Monat: November 2009

“Peinlich gibt’s nicht mehr”

Und noch ein Fundstück: Spiegel-Online vom 4. November. “Das Grundrecht auf Schmach” – so ist der Artikel von Frank Patalong überschrieben, in dem es um zwei amerikanische Schülerinnen geht, die von ihrer Schule abgemahnt wurden, weil sie anstößige Fotos von sich ins Internet gestellt hatten. Ein schönes Stück Medienkritik, neue und online-Medien inclusive:

Im Fernsehen balzen gehemmte Bauernsöhne öffentlich um Publicitysüchtige oder einsame Unverheiratete. Im Schimmel lebende Vertreter des Prekariats lassen sich als Gegenleistung für ihre öffentliche Blamierung kostenfrei die Wohnungen und Häuser sanieren. Beziehungsgestörte lassen vor laufender Kamera ihre verhaltensauffälligen Blagen therapieren. Fortpflanzungswillige Möchtegern-Väter mit verminderter Spermienzahl onanieren unter öffentlicher Anteilnahme, um ihrem Bemühen um neues Leben Ausdruck zu verleihen. Welche intimen Dinge, fragen sich da ältere Semester, haben sich junge Leute überhaupt noch mitzuteilen, wenn sie wirklich intim werden? Ist dann nicht alles, was früher wertvolles, geheimes Wissen war, profan? “Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien”, schrieb einst Niklas Luhmann. Das stimmt vielleicht nicht ganz, aber richtig ist, dass die Welt ein subjektives Konstrukt ist: “Richtig” ist sie so, wie wir sie vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen, unseres gelernten Wissens, unseres inneren Bewertungskompasses wahrnehmen. Richtig ist aber auch das Prinzip Pippi Langstrumpf: Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Soll heißen: Wir sind da nicht ohne Einfluss. Wenn man von MySpace, Reizwäsche und Penis-Lutschern hört, fragt man sich mitunter, ob das in der atemlosen, über-kommunikativen Twitter-Social-Network-Welt nicht zu oft vergessen wird. Manchmal kann man die Welt schon verbessern, wenn man manche Dinge nicht twittert, manches Foto nicht zeigt.

“Immer mehr Menschen haben zu wenig”

Der trübe Novembersamstag. Am Computer höre ich WDR2, Fußballbundesliga. Die Spiele scheinen auch nicht sonderlich aufregend zu sein. So trüb wie das Wetter. Also suche ich so ein wenig rum. Und finde. Die Tagesschau vom 5. November zum Beispiel. Unter der Überschrift: “Immer mehr Menschen haben zu wenig” wird das Statistische Bundesamt zitiert. Demnach gab es zum Jahresende 2008 insgesamt 768.000 Empfänger (!) von Grundsicherung, 4,8 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Grundsicherung soll den grundlegenden Bedarf für den Lebensunterhalt im Alter und bei Erwerbsminderung sicherstellen. Die Mehrheit der Betroffenen ist im Rentenalter. Auch immer mehr Männer erhalten diese besondere Form der Sozialhilfe. Von Altersarmut betroffen sind derzeit 2,5 Prozent aller Rentner. Die Zahl wird in den nächsten Jahren weiter anwachsen, weil immer weniger Menschen ihr ganzes Leben in Vollzeit arbeiten. Immer häufiger gibt es so genannte Brüche im Erwerbsleben – entweder durch Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit. Auch die Zahl von Teilzeit- oder Minijobs steigt. Dadurch sammelt man nicht mehr so hohe Rentenansprüche an, dass man im Alter davon leben kann. Novembertrübe Aussichten.

Gesundheit als Ware

Ich hadere immer noch mit der Sendung von Anne Will am vergangenen Sonntag. Es ging, mal wieder,  um das Ende des Sozialstaates. Meine Lust am Polit-Talk ist seit geraumer Zeit schon sehr gedämpft. Mein Erregungspotential entsprechend gering. Daß der FDP-Bundestagsabgeordnete, Martin Lindner,  schneidig für den Umbau des bundesdeutschen Sozialsystems zu Lasten der abhängig Beschäftigten plädierte, wen kann das derzeit wirklich im Mark erschüttern? Daß aber ein Kommunikationswissenschaftler, Norbert Bolz, die Gesundheit und das Gesundheitssystem kurzerhand zum Marktgeschehen machte, das wirkt in mir nach. Natürlich findet im Gesundheitssystem auch Marktgeschehen statt. Aber: Gesundheit ist kein Produkt, keine Ware, schonmal gar kein Luxusgut. Im Gründungsvertrag der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen von 1946 heißt es: “Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Der Besitz des bestmöglichen Gesundheitszustandes bildet eines der Grundrechte jedes menschlichen Wesens, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Anschauung und der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung. Die Gesundheit aller Völker ist eine Grundbedingung für den Weltfrieden und die Sicherheit; sie hängt von der engsten Zusammenarbeit der Einzelnen und der Staaten ab.” Gesundheit ist also keine Produkt des Gesundheitsmarktes, auf dem sich Wohlhabende mehr leisten können müssen als die Mehrheit der armen Schlucker. Gesundheit hat den Status eines Menschenrechts. Das vergessen die schneidigen Einschneider ins soziale Netz geflissentlich. Und eine solidarische Finanzierung des Gesundheitswesens, in die sich alle nach ihren Kräften und Vermögen einbringen, ist wesentliche Voraussetzung fürs Gelingen eines solchen Systems, nicht aber die Position der Gleichmacher, der Kopfpauschalisten.

Tacoma-Bridge

7. November 1940. Heute vor 69 Jahren stürzte die Tacoma-Brücke im US-Bundesstaat Washington ein. Starkwinde aus Südwesten ließen die gerade mal vier Monate alte Brücke über den Narrows in Schwingungen geraten. Eine dreiviertel Stunde lang hielt die Brücke der Windstärke acht noch stand. Ein Cockerspaniel kam beim Einsturz der Brücke zu Tode, Menschen nahmen keinen Schaden. Ach ja, Vorbild für die Brückenbauer in den USA war die Planung der Rodenkirchener Brücke in Köln.

Hotelförderung

Die Koalition will ein “Wachstumsbeschleunigungsgesetz” durchsetzen. Na fein. Ob in diesem Gesetz auch der von der CSU heftigst geforderte verminderte Mehrwertsteuersatz für Hotels und Beherbergungsbetriebe festgeschrieben werden soll, ist nicht klar. Verminderter Mehrwertsteuersatz. Das sind sieben statt der üblichen neunzehn Prozent. Aber warum ausgerechnet Hotels? Warum nicht den geringeren Mehrwertsteuersatz anwenden auf Kinderkleidung zum Beispiel? Auf Windeln. Auf Kinderschuhe. Auf Kindermöbel. Auf Schulbedarf. Die Koalition zeigt nach und nach, welche Lobby im Lande was zu melden hat und welche Gruppen keine starke Lobby haben.

“Demokratie ist auf Akzeptanz der Bürger angewiesen”

“Sind Sie jetzt Nichtraucher geworden, Herr Horn?” Mit dieser Frage meldete sich heute Vormittag Frau Tillmanns, Lokalredakteurin der Bergischen Morgenpost, bei mir und nahm damit Bezug auf meinen gestrigen Beitrag. Schön, daß auch die örtliche Presse zu den Bloglesern gehört. Frau Tillmanns war nach der Lektüre offenbar überrascht von meinem Eindruck, den ich hier wiedergegeben habe, nämlich, daß in der örtlichen SPD nach den Wahlniederlagen offen und schonungslos diskutiert werde, daß man nach besseren Lösungen als in den vergangenen Monaten suche und das sogar relativ einvernehmlich. Ich habe Frau Tillmanns bestätigt, was ich geschrieben hatte. Überdies scheint mir das, was ich zu meiner Überraschung in der SPD erfahren habe, in allen Parteien wichtig zu sein, unabhängig davon, ob sie zu den Siegern zählen oder den Verlierern. Die Parteien müssen wieder näher an die Menschen in der Stadt rücken. Die Abgehobenheit der Parteien, ihre Entkopplung von den Bürgern führt dazu, daß Politik als fremdes, als seltsames Geschehen begriffen wird. Einmischen, Mitmachen, sich öffentlich zu Wort melden, Abweichen, Querdenken  – all das kann nur entstehen und auch kultiviert werden, wenn die Parteien sich nicht mehr nur als Spezialisten für Verwaltungsvorlagen verstehen. Dieser Lektion scheint sich nach meinem Eindruck die SPD gerade zu stellen. Nötig sollte ein solcher Prozess aber auch für die anderen Parteien sein. Denn letztlich muß die beschämend niedrige Wahlbeteiligung alle Parteien erschrocken haben. Und auch keine Siegerpartei kann zufrieden damit sein, die Mehrheit nur der Hälfte aller Bürger errungen zu haben. Friedrich Schorlemmer, Pfarrer in der DDR-Bürgerrechtsbewegung, in einem Rückblick auf die DDR im heutigen Freitag : “Wir sind in der vereinigten Demokratie angekommen. Noch ist sie stabil; aber sie braucht mehr aktive Demokraten, die auf dem Boden des Grundgesetzes mitwirken, soll der freiheitliche Sozialstaat nicht ausgehöhlt werden. Demokratie ist auf Akzeptanz der Bürger angewiesen, mehr noch als auf die Funktionstüchtigkeit ihrer Institutionen.” Ein Satz, der gewiß auch im Westen der Republik seine eigene Bedeutung hat.

Das häßliche Gesicht des Turbokapitalismus

“Das ist das häßliche Gesicht des Turbokaptalismus.” Für diesen Satz, gesprochen in einer öffentlichen Debatte, hätte ich vor, sagen wir vor 25 Jahren unter anderem die Antwort bekommen: “Dann geh doch nach drüben!” Heute entschlüpft dieser Satz gar dem Mundes eines veritablen Ministerpräsidenten. Klar, die paar, die’s noch gibt von der SPD, Beck oder Platzeck. Nein. Eben im Radio, WDR5, das “Echo des Tages”. Es geht um die Entscheidung von General Motors. Opel wird nicht an Magna verkauft. “Das ist das häßliche Gesicht des Turbokapitalismus”, schmettert Jürgen Rüttgers, CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, in die Mikrophone. Interessant ist dabei nicht, ob diese Aussage auch stimmt – sie stimmt natürlich nicht, es handelt sich lediglich um eine kalte, berechnete Entscheidung der Besitzer von General Motors, auch um ein übles Spiel mit deutschen Politikern, mit den Arbeitern und Angestellten von Opel ohnehin. Aber: Es ist ganz normaler Kapitalismus, so, wie wir ihn ja seit Jahrzehnten kennen und erleben. Turbokapitalismus gibt es auch. Aber dessen Gesicht hat schon noch andere Züge. Und wir haben alle tagtäglich mit ihm zu tun, mit dem Finanzkapital, mit Banken, mit Versicherungen. Von den Gesichtszügen dieser Kapitalismusspielart lenkt Jürgen Rüttgers ab mit seinem kraftstrotzenden Satz.