieren. Demokratie lebt vom Zweifel. Zu wenige Zweifel in ihr führen deshalb dazu, dass zu viele Zweifel an ihr wachsen.

Jochen Bittner, Demokratie. Läuft ihre Zeit ab?, in: Die Zeit, Vierundzwanzig / Zweitausendsechzehn vom zweiten Juni

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